EuGRZ 2012 |
20. März 2012
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39. Jg. Heft 1-4
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Informatorische Zusammenfassung
Marten Breuer, Hamburg, kommentiert die Fortentwicklung der Piloturteilstechnik durch den EGMR
Der Autor setzt sich zunächst grundsätzlich mit dem Fehlen einer primärrechtlichen Verankerung auseinander: «Eine Tatsache freilich verlangt Beachtung, nämlich dass die EMRK-Staaten seit nunmehr acht Jahren das Pilotverfahren als solches im Grundsatz akzeptiert haben. Hierin kann eine nachfolgende Vertragspraxis gesehen werden, die nach dem Rechtsgedanken des Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK die fehlende ausdrückliche Verankerung in der EMRK ersetzt. Zwar sind einzelne Piloturteile auf erhebliche Widerstände gestoßen – man denke etwa an die Unwilligkeit des Vereinigten Königreichs, Gefangenen das Wahlrecht einzuräumen. Das ändert jedoch nichts an der prinzipiellen Akzeptanz, die diese Entscheidungsform in der Praxis des Europarates gefunden hat. Insofern ist somit im Grundsatz gegen die Piloturteilstechnik heute daher nichts mehr zu erinnern.
Erledigt hat sich die Frage nach einer primärrechtlichen Verankerung der Piloturteilstechnik damit keineswegs. Im Rahmen der derzeit geführten Diskussion um eine erleichterte Abänderbarkeit von Teilen der EMRK ist sie vielmehr wieder auf die politische Agenda gelangt und findet dort zunehmend Unterstützung.»
Der Beitrag behandelt sodann ausführlich die „sekundärrechtliche“ Verankerung des Piloturteilsverfahrens in Art. 61 der Verfahrensordnung des EGMR und die Vielzahl der Elemente, die aus der Sicht des Gerichtshofs in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind.
Breuer fasst zusammen: «Die Piloturteilstechnik ist in den vergangenen acht Jahren fortentwickelt und weiter verfeinert worden. Wenngleich das Piloturteilsverfahren kein Universalheilmittel gegen die chronische Überlastung des EGMR darstellt, hat es sich in der Gerichtspraxis etabliert und in gewissem Umfang auch bewährt. Unbestritten ist jedenfalls die Einsicht, dass das eigentliche Mittel zur Entlastung des EGMR in der Stärkung der nationalen Ebene besteht. Von der Umsetzung dieser Erkenntnis, die auch in der sog. Erklärung von Interlaken deutlich artikuliert worden ist, wird letztlich die Überlebensfähigkeit des Konventionssystems insgesamt abhängen.» (Seite 1)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der unbefristeten Ausweisung eines mehrfach vorbestraften Tunesiers keine Verletzung von Art. 8 EMRK (Privatleben) / Trabelsi gegen Deutschland
«Nach einem im Völkerrecht allgemein anerkannten Grundsatz haben die Staaten insbesondere das Recht, unbeschadet der sich für sie aus Übereinkünften ergebenden Verpflichtungen die Einreise von Ausländern in ihr Land zu kontrollieren. Die Konvention gewährleistet einem Ausländer nicht das Recht, in ein besonderes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, und wenn die Vertragsstaaten ihre Aufgabe der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen, haben sie das Recht, einen straffälligen Ausländer auszuweisen. (…)
Vor diesem Hintergrund und insbesondere angesichts der Art und beachtlichen Anzahl der von dem Bf. begangenen Straftaten, die zum Teil eine gewisse Schwere aufwiesenund von ihm im Erwachsenenalter begangen wurden, und obgleich er auf die Folgen seiner kriminellen Machenschaften hingewiesen worden war (…), und unter Berücksichtigung der zeitlichen Beschränkung des Aufenthaltstitels des Bf. sowie der Tatsache, dass sich die streitige Maßnahme im Wesentlichen lediglich auf das Privatleben auswirkt, gelangt der Gerichtshof zu der Schlussfolgerung, dass die Ausweisungsmaßnahme im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel [Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten] nicht unverhältnismäßig war und folglich in einer demokratischen Gesellschaft noch als erforderlich gelten kann.» (Seite 11)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) unterstreicht die Grundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte gegen restriktive Maßnahmen der EU (Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRCh) / Ratsbeschluss zur Führung einer Organisation auf der Antiterror-Liste der EU nichtig / Rs. People’s Mojahedin Organization of Iran (PMOI)
Im Rechtsmittelverfahren, das Frankreich gegen ein stattgebendes Urteil des EuG angestrengt hat, bestätigt der EuGH das Urteil des EuG und dessen Begründung:
«Der Rat ist im Fall eines Ausgangsbeschlusses über das Einfrieren von Geldern nicht verpflichtet, der betroffenen Person oder Organisation im Voraus die Gründe mitzuteilen, aus denen er die Aufnahme dieser Person oder Organisation in die Liste nach Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 beabsichtigt. Eine solche Maßnahme muss nämlich, um ihre Wirksamkeit nicht einzubüßen, schon aufgrund ihrer Natur überraschend kommen und sofort angewandt werden können. In diesem Fall genügt es grundsätzlich, dass das Organ gleichzeitig mit oder unmittelbar nach Erlass des Beschlusses der betroffenen Person oder Organisation die Gründe mitteilt und sie anhört.
