EuGRZ
28. Dezember 2023
50. Jg. Heft 21-23

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Informatorische Zusammenfassungen

Peter Schiffauer, Wrocław (Breslau)/Hagen, kommentiert in einer tiefgreifenden Abhandlung „Europäische Unionsgrundordnung revisited“ Entwicklung und Perspektiven institutioneller Reformen der EU „Vom Tsatsos-Konzept 1995 bis zur jüngsten EP-Debatte im November 2023“

 Der Autor skizziert einleitend seine Vorgehensweise: «Der Beitrag behandelt zunächst den Hintergrund für die aktuelle Debatte über eine institutionelle Reform der Europäischen Union (unter A). Angesichts von Gemeinsamkeiten mit der Situation im Jahre 1995 wird sodann das von Dimitris Tsatsos seinerzeit entwickelte Konzept der Unionsgrundordnung rekonstruiert (dazu unter B). Im Hinblick auf eine mögliche Relevanz für die Gegenwart wird weiter untersucht, welche Innovationen des Vertrags über eine Verfassung für Europa nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen wurden (unter C). Dem werden die aktuellen geopolitischen Problemlagen und institutionellen Dysfunktionalitäten der Europäischen Union gegenübergestellt (unter D). Anschließend werden Zielsetzungen, wahrscheinliche Auswirkungen und Erfolgsaussichten verschiedener aktuell diskutierter Reformprojekte gegeneinander abgewogen (unter E). Schließlich werden die aktuellen Reformperspektiven auf den dargestellten Rahmen der Unionsgrundordnung bezogen und dieser dabei vorsichtig weiterentwickelt (unter F).»

 Unterschiede und Gemeinsamkeiten der EU 1995 und 2023 bilden den ersten Schwerpunkt der Arbeit: «Vor knapp 30 Jahren entwickelte Dimitris Tsatsos in seinem im August 1995 veröffentlichten Aufsatz „Die Europäische Unionsgrundordnung“ einen theoretischen Rahmen für die damals im Gange befindliche Debatte über die erste Reform der Europäischen Union nach ihrer Gründung durch den Vertrag von Maastricht. Das Binnenmarktprojekt der von Jacques Delors präsidierten Kommission war erfolgreich durchgeführt worden. Doch das Gleichgewicht der Währungsunion des neuen Vertrages war nicht durch eine Wirtschaftsunion gesichert und die Politische Union nur embryonal entwickelt. Wenige Jahre nach dem Ende des kalten Krieges ging es darum, die durch die neue geopolitische Lage eröffneten politischen Handlungsspielräume in Europa zu nutzen. (…)

 Die institutionelle Gestalt der Europäischen Union des Jahres 2023 hat sich im Laufe des 1995 begonnenen Reformprozesses herausgebildet. Über die Stufen der Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2001), des Grundrechte- und des Verfassungskonvents, des Rückschlags durch das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa und der weitgehenden Übernahme von dessen Inhalt durch den Vertrag von Lissabon (2007) sind die Institutionen den Vorstellungen näher gekommen, die dreißig Jahre zuvor entwickelt worden waren. Zugleich hatte sich aber die Welt erheblich verändert. Der Traum der 1990er Jahre vom „Ende der Geschichte“ [The End of History and the Last Man, Francis Fukuyama, New York, Free Press, 1992] war neuen Bedrohungslagen durch militärische Konflikte und terroristische Aktivitäten gewichen. Damit wurden neue Bewertungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ebenso erforderlich wie in Bezug auf globale wirtschaftliche Verflechtungen und Abhängigkeiten. Das Bewusstwerden der Folgen des menschengemachten Klimawandels verschärfte die Dringlichkeit, Energie nicht länger aus den verbliebenen fossilen Reserven zu gewinnen. Migrationsbewegungen aus Regionen, die wegen Krieg, Misswirtschaft oder Klimaveränderung verlassen werden, stellen das humanitäre Ethos der europäischen Staaten und ihrer Gesellschaft auf eine harte Probe. Globale Mobilität der Menschen erweist sich auch als Vektor von Pandemien. Im Bewusstsein all dessen wäre kritisch zu fragen, ob es in der jetzigen konföderalen Struktur der Europäischen Union öffentliche Gewalten gibt, die über die tatsächlichen Fähigkeiten und konstitutionellen Befugnisse verfügen, also hinreichend souverän sind, um globalen Gefahren entgegenzutreten und das allgemeine Wohl der Bürgerschaft zu sichern.»

