EuGRZ |
28. April 2023
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50. Jg. Heft 1-8
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Informatorische Zusammenfassungen
Doris König, Karlsruhe, setzt sich mit der Krise des Rechtsstaats auseinander und sucht nach Antworten, wie ihr zu begegnen ist. Der Blick ist dabei insbesondere auf die EU und die Rechtsprechung des EuGH gerichtet: „Der Rechtsstaat in der Krise – Was tun?“
«Die Krise des Rechtsstaats, die wir insbesondere in Ungarn und Polen, aber auch in anderen Mitgliedstaaten wie Rumänien und Bulgarien sehen, kann nicht für sich genommen betrachtet, sondern muss in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Sie ist Ausdruck einer Krise der liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts, die nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Teilen der Welt, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten von Amerika zu beobachten ist.»
Die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts beleuchtet Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als zwei Seiten einer Medaille, sucht nach den Ursachen dieser Krise, und sie analysiert die Schritte autoritärer Führungsfiguren, die unter Aufrechterhaltung einer demokratischen Fassade die Demokratie aushöhlen, insbesondere in Polen und Ungarn.
Als Mittel gegen die Krise von Rechtsstaat und Demokratie in der Europäischen Union sieht die Autorin die Sicherstellung rechtsstaatlicher Mindeststandards bei den Beitrittskandidaten; bezogen auf die Mitgliedstaaten prüft sie die Wirksamkeit von Art. 7 EUV (Sanktionsmechanismus bei Verletzung grundlegender Werte der EU), von präventiven Maßnahmen, von Konditionalitätsregeln zum Schutz des Unionshaushalts sowie die Wirksamkeit der Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds.
Zur Wächterfunktion des EuGH führt König aus: «In meinen Augen hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte einen wertvollen Beitrag zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Union und in den Mitgliedstaaten geleistet. Er hat sich durch eine wertebasierte und grundrechtskonforme Auslegung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, die zum juristischen Handwerkszeug gehört, die Möglichkeit eröffnet, im Wege von Vorabentscheidungs- und Vertragsverletzungsverfahren die zahlreichen kleinen Schritte zur Untergrabung des Rechtsstaatsprinzips in einigen Mitgliedstaaten in den Gesamtkontext zu stellen und justiziabel zu machen. So kann er den Finger sozusagen immer wieder in die Wunde legen, ohne – wie etwa die Kommission – politischen Rücksichtnahmen zu unterliegen. (…) Die hier und da im deutschen Schrifttum geäußerte Kritik an dem Vorgehen des Gerichtshofs teile ich nicht. Vielmehr ist es neben der Kommission die Aufgabe des Gerichtshofs, über die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Union und ihren Mitgliedstaaten zu wachen und problematische Entwicklungen rechtlich zu bewerten. (…) Seine Urteile in Bezug auf Polen, Ungarn und Rumänien zeigen, dass er einzelne Regelungen nicht isoliert betrachtet, sondern in einen Gesamtzusammenhang stellt, der erst das vollständige Bild einer andauernden Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit vermittelt.»
In ihrem Fazit und Ausblick gelangt Doris König zu folgendem Ergebnis: «Seit 2017 sind in der EU zwar einige Mechanismen in Gang gesetzt worden, um die genannten Staaten zur Umkehr zu bewegen. Hierbei hat der EuGH eine wichtige und unverzichtbare Rolle eingenommen. Sein Wirken ist allerdings einerseits von dem Mut der Richter in den betroffenen Mitgliedstaaten abhängig, trotz drohender Disziplinarverfahren und persönlicher Nachteile vorzulegen. Andererseits bedarf es einer konsequenten Haltung der Kommission, um immer wieder Vertragsverletzungsverfahren gegen einzelne Mitgliedstaaten einzuleiten. Zudem scheint die Zurückbehaltung von Fördergeldern wegen Rechtsstaatsmängeln eine gewisse Wirkung zu zeigen. Doch eines sollte deutlich geworden sein: Kommission und Gerichtshof allein können die Krise von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Mitgliedstaaten mit ihren Mitteln nicht beheben. Denn die von mir aufgeführten Erosionserscheinungen sind nicht in erster Linie ein juristisches Problem. Vielmehr handelt es sich um gesellschaftliche und politische Krisenerscheinungen, mit denen sich liberale Demokratien überall auf der Welt konfrontiert sehen. Im Kern geht es um den Verlust des Vertrauens vieler Menschen in die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit demokratischer Systeme, der durch immer neue Krisen – eine Energie- und Wirtschaftskrise steht offenbar vor der Tür – genährt wird. Dieser Vertrauensverlust ist Wasser auf die Mühlen der (Rechts-)Populisten, die durch den Einsatz von Propaganda, Fake News und ähnlichem die Zukunftsängste und die Unzufriedenheit der Menschen schüren und für ihre politischen Zwecke zu nutzen verstehen.