Hingegen ist der Überraschungseffekt bei einem Folgebeschluss über das Einfrieren von Geldern, nach dem eine Person oder Organisation, die bereits auf der Liste nach Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 aufgeführt ist, dort verbleibt, nicht mehr erforderlich, um die Wirksamkeit der Maßnahme sicherzustellen, so dass grundsätzlich vor Erlass eines solchen Beschlusses die belastenden Umstände mitgeteilt werden müssen und der betroffenen Person oder Organisation Gelegenheit zur Anhörung gegeben werden muss.
Das Gericht hat diese Grundsätze im angefochtenen Urteil auf den vorliegenden Fall angewandt und ist hierbei zu der zutreffenden Schlussfolgerung gelangt, dass der Rat der PMOI, da ihr Name durch den streitigen Beschluss auf der Liste nach Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 belassen wurde, in der sie seit ihrer ersten Eintragung am 3. Mai 2002 gemäß dem Beschluss 2002/334 aufgeführt war, die zu ihren Lasten berücksichtigten neuen Erkenntnisse nicht, wie er es hier getan hat, gleichzeitig mit dem Erlass des streitigen Beschlusses mitteilen konnte. Der Rat hätte vor Erlass dieses Beschlusses unbedingt die Verteidigungsrechte der PMOI wahren müssen, d.h. ihr die zu ihren Lasten berücksichtigten Erkenntnisse mitteilen und ihr rechtliches Gehör gewähren müssen.» (Seite 17)
EuGH bekräftigt Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRCh) im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem / Keine Überstellung von Asylbewerbern an „zuständigen Staat“ bei systemischen Mängeln (Griechenland) / Rs. N.S.
«Die Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden, ergibt, dass dieses in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. (…)
Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass dasAsylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar.»
Der EuGH nimmt Bezug auf das EGMR-Urteil im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (EuGRZ 2011, 243) und gelangt zu dem Schluss:
«Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.» (Seite 24)
EuGH bestätigt nach Prüfung völkerrechtlicher Kriterien Einbeziehung außereuropäischer Fluggesellschaften in Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten (RL 2008/101/EG) / Rs. Air Transport Association of America u.a.
«Mithin findet die Richtlinie 2008/101 auf Flüge, die im Hoheitsgebiet der Union enden oder von dort abgehen, einschließlich derjenigen Flüge, die von Flugplätzen abgehen oder auf Flugplätzen enden, die sich außerhalb dieses Gebietes befinden, unterschiedslos Anwendung. Dies geht im Übrigen aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/101 hervor.
Auf internationale Flüge, bei denen das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Union oder das von Drittländern überflogen wird, die aber nicht auf Flugplätzen enden oder von Flugplätzen abgehen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befinden, findet die Richtlinie somit als solche keine Anwendung.»