 Schiffauer vertieft sodann das integrationspolitische Konzept der Unionsgrundordnung, prüft die Relevanz verlorener Innovationen des Verfassungsvertrags und gelangt zu den geopolitischen und institutionellen Problemlagen der Gegenwart und den aktuell diskutierten Reformkonzepten. Ausgehend vom Status quo geht es um die Vorschläge von Andrew Duff, Christian Calliess, Jean-Luis Bourlanges, das Manifesto von 32 herausragenden europäischen Politikern, die Vorschläge einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe und von fünf Ko-Berichterstattern aus fünf verschiedenen Fraktionen des Europäischen Parlaments. Dies mündet in die Frage nach der Grundordnung für das Jahr 2030.

 Zum verfassungskulturellen Rahmen führt der Autor u.a. aus: «Gemeinsam ist den hier besprochenen Reformkonzepten die Befürchtung, dass Beschlussfassungsverfahren nach dem Muster einstimmiger Regierungszusammenarbeit nach einer nochmaligen Erweiterung die völlige Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union in den betroffenen Bereichen zur Folge haben würde. Denn es müsste damit gerechnet werden, dass die Dynamik der Verhandlungen im Rat der Union, statt von loyalen Bemühungen um die Entwicklung akzeptabler Kompromisslösungen, vielmehr von Verhärtungen einzelstaatlicher Interessenpositionen und sich kreuzenden Vetodrohungen geprägt würde. Kleine Minderheiten sollen nicht länger die gemeinsame Ausübung der auf die Unionsebene übertragenen Zuständigkeiten und Befugnisse torpedieren können. Die Ersetzung der Einstimmigkeitserfordernisse im Rat bei der Ausübung übertragener Befugnisse der Union war deshalb bereits im Jahre 1995 Teil des Integrationsprogramms der Unionsgrundordnung, und sie wurde in den Regierungskonferenzen von Amsterdam bis Lissabon Schritt für Schritt vorangetrieben. Im Prinzip befürworten die erörterten Vorschläge, diesen Prozess vor der nächsten Erweiterung zum Abschluss zu bringen. Dabei wird nicht übersehen, dass sich im Rat in einem konkreten Fall eine Mehrheitsposition herausbilden könnte, die im Widerspruch zu lebenswichtigen Interessen eines einzelnen Mitgliedstaates steht. Da es nicht der Sinn des Integrationsprozesses sein kann, legitime Interessen eines Mitgliedstaats unberücksichtigt zu lassen, wird für solche Fälle ein Sicherheitsnetz nach dem Modell des aktuellen Artikels 31 Absatz 2 letzter Unterabsatz EUV befürwortet: eine Regierung, die sich unter Berufung auf wesentliche Interessen einer Abstimmung im Rat widersetzt, muss diese auch im Einzelnen benennen, damit in weiteren Verhandlungen, sei es im Rat oder im Europäischen Rat, eine einvernehmliche Lösung gefunden werden kann.»

 Zum verfassungsidentitäre Rahmen aus der Sicht des BVerfG heißt es: «Anders als die dargelegten verfassungskulturellen Betrachtungen, die nur durch Überzeugungskraft wirken können, kann das Bundesverfassungsgericht bei einer Verletzung der „Verfassungsidentität“ die Ratifizierung einer Änderung der europäischen Verträge effektiv verhindern, wenn es – wie bei den Verträgen von Maastricht und Lissabon – rechtzeitig in zulässigerWeise befasst wird. Deshalb liegt es nahe, in der Diskussion befindliche Vorschläge für Änderungen der europäischen Verträge auch am Maßstab der vom Verfassungsgericht entwickelten Kriterien zu prüfen.»

 Abschließend skizziert Schiffauer im Versuch einer Annäherung die europäische Grundordnung im Jahre 2030: «Die Europäische Union in ihrer jetzigen Verfassung hat als zentraler Baustein der europäischen Friedensordnung die wichtige Funktion eines Stabilitätsankers für das größere Europa. Diese Rolle würde durch Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in einigen Bereichen (Verfahren bei Verteidigung derWerte [Art. 7 EUV], Außen- und Sicherheitspolitik, Verteidigung und Steuern) in sinnvoller Weise gestärkt. Mehr noch als auf institutionelle Veränderungen wird es darauf ankommen, dass die Werte, auf die der europäische Integrationsprozess aufbaut, in den Gesellschaften aller Mitgliedstaaten der Union tiefer verwurzeln und dass sich bestehende Ansätze zur Herausbildung einer europäischen Gesellschaft weiter entwickeln. Ziel dieses Prozesses wäre nicht staatliche Einheit, jedenfalls nicht in den im 19. Jahrhundert konzipierten Staatsformen der Gegenwart, wohl aber Gemeinsamkeit der verschiedensten kulturellen Identitäten und ihre Selbstbestimmung in einer offenen europäischen Gesellschaft. Die erhoffte gesellschaftliche Kohäsion wird aber ein Wunschtraum bleiben, solange gravierende Unterschiede der Zukunftsperspektiven und der wirtschaftlichen Verhältnisse ein Brutbecken für Auffassungen und Bestrebungen bilden, die die europäischen Werte in Frage stellen. Dies zu ändern ist freilich nicht die Aufgabe von Verfassungen, sondern von demokratisch verantworteter Politik.» (Seite 549)