Da es sich in erster Linie um ein politisches Problem handelt, wird es am Ende auch nur politisch gelöst werden können. In der Europäischen Union sind neben den Unionsorganen auch die übrigen Mitgliedstaaten aufgerufen, sich immer wieder mit den Vertretern der betroffenen Länder auseinanderzusetzen und wenn nötig, den politischen und wirtschaftlichen Druck auf die Regierungen stetig zu erhöhen. Dies ist allerdings in einer Zeit, in der die Union wegen des Ukrainekriegs besonders auf gemeinsames solidarisches Handeln angewiesen ist, schwierig. Zudem hat die bisherige Entwicklung gezeigt, dass schnell und konsequent gehandelt werden muss. Das lange Zuwarten in der Union und in den übrigen Mitgliedstaaten hat dazu beigetragen, dass sich insbesondere in Polen und Ungarn autokratische Strukturen und Rechtsstaatsdefizite verfestigen konnten, die sich im Nachhinein nur schwer wieder beseitigen lassen.» (Seite 1)
Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, erarbeitet „Überlegungen zur geplanten Bill of Rights des Vereinigten Königreichs“ und fragt: „Brexit“ auch aus dem Europarat und dem europäischen System des Menschenrechtsschutzes? Die Autorin erinnert eingangs daran, dass die in der EMRK garantierten Rechte von Bürgern des Vereinigten Königreichs (im folgenden: UK) zunächst nicht vor nationalen Gerichten durchgesetzt werden konnten, sondern nur vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dies änderte sich erst, nachdem das Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschiedete, nämlich den Human Rights Act (HRA) von 1998, der im Oktober 2000 in Kraft trat und die Inkorporierung der Rechte der EMRK in das Recht des UK bewirkte.
Der Beitrag geht auf die Spannungen ein, die aufgrund bestimmter Urteile des EGMR zwischen dem Vereinigten Königreich und dem EGMR entstanden waren. Insbesondere wird die Bedeutung von zwei High-Level-Konferenzen eingeordnet, die zwischen 2012 und 2018 in Brighton und Kopenhagen stattfanden, auf denen die Londoner Regierung erfolglos versuchte, die Kompetenzen des Gerichtshofs zu beschneiden.
Die Autorin widmet sich im Einzelnen der geplanten Bill of Rights von den Anfängen 2011 bis zum Consultation Paper vom Juni 2022 und führt dazu aus:
«Auf der Grundlage der wesentlichen Aspekte der Bill of Rights, wie sie sich aus dem Konsultationspapier der Regierung abzeichnen, ist es daher angebracht, nun genauer die Erklärung zu hinterfragen, auf deren Basis die Konsultation durchgeführt wurde, nämlich dass das UK weiter Vertragspartei der EMRK bleiben will. Dass dieser Wunsch besteht, ergibt sich deutlich aus den Antworten der Konsultation, ob das angesichts des davon abweichenden geplanten Inhalts der Bill of Rights rechtlich möglich ist, steht auf einem anderen Blatt.»