Im Einzelnen werden geprüft: das Chicagoer Abkommen, das Kyoto-Protokoll, das Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten von Amerika, incl. Open-Skies-Abkommen und die Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts. (Seite 33)
EuGH sieht in einem sektoralen Fahrverbot für LKW über 7,5 t mit bestimmten Gütern auf einem Teilstück der Inn- Autobahn (ca. 145 km) zum Schutz der Luftqualität eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs / Rs. Kommission gegen Österreich
Der Vertragsverletzungsklage der Kommission wird stattgegeben, weil die Republik Österreich nicht alle in Betracht kommenden Alternativen zum sektoralen Fahrverbot geprüft und ggf. erlassen hat. So wirke sich z. B. eine ganzjährige Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h weniger beschränkend auf den freien Warenverkehr aus als ein sektorales Fahrverbot. (Seite 48)
EuGH zur Stellung des Opfers im Strafverfahren i.S.d. Rahmenbeschlusses 2001/220/JI / Rs. X
Die Vernehmung Minderjähriger als Zeugen in einem Beweissicherungsverfahren (hier: Ermittlungen wegen eines Sexualdelikts) ist gegen den Willen der Staatsanwaltschaft nicht gerichtlich erzwingbar. (Seite 59)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt die Regelung, wonach die Eröffnung von Strafverfahren gegen kantonale und kommunale Beamte durch kantonales Gesetz von der Zustimmung einer richterlichen oder nichtrichterlichen Ermächtigungsbehörde abhängig gemacht werden kann
Das Ermächtigungsverfahren richte sich zudem nach den allgemeinen Grundsätzen der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention. So haben die Beteiligten insbesondere Anspruch auf rechtliches Gehörnach Art. 29 Abs. 2 BV.
Weiter heißt es in den Erwägungen: «Es ist im Übrigen kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, einzig bei Gemeindebeamten die Möglichkeit des Ermächtigungserfordernisses auszuschliessen. Auch Gemeindebeamte tragen wesentlich zum guten Funktionieren der Staatstätigkeit bei und verdienen daher Schutz vor mutwilliger Strafverfolgung.»
Konkret ging es um eine Strafanzeige wegen einfacher Körperverletzung bzw. Tätlichkeiten bei einer Festnahme. (Seite 62)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, verhilft zwei von einer österreichischen Staatsbürgerin abstammenden, jedoch von einer ausländischen Leihmutter (in den USA) geborenen Kindern, zur österreichischen Staatsbürgerschaft
Die erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien sind durch Geburt Staatsangehörige der USA. Sie wurden am 19. August 2006 bzw. am 10. April 2009 im US-Bundesstaat Georgia von einer „Leihmutter“ geboren, der jeweils ein aus einer Eizelle der Drittbeschwerdeführerin (einer österreichischen Staatsbürgerin) und aus dem Samen ihres Ehegatten (eines italienischen Staatsangehörigen) in vitro hergestellter Embryo eingesetzt worden war. Der Drittbeschwerdeführerin ist nach Entfernung der Gebärmutter die Geburt eines Kindes nicht mehr möglich.
Vor der Geburt der beiden Kinder stellten der Superior Court of Cobb County am 3. August 2006 und der Superior Court of Fulton County am 10. Februar 2009 mit Beschluss u.a. fest, dass die genetischen und rechtmäßigen Eltern des jeweiligen Kindes nicht die „Leihmutter“ und deren Ehegatte, sondern die Drittbeschwerdeführerin und ihr Ehegatte seien. Diese Beschlüsse ordneten der Drittbeschwerdeführerin und ihrem Ehegatten auch ab dem Augenblick der Geburt der Kinder das volle und ausschließliche Sorgerecht und die Sorgepflicht zu, einschließlich der Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung. Schließlich wiesen die Beschlüsse das Krankenhaus an, die Lebendgeburt der Kinder zu bestätigen und dabei die Drittbeschwerdeführerin als Mutter und ihren Ehemann als Vater auszuweisen, die „Leihmutter“ oder deren Ehemann hingegen nicht zu erwähnen.