 Chantal Bittner, Köln, behandelt die „Anonyme Keimzellspende und das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung im Lichte der EMRK / Das EGMR-Urteil Gauvin-Fournis u. Silliau (2023) – Einordnung in die EGMR-Rechtsprechung zu Vaterschaftsfeststellung und anonymer Geburt“

 «Am 7.9.2023 verkündete der EGMR (Fünfte Sektion) sein Urteil im Fall Gauvin-Fournis und Silliau gegen Frankreich, in dem er erstmals das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung auch für Menschen anerkennt, die durch eine anonyme Keimzellspende entstanden sind. Zwei französische Spenderkinder hatten eine Verletzung ihres in Art. 8 EMRK verankerten Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung geltend gemacht, da die französischen Behörden ihnen mit Verweis auf das in Frankreich geltende Recht Zugang zu Informationen über ihre genetischen Väter verweigert hatten. Zwar bestätigte der EGMR, dass das Interesse von Spenderkindern, ihren genetischen Elternteil zu kennen, vom Recht auf Achtung der Privatsphäre geschützt ist. Er verneinte jedoch eine Verletzung der sich aus Art. 8 EMRK ergebenen positiven Schutzpflicht durch Frankreich. Es handelt sich um die erste Entscheidung, in der der Gerichtshof das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung explizit im Kontext der assistierten Reproduktion bei Verwendung von anonymen Samenspenden in den Blick nimmt. Die Entscheidung ist übertragbar auf die Spende von Eizellen und Embryonen. Trotz einiger Besonderheiten reiht sich das Urteil in eine reichhaltige Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung seit den 2000er Jahren ein. Der vorliegende Beitrag zeichnet diese Rechtsprechung nach und zeigt, dass der EGMR dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität eine hohe Bedeutung zumisst (II.). Anschließend wird die Rechtslage zur anonymen Keimzellspende in Europa näher dargestellt, wobei der Fokus auf der französischen Rechtslage liegt (III.). Aufbauend auf diesen Grundlagen untersucht der Beitrag die Entscheidung Gauvin-Fournis und Silliau (IV.). Der EGMR beschränkt sich auf eine rein prozedurale Kontrolle und überprüft die beanstandete staatliche Maßnahme inhaltlich nur sehr zurückhaltend. Insofern unterscheidet sich das Urteil von den bisher ergangenen Entscheidungen zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung.»

 Nach detaillierter Prüfung der genannten Schwerpunkte der Straßburger Rechtsprechung gelangt Bittner zu folgenden Schlussfolgerungen: «Die über drei Jahrzehnte hinweg mehrfach geänderte Rechtslage zu Keimzellspenden in Frankreich, die erst im Jahr 2021 zu einer Aufhebung des Anonymitätsgrundsatzes in Bezug auf Keimzellspenden führte, überprüft der EGMR nur auf die Qualität des Gesetzgebungsprozesses und verneint aufgrund der gründlichen und ausgewogenen innerstaatlichen Debatten eine Verletzung der Rechte der beiden Beschwerdeführer. Die Entscheidung ist damit im Kontext der „prozeduralen Wende“ des EGMR zu sehen. Diese reine prozedurale Kontrolle sieht sich mit der Kritik konfrontiert, dass eine Überprüfung der Qualität des Verfahrens eine inhaltliche Überprüfung einer beanstandeten Maßnahme nicht ersetzen kann. Insoweit betont der EGMR selbst den eingeschränkten Beurteilungsspielraum, der sich aus der Betroffenheit des identitätskonstitutiven Gewährleistungsrechts ergibt. Zwar handelt es sich um einen Sachverhalt im Kontext der Reproduktionsmedizin, der einen moralisch und ethisch höchst komplexen Bereich betrifft und daher grundsätzlich von den Konventionsstaaten in Anbetracht nationaler Werte und Traditionen entschieden werden sollte. Jedoch geht es in dem vorliegenden Fall nicht um den Zugang zu bestimmten Reproduktionstechniken oder gar deren Legalisierung. Es darf bei Rechten, die dem Kern der Identität des Menschen zuzuordnen sind, nicht zwischen der Art der Entstehungsweise eines Menschen unterschieden werden. Daher ist es äußerst fragwürdig, ob der EGMR mit der geübten richterlichen Zurückhaltung der Wahrung von menschenrechtlichen Mindeststandards gerecht geworden ist. Insoweit lässt sich annehmen, dass die Anonymität von Keimzellspendern in anderen Konventionsstaaten, in denen die Aufhebung des Anonymitätsgrundsatzes nicht Teil von ausführlichen parlamentarischen Debatten gewesen ist oder in denen nach wie vor eine Anonymität der Keimzellspender besteht, eine Verletzung von Art. 8 EMRK begründen würde. Das französische Bioethikgesetz, das Keimzell- und Embryonenspenden nicht als Spende sui generis qualifizierte, wies dem Gesetzgeber bekannte Defizite auf, die im Rahmen der Änderungen des Bioethikgesetzes lange nicht korrigiert wurden. Die Beschwerdeführer Gauvin- Fournis und Silliau werden voraussichtlich eine Verweisung an die Große Kammer beantragen. Ob diese im Fall der Annahme des Verweisungsantrags in gleichem Maße richterliche Zurückhaltung üben wird, bleibt abzuwarten.» (Seite 564)

 Hans-Heiner Kühne, Trier, und Armin Kühne, München: „Racial Profiling“ und polizeiliche Prävention / Das Urteil des EGMR im Fall Basu gegen Deutschland (18.10.2022) überzeugt nicht

 Zum Sachverhalt: «Der mit der Bahn reisende Beschwerdeführer, Biblap Basu, wurde im Zug nach der Überquerung der Grenze zwischen Tschechien und Deutschland von einem Beamten der Bundespolizei einer Identitätskontrolle unterzogen. Auf Nachfrage erwiderte der Beamte, es handele sich um eine Stichprobe, machte aber keine weiteren Angaben darüber, auf welcher Basis denn die Stichprobe angelegt sei. Der Beschwerdeführer und seine mit ihm reisende Tochter waren nach dessen eigener Wahrnehmung die einzigen Passagiere dunkler Hautfarbe und auch als einzige kontrolliert worden. (…)»

 Das Urteil des Gerichtshofs fassen die Autoren folgendermaßen zusammen: «Der EGMR erkennt eine Verletzung von Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK. Wegen der besonderen Gefährlichkeit rassistischer Diskriminierung reiche für den erforderlichen Schweregrad, ab dem eine Identitätskontrolle Eingriffsqualität erlangt, die Behauptung aus, dass der Kontrollierte möglicherweise aufgrund spezifischer physischer oder ethnischer Merkmale ausgewählt worden sei. Eine solche Behauptung sei im prozessualen Sinne eine vertretbare und löse eine staatliche Ermittlungspflicht hinsichtlich einer möglichen Verbindung zwischen rassistischen Einstellungen und der Maßnahme aus. (…)

 Das führt zu dem rechtlichen Kern des Problems: Es geht nicht um die Verteilung der Darlegungslast, sondern vielmehr um dieWürdigung des dabei Vorgebrachten, also eine Frage der Beweiswürdigung. Der Gerichtshof hält die Beweiswürdigung der deutschen Gerichte für falsch; diese hätten dem Bundespolizisten und der Polizeidirektion nicht einfach glauben dürfen; zumindest hätte der zweite an der Kontrolle beteiligte Polizist oder auch die Tochter des Kontrollierten befragt werden müssen.

 Damit begibt sich der Gerichtshof in gefährliche rechtliche Untiefen. Zunächst einmal ist nicht ersichtlich, warum einem Polizeibeamten nicht geglaubt werden darf, er habe eine Identitätskontrolle aus Gründen der Erhöhung von Kontrolldichte stichprobenartig gemacht, wenn farbige Personen betroffen sind. Nach dem am selben Tag ergangenen Urteil Muhammad gegen Spanien begründet allein der Umstand, dass der Kontrollierte dunkler Hautfarbe ist, nicht automatisch einen Rassismusverdacht – selbst, wenn dies für den Kontrollierten anders erscheinen mag.