Im Zuge der Beantragung des Kinderbetreuungsgeldes durch die Drittbeschwerdeführerin veranlasste das Bundesinnenministerium den Magistrat der Stadt Wien, die amerikanischen Gerichtsbeschlüsse wegen des Verbots der Leihmutterschaft in Österreich nicht anzuerkennen und den Kindern die österreichische Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Der VfGH führt aus: «Es widerspräche im Übrigen – im Gegensatz zur Auffassung der belangten Behörde – offensichtlich dem Wohl des Kindes, wenn ihm durch die Versagung der Anerkennung der US-amerikanischen Gerichtsbeschlüsse für die österreichische Rechtsordnung seine biologische Mutter als Mutter im Rechtssinne genommen wird und dafür – wie dies nach § 137b ABGB der Fall wäre – die Leihmutter in die Mutterrolle gezwungen wird, obwohl sie weder biologisch, noch nach dem Personalstatut der Kinder deren Mutter ist, noch dies sein will und kann und auch mit dem Kind keine Familiengemeinschaft begründet hat. Nicht zuletzt wird das Kind dadurch von allen gegenüber leiblichen Eltern sonst bestehenden Obsorge-, Unterhalts- und sonstigen Vermögensrechten gerade gegenüber der genetischen Mutter (die auch als „faktische Mutter“ Teil des gemeinsamen Familienlebens ist) ausgeschlossen. Diese weitreichenden und für das Kind nachteiligen Konsequenzen können aber mit dem Kindeswohl gerade nicht gerechtfertigt werden.
Die belangte Behörde (…) hat durch die gänzliche Außerachtlassung des Wohles des Kindes und des Fehlens der Bedachtnahme auf Lehre und Rechtsprechung zur Frage des ordre-public die Rechtslage gehäuft verkannt und dadurch Willkür geübt.» (Seite 65)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, zum strafprozessualen Verwertungsverbot als Folge einer Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung durch präventiv-polizeiliche Wohnraumüberwachung
Die Beschwerdeführer haben jedoch die Voraussetzungen eines Verwertungsverbots nicht hinreichend substantiiert dargelegt. (Seite 68)BVerfG gibt Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) den Vorrang gegenüber einer nur am Rande berührten Privatsphäre Prominenter / Caroline von Hannover
Das Veröffentlichungsverbot einer Wortberichterstattung über ein Skigebiet (Arlberg) mit beiläufiger Erwähnung prominenter Feriengäste verletzt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG: «Das Landgericht – dessen Begründung sich das Kammergericht „uneingeschränkt anschließt“ – trägt dem Umstand nicht hinreichend Rechnung, dass die streitgegenständlichen Äußerungen nicht den Schwerpunkt des Artikels bildeten, sondern ihnen nur eine illustrierende Bedeutung im Rahmen eines allgemeinen Berichts über das Skigebiet Arlberg und sein Publikum zukam.» (Seite 84)
BVerfG billigt Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben (Maßregelvollzug) in privatrechtlicher Organisationsform
Weder Art. 33 Abs. 4 GG noch das Demokratieprinzip sind verletzt: «Die formelle Privatisierung des hessischen Maßregelvollzuges dergestalt, dass ein Einsatz von Beamten in den Maßregelvollzugseinrichtungen für die aus Bediensteten des Landeswohlfahrtsverbandes bestehende Leitungsebene nicht vorgeschrieben und unterhalb dieser Ebene selbst als Möglichkeit nicht mehr vorgesehen ist, ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt.» (Seite 87)
BVerfG beanstandet Verletzung des Alimentationsprinzips durch zu niedrige Beamten-Bezüge / hier: W-2-Professor in Hessen
«Der Dienstherr ist aufgrund des Alimentationsprinzips (Art. 33 Abs. 5 GG) verpflichtet, dem Beamten amtsangemessenen Unterhalt zu leisten. Dazu gehört die Pflicht, die Bezüge entsprechend der unterschiedlichen Wertigkeit der Ämter abzustufen. Vergleiche sind nicht nur innerhalb einer Besoldungsordnung, sondern auch zwischen den verschiedenen Besoldungsordnungen möglich und geboten. Dabei entspricht dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht.» (Seite 103)
Richter Gerhardt hat dem Urteil eine abweichende Meinung beigegeben. (Seite 117)
BVerfG sieht in einer Verurteilung wegen Beihilfe zur Verunglimpfung des Staates (§§ 90a Abs. 1 Nr. 1, 27 StGB) eine Verletzung der Meinungsfreiheit
Konkret geht es um ein Flugblatt gegen das Theaterstück über den Hitler-Attentäter Georg Elser. (Seite 119)
Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, zur Löschung von Beleidigungen im Internet
Die Löschungspflicht aus Störerhaftung des Hostproviders besteht nur bei Verletzung zumutbarer Prüfungspflichten. In den Leitsätzen des VI. Zivilsenats heißt es: « Eine Verpflichtung zur Löschung des beanstandeten Eintrags besteht, wenn auf der Grundlage der Stellungnahme des für den Blog Verantwortlichen und einer etwaigen Replik des Betroffenen unter Berücksichtigung etwa zu verlangender Nachweise von einer rechtswidrigen Verletzung des Persönlichkeitsrechts auszugehen ist.» (Seite 121)
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Leipzig, zu Glaubensfreiheit und Schulfrieden
Die grundsätzliche Berechtigung eines Schülers zu einem (islamischen Gebet) in der Schule außerhalb des Unterrichts findet ihre Schranke in der Wahrung des Schulfriedens. In dem Urteil wird ausgeführt:
«Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts würde die Verrichtung des Gebets auf dem Schulflur durch den Kläger eine ohnehin bereits bestehende konkrete Gefahr für den Schulfrieden weiter verschärfen.
Nach diesen Feststellungen ist an dem D.-Gymnasium unter den Schülern eine Vielzahl von Religionen und Glaubensrichtungen vertreten. Aufgrund dieser heterogenen Zusammensetzung der Schülerschaft sind unter den Schülern teilweise sehr heftige Konflikte ausgetragen worden, die von Vorwürfen gegen Mitschüler ausgingen, diese seien nicht den Verhaltensregeln gefolgt, die sich aus einer bestimmten Auslegung des Korans ergäben, wie beispielsweise dem Gebot, ein Kopftuch zu tragen, Fastenvorschriften einzuhalten, Gebete abzuhalten, kein Schweinefleisch zu verzehren, „unsittliches Verhalten“ und „unsittliche Kleidung“ sowie persönliche Kontakte zu „unreinen“ Mitschülern zu vermeiden. Aus derartigen Anlässen sei es etwa zu Mobbing, Beleidigung, insbesondere mit antisemitischer Zielrichtung, Bedrohung und sexistischen Diskriminierungen gekommen. Hierauf aufbauend hat das Oberverwaltungsgericht den Schluss gezogen, die ohnehin bestehende Konfliktlage würde sich verschärfen, wenn die Ausübung religiöser Riten auf dem Schulgelände gestattet wäre und deutlich an Präsenz gewönne.
An diese tatsächlichen Feststellungen und die darauf aufbauende Beweiswürdigung ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden. Der Kläger hat dagegen keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht.» (Seite 124)
Kanzler des EGMR ruft bei ungarischen Rentenfällen angesichts des Eingangs von ca. 8.000 Beschwerden innerhalb eines Monats zu Sondermaßnahmen auf. (Seite 130)
EGMR entscheidet, wegen fehlender Umsetzung des Piloturteils von 2009 betr. die Nichtbefolgung innerstaatlicher Gerichtsurteile durch die Ukraine die Prüfung von Beschwerden wieder aufzunehmen. (Seite 131)
Konflikt zwischen britischer Regierung und EGMR in Bezug auf bestimmte Urteile versachlicht / Cameron versus Bratza
Eine weitere Eskalation in dem schwelenden Konflikt zwischen der britischen Regierung und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen bestimmter Urteile wurde durch eine entschiedene Replik des EGMR-Präsidenten Sir Nicolas Bratza auf Falschmeldungen und Presse-Polemik abgewendet. Im Ergebnis hat er dem Premierminister zugleich indirekt und doch öffentlich Einhalt geboten. (Seite 131)
EGMR behandelt Timoschenko-Beschwerde gegen die Ukraine wegen der Haftbedingungen mit Vorrang, erlässt jedoch keine Einstweilige Anordnung. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats verschärft in einer am 9. März 2012 verabschiedeten Erklärung den Ton gegenüber der Ukraine und kritisiert das Fehlen „sichtbarer Zeichen“ der Besserung in Bezug auf die Strafverfolgung gegen Mitglieder der vorherigen Regierung. Die Bewertung politischer Entscheidungen und ihrer Konsequenzen sei „eine Prärogative des Parlaments und am Ende des Wählers, nicht jedoch der Gerichte“. Das Antifolter-Komitee des Europarats (CPT) beanstandet in einer am 12. März 2012 veröffentlichten Erklärung Polizeigewalt und Haftbedingungen in der Ukraine. Die Delegation des CPT hat auch die medizinische Versorgung von Julija Timoschenko geprüft und als unzureichend bewertet. (Seite 132)