 In der vorliegenden Entscheidung versucht der Gerichtshof seinen Eingriff in die Beweiswürdigung zu verdecken, indem er vorgibt, der Begriff der „vertretbaren Behauptung“ als Voraussetzung einer näheren gerichtlichen Überprüfung im Rahmen der Darlegungslast sei prozessualer Natur und als solcher im Lichte der EMRK überprüfbar. Ersteres ist zwar richtig, aber es besteht zwischen dem Gerichtshof und den deutschen Gerichten kein Dissens über die Notwendigkeit der Erfüllung einer Behauptungslast, um ein Verfahren in Gang zu setzen. Unrichtig ist hingegen die implizite aber entscheidende Annahme des Gerichtshofs, er könne den nationalen Gerichten vorgeben, wie die im Rahmen der Darlegungslast vorgetragenen Behauptungen beweistechnisch zu würdigen und damit als „vertretbar“ zu bezeichnen sind. Eben dies aber versucht der Gerichtshof. Er rügt die deutschen Verwaltungsgerichte, weil sie im Rahmen der Überprüfung der Darlegungspflicht das Vorbringen des Klägers im Lichte der gegenteiligen Aussagen der Polizeibeamten und ihrer Behörde nicht als hinreichend substantiiert betrachtet haben. (…)

 Der Gerichtshof hat sich die Befugnis angemaßt, nationalen Gerichten vorzugeben, wie sie welche Beweise zu würdigen haben. Ein solcher Eingriff in die nationale richterliche Unabhängigkeit steht dem Gerichtshof nicht zu. Das mag anders sein bei Überprüfungen von Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit richterlicher Tätigkeit, was im vorliegenden Fall aber ganz offensichtlich nicht gegeben ist. Folglich stellt die Kritik des Gerichtshofs an der Beweiswürdigung der deutschen Gerichte einen außerhalb seiner Zuständigkeit liegenden, unzulässigen Eingriff in die nationale richterliche Unabhängigkeit dar. (…)

 Auch aus praktischer Sicht erscheint die Ansicht des EGMR kritikwürdig. Sollte allein die Behauptung ausreichen, um ein Gerichtsverfahren auszulösen, wäre das neben der erwähnten Rechtswidrigkeit des Eingriffs in die richterliche Beweiswürdigung auch der Grund für ein Untergangsszenario der mit Fällen zusätzlich überfluteten Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Folgen der Ansicht des Gerichtshofs für die polizeiliche Arbeit wären ebenfalls katastrophal.» (Seite 573)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt die absolute Anonymität von Drittspendern (Samenspende) gegenüber dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung von auf diese Weise gezeugten Kindern nach französischem Recht / Keine Verletzung von Art. 8 EMRK / Gauvin-Fournis und Silliau gegen Frankreich

 «Der Gerichtshof verkennt nicht, dass diese Frage auch die Berücksichtigung der besonderen Umstände der Situation von Personen wie der Beschwerdeführerin und dem Beschwerdeführer erfordert im Hinblick auf das Recht auf Achtung ihres Privatlebens und insbesondere das durch die Konvention geschützte Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung als existenzielles Interesse, die notwendigen Informationen für die Entdeckung der Wahrheit hinsichtlich eines wichtigen Aspekts der persönlichen Identität zu erhalten (…). Er wird daher prüfen, ob die gesetzgeberischen Entscheidungen, die der behaupteten Verletzung zugrunde liegen, und die Auswirkungen, die sie auf die Beschwerdeführer hatten, einen Verstoß des Staates gegen seine positive Verpflichtung darstellen, ihnen die wirksame Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten, oder nicht.

 In dieser Hinsicht stellt er zunächst fest, dass die von der Beschwerdeführerin und dem Beschwerdeführer beanstandete Situation aus den Entscheidungen des Gesetzgebers resultiert, von denen er nur feststellen kann, dass sie das Ergebnis äußerst gründlicher Debatten sind, und deren Qualität nicht in Zweifel gezogen werden kann. Er stellt im Übrigen fest, dass jedem Bioethikgesetz eine öffentliche Debatte in Form von Generalständen (États généraux) vorausging, um alle Standpunkte zu berücksichtigen und die bestehenden Interessen und Rechte bestmöglich gegeneinander abzuwägen. (…)

 Der Gerichtshof leitet aus dem Vorstehenden ab, dass der Gesetzgeber die in Rede stehenden Interessen und Rechte nach einem umfangreichen und evolutiven Reflexionsprozess über die Notwendigkeit der Aufhebung der Anonymität des Spenders richtig abgewogen hat. Unter Berücksichtigung dessen, dass es keinen klaren Konsens zur Frage des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung gibt, sondern nur eine neuere Tendenz zur Aufhebung der Anonymität des Spenders, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Gesetzgeber im Rahmen seines Beurteilungsspielraums gehandelt hat, der allerdings vorliegend als eingeschränkt zu betrachten ist, weil er einen wesentlichen Aspekt des Privatlebens der Beschwerdeführerin und des Beschwerdeführers betrifft. Dem beklagten Staat kann daher die [gewählte] Gangart bei der Verabschiedung der Reform und die Tatsache, gezögert zu haben, sich auf eine solche Reform zu einigen, nicht vorgeworfen werden (…).

 Aus der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen und unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums des Staates, mag dieser auch eingeschränkt sein, kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der beklagte Staat seine positive Verpflichtung, der Beschwerdeführerin und dem Beschwerdeführer die wirksame Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten, nicht verkannt hat.

 Folglich liegt keine Verletzung von Art. 8 der Konvention vor.» (Seite 577)

 Zu diesem Urteil siehe den Aufsatz von Chantal Bittner oben S. 564 ff. (in diesem Heft).

 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, stellt fest, dass selbst zur Bekämpfung rechtswidriger Inhalte im Internet nationale (hier: österreichische) generell-abstrakte Verpflichtungen gegenüber einem in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Irland) niedergelassenen Anbieter einer Kommunikationsplattform gegen den Grundsatz der alleinigen Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Dienstes verstößt / Google Ireland u.a.

 Österreich hatte im Jahr 2021 ein Gesetz erlassen, das inländische und ausländische Anbieter von Kommunikationsplattformen verpflichtet, Melde- und Überprüfungsverfahren für potentiell rechtswidrige Inhalte einzurichten. Google Ireland, Meta Platforms Ireland und Tik Tok Technology, Gesellschaften mit Sitz in Irland, hatten bei der Kommunikationsbehörde Austria beantragt, festzustellen, dass sie diesem Gesetz nicht unterworfen seien. In drei Bescheiden stellte KommAustria jedoch fest, dass die drei Gesellschaften dem Gesetz unterworfen sind.

 Hierzu führt der EuGH u.a. aus: «Gestattete man dem Bestimmungsmitgliedstaat, generell-abstrakte Maßnahmen zu ergreifen, um die Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft durch nicht in seinem Hoheitsgebiet niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer zu regeln, würde dies im Übrigen das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten untergraben und demGrundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderlaufen, auf dem, wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Richtlinie 2000/31 beruht. (…)

 Den Mitgliedstaaten zu gestatten, auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2000/31 generell-abstrakte Maßnahmen zu ergreifen, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft beziehen und unterschiedslos für alle Anbieter dieser Kategorie von Diensten gelten, liefe aber letztlich darauf hinaus, die betroffenen Diensteanbieter unterschiedlichen Rechtsvorschriften zu unterwerfen und damit die rechtlichen Hemmnisse für den freien Dienstleistungsverkehr, die diese Richtlinie beseitigen soll, wieder einzuführen.» (Seite 583)

 EuGH zur Verweigerung einer Sicherheitsbescheinigung durch belgische Behörde wegen Teilnahme an Demonstrationen / Kein Anspruch auf detaillierte Auskunft über von der Polizei erhobene Daten unter der Voraussetzug, dass eine gerichtliche Überprüfung der Gründe und Beweise der Beschlüsse der Aufsichtsbehörde gewährleistet ist / Rs. Ligue des droits humains und BA

 Der von der Menschenrechtsliga unterstützte Kläger des Ausgangsverfahrens BAwar 2016 in Teilzeit bei einer gemeinnützigen Vereinigung beschäftigt und benötigte die verweigerte Sicherheitsbescheinigung, um beim Auf- und Abbau der Anlagen für die zehnte Ausgabe der „Europäischen Entwicklungstage“ in Brüssel mitwirken zu können. Die Ablehnung des Antrags wurde 2016 damit begründet, dass BA in den Jahren 2007 bis 2016 an zehn Demonstrationen teilgenommen hat und daher Gründe der Sicherheit des Staates und der Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung die Erteilung der Sicherheitsbescheinigung nicht zuließen. Diese Entscheidung wurde nicht angefochten.

 Der Bevollmächtigte von BA ersuchte am 4. Februar 2020 das Organ für die Kontrolle der polizeilichen Informationen (OCIP), den Verantwortlichen für die in Rede stehende Verarbeitung personenbezogener Daten zu ermitteln und anzuweisen, dem Kläger Auskunft über alle ihn betreffenden Informationen zu erteilen, damit er innerhalb angemessener Frist seine Rechte ausüben könne. Dem BA wurde eine direkte Auskunft verweigert, wohl aber mitgeteilt, dass verwaltungsinterne Überprüfungen erfolgt und erforderlichenfalls personenbezogene Daten geändert oder gelöscht worden seien. Mit der dagegen gerichteten Klage gelangte BA in zweiter Instanz vor den Appellationshof Brüssel, der den EuGH mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasste. (Seite 589)

 EuGH (GK) billigt ein gegenüber dem Personal ausgesprochenes generelles Verbot des Tragens religiöser Zeichen (hier: Kopftuch) am Arbeitsplatz durch öffentliche Verwaltung (in Belgien) / Rs. Commune d’Ans

 Politik der strikten Neutralität zur Schaffung eines vollständig neutralen Verwaltungsumfeldes keine Verletzung des Diskriminierungsverbots bei Beschränkung der getroffenen Maßnahmen auf das absolut Notwendige. Die Überprüfung der Voraussetzungen obliegt den nationalen Gerichten. (Seite 596)

 EuGH (GK) bestätigt bestimmte Reiseverbote sowie Screening- und Quarantäneverpflichtungen während der Covid- 19-Pandemie / Rs. Nordic Info gegen Belgien

 Entsprechende Vorschriften müssen begründet, klar, präzise, diskriminierungsfrei und verhältnismäßig sowie mit Rechtsbehelf anfechtbar sein. (Seite 601)

 EuGH (GK) beschränkt Geldbuße wegen Verstoß gegen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) auf Vorliegen schuldhaften Verhaltens / Rs. Deutsche Wohnen (DW) gegen Staatsanwaltschaft Berlin

 Die Höhe der Geldbuße (hier: 14 Mio. Euro) bei einem Konzern ist abhängig von dessen Umsatz. (Seite 616)

 EuGH (GK) zum Datenschutz (DSGVO) in Litauen / Geldbuße (12.000,– Euro) gegen litauisches Nationales Zentrum für öffentliche Gesundheit beim Gesundheitsministerium / Rs. C-683/21

 Der Verstoß gegen die DSGVO liegt bei der Erfassung und Überwachung der Daten der dem Covid-19-Virus ausgesetzten Personen. (Seite 623)

 EuGH entscheidet, dass die überlange (dreijährige) Speicherung von Informationen über die Erteilung einer Restschuldbefreiung durch SCHUFA (private Wirtschaftsauskunftei) gegen DSGVO verstößt / verb. Rsn. C-26/22 u.a.

 Die zeitliche Grenze wird hier durch das öffentliche Insolvenzregister vorgegeben. Das sind nach deutschem Recht sechs Monate. Diese Informationen werden, solange sie bei der SCHUFA gespeichert sind, bei der Beurteilung der Kreditwürdigkeit der betreffenden Person als negativer Faktor angesehen. (Seite 632).

 EuGH stellt fest, dass das „Scoring“ (hier: durch die SCHUFA) als eine von der DSGVO grundsätzlich verbotene „automatisierte Entscheidung im Einzelfall“ anzusehen ist, sofern die Kunden der SCHUFA wie Banken ihm eine maßgebliche Rolle im Rahmen der Kreditgewährung beimessen / Rs. C-634/21

 Beim „Scoring“ handelt es sich um ein mathematisch-statistisches Verfahren, das mit dem Abgleich der Daten des Kreditverhaltens einer vergleichbaren Gruppe das Kreditverhalten einer konkreten Person vorherzusagen angeblich in der Lage ist. (Seite 642)

 EuGH betont, dass die von einem Menschen mit Behinderung geäußerte Bevorzugung persönlicher Assistentinnen einer bestimmten Altersgruppe geeignet ist, die Achtung seines Selbstbestimmungsrechts zu fördern / Rs. AP Assistenzprofis

 Die Beschäftigung einer persönlichen Assistentin (hier: für eine 28-jährige Studentin) sollte nach der Stellenausschreibung zwischen 18 und 30 Jahre alt sein. Die Klage einer 50-jährigen Bewerberin war erfolglos, weil es sich hier nach Einschätzung des EuGH um keine Altersdiskriminierung handelte. (Seite 649)

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht in der Pflicht zur Entfernung bestehender elektrischer Heizungen mit entsprechendem Straftatbestand (hier: im Kanton Zürich) keine Enteignung, sondern eine Eigentumsbeschränkung

 In der Volksabstimmung vom 28. November 2021 nahm das Stimmvolk mit einer Mehrheit von 62,63 % die vom Kantonsrat (Parlament) erlassene Änderung des kantonalen Energiegesetzes (EnerG/ZH) an.

 In dem Urteil heißt es: «Das Verbot von Elektroheizungen und die damit verbundene Strafdrohung bei Widerhandlung verfolgen demnach Anliegen des Umweltschutzes und der genügenden Energieversorgung und verfügen insofern über ein ausreichendes öffentliches Interesse. (…)

 Namentlich umweltschutz- und raumplanungsrechtlich bedingte Eingriffe in das Eigentum werden in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als in der Regel entschädigungslos zulässige Inhaltsbestimmungen des Grundeigentums beurteilt (…). Aufgrund des nach § 10b Abs. 1 EnerG/ZH bereits seit 2013 geltenden Verbots der Neuinstallation von elektrischen Widerstandsheizungen und der Frist für den Ersatz bestehender Anlagen bis 2030 gemäss § 10b Abs. 3 EnerG/ZH dürften das angefochtene Verbot von Elektroheizungen und die damit verbundene Strafnorm in der Regel nicht die erforderliche Schwere einer entschädigungspflichtigen Eigentumsbeschränkung erreichen. Das trifft jedenfalls auf die hier zu prüfende Erlassregelung zu. Im Übrigen ist darüber nicht abschliessend im Rahmen der hier einzig vorzunehmenden abstrakten Normenkontrolle zu entscheiden. Vielmehr ist darüber gegebenenfalls bei der konkreten Rechtsanwendung im Einzelfall zu befinden, was eventuell insbesondere bei elektrischen Heizungen in Betracht fiele, die in Anwendung des Energienutzungsbeschlusses des Bundes nach dem 1. Mai 1991 bewilligt wurden.» (Seite 654)

 BGer erklärt kommunale Volksinitiative in der Gemeinde Hochdorf (Kanton Luzern): „Hochdorf heizt erneuerbar – ab 2030 erst recht“ für mit Eigentumsgarantie vereinbar und deshalb gültig

 Möglichst baldiger Termin zur Volksabstimmung ist anzusetzen. (Seite 657)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt das Wahlrecht 2020 als verfassungsgemäß und erklärt mit 5:3 Stimmen den Normenkontrollantrag von 216 Mitgliedern des Deutschen Bundestages für unbegründet / Gemeinsames Sondervotum König, Müller und Maidowski

 Der Zweite Senat war von 216 Abgeordneten der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; DIE LINKE und FDP mit einem Normenkontrollantrag befasst worden.

 In den Leitsätzen des Urteils heißt es: «Die allgemeinen Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Gesetzen gelten auch für wahlrechtliche Normen. Darüber hinaus lässt sich ein allgemein gültiger verfassungsrechtlicher Maßstab für den maximal zulässigen Grad an Komplexität, den eine wahlrechtliche Vorschrift erreichen darf, nicht entwickeln. Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit einer das Wahlgeschehen betreffenden Norm hängen auch davon ab, ob sie die Wahlhandlung selbst oder die nachfolgende Ergebnisermittlung betrifft.

 Im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsauftrags darf der Gesetzgeber Überhangmandate zulassen, solange sich die damit verbundene Differenzierung des Erfolgswerts der Wählerstimmen innerhalb des Konzepts der personalisierten Verhältniswahl hält. Ob es sich dabei um eine bewusst herbeigeführte Konsequenz oder nur um eine ungewollte Nebenfolge der gesetzgeberischen Systementscheidung handelt, ist ohne Belang.»

 In der Begründung wird u.a. ausgeführt: «Die zu überprüfenden Normen sind schließlich nicht deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil sie weniger als ein Jahr vor der Wahl des 20. Deutschen Bundestages in Kraft getreten sind. Weder der Verhaltenskodex für Wahlen der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission, (1.)) noch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (ZP I EMRK, (2.)) haben zur Folge, dass durch den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 14. November 2020 die Stabilität des Wahlrechts in verfassungswidriger Weise beeinträchtigt worden ist (3.). Sonstige verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich (4.).» (Seite 662)

 Gemeinsames Sondervotum der Vizepräsidentin König sowie der Richter Müller und Maidowski

 «Der Entscheidung der Senatsmehrheit vermögen wir uns nicht anzuschließen. Sie erfasst Inhalt und Bedeutung des verfassungsrechtlichenGebots derNormenklarheit imWahlrecht nur unzureichend, misst diesem Gebot infolgedessen nicht das ihm zukommende Gewicht zu und mutet den Wahlberechtigten im Ergebnis eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung „im Blindflug“ zu.» (Seite 690)

 BVerfG hält Bemerkungen im Abiturzeugnis über Nichtbewertung einzelner Leistungen wegen Behinderung grundsätzlich für geboten

 Jedoch stellte die 2010 in Bayern geübte diskriminierende Verwaltungspraxis, die ausschließlich die an Legasthenie leidenden Verfassungsbeschwerdeführer betraf, eine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. (Seite 697)

 Drei Kandidaten für das Amt des Menschenrechtskommissars des Europarats vom Ministerkomitee ausgewählt und der Parlamentarischen Versammlung zur Wahl (Januar-Sitzung 2024) übermittelt. (Seite 711)

 EuGH-Generalanwalt de la Tour befasst sich mit der Lage der Mädchen und Frauen unter dem Taliban-Regime in Afghanistan und befürwortet in seinen Schlussanträgen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit. (Seite 712)