Im Hinblick auf den innerstaatlichen Umgang mit den für das UK verbindlichen Entscheidungen des EGMR hebt die Autorin die zentrale Bedeutung von Kap. 5 des Konsultationspapiers (paras 125-129) hervor und gibt zu bedenken:
«Die Äußerungen der Regierung in dem Papier zu dieser Frage sind sehr summarisch, wenn nicht gar kryptisch, und schieben dem Parlament die gesamte Verantwortung zu. (…) Kryptisch ist insbesondere der letzte Teil von para. 128, denn hiernach soll die Bill of Rights „den Status der EGMR-Rechtsprechung im UK klären“. Damit ist vermutlich nicht gemeint, dass es um Fragen der direkten Wirkung der Entscheidungen geht, wie sie z. B. für das Unionsrecht galt. Wenn aber die direkte Wirkung nicht eingeführt werden soll, ist nicht ersichtlich, wie der Status aussehen soll. Nach Art. 46 EMRK ist jede Vertragspartei verpflichtet, den Urteilen des EGMR nachzukommen. Wie das geschieht, ist Sache des Staates, aber dass es geschieht, ist nach Völkerrecht zu gewährleisten und daran kann keine innerstaatliche Regelung etwas ändern. Hier kann sich daher ein ernstes Problem auftun, wenn von innerstaatlichen Entscheidungen – ob vom Parlament oder anderen Organen getroffen – abhängig gemacht wird, ob Entscheidungen des EGMR befolgt werden oder nicht.»
Oellers-Frahm gelangt zu folgendem Schluss: «Wenn daher der Wille ernst gemeint ist, dass die Verabschiedung einer Bill of Rights die Mitgliedschaft des UK in der EMRK nicht berühren soll, so sollten die Autoren des Entwurfs einer Bill of Rights sich der problematischen Folgen bewusst sein, die sich aus der Beschränkung der Anwendung der EMRK und der EGMR Rechtsprechung durch innerstaatliche Gerichte ergibt. Da die völkerrechtliche Verpflichtung zur Beachtung der EMRK durch innerstaatliche Gesetze nicht berührt wird, birgt das Ziel, den Einfluss der EMRK im Vereinigten Königreich zu beschneiden, Gefahren für die Mitgliedschaft des UK in der EMRK. Diese Gefahr so weit wie möglich einzudämmen, ist im Sinne der Menschenrechte und der Funktion der Konvention und des EGMR unbedingt wünschenswert, und kann durch vermehrten Dialog mit nationalen Institutionen, vor allem dem UK Supreme Court, und einem intensiveren Blick auf die nationalen Gegebenheiten erreicht werden. Letztendlich bleibt jedoch der Grundsatz unverrückbar, dass die Entscheidungen des EGMR endgültig und verbindlich sind, unabhängig vom nationalen Recht und der nationalen Gerichtsbarkeit.» (Seite 10)
Thomas Giegerich, Saarbrücken, untersucht die „Extraterritoriale Schutzwirkung von Grund- und Menschenrechten im globalen Mehrebenensystem: Kongruenz und Kohärenz für die International Rule of Law“
«Vor fast zwanzig Jahren sprach ich mich in dieser Zeitschrift dafür aus, das Grund- und Menschenrechtsverhältnis territorial, personal und international zu erweitern, um neuen Gefährdungen der Freiheit und Gleichheit im globalen Zeitalter effektiv begegnen zu können. Es ist an der Zeit, die seitherigen Entwicklungen bei der extraterritorialen Reichweite der Grund- und Menschenrechte zu analysieren: Inwieweit sind Hoheitsorgane heute an die Grund- und Menschenrechte auch dann gebunden, wenn sie außerhalb des eigenen Gebiets agieren bzw. dort grund- und menschenrechtsrelevante Folgen hervorrufen? Mit der extraterritorialen Reichweite der Grund- und Menschenrechtsnormen wächst auch die daran gekoppelte Zuständigkeit ratione materiae der jeweiligen Durchsetzungsorgane, die echte internationale Gerichte (wie der EGMR) oder gerichtsähnliche Expertengremien sein können (wie die Vertragsgremien der globalen Menschenrechtsverträge).
In den letzten beiden Jahrzehnten ist die extraterritoriale Schutzwirkung von Grund- und Menschenrechten in zahlreichen gerichtlichen und quasi-gerichtlichen Entscheidungen sowie wissenschaftlichen Beiträgen intensiv ausgeleuchtet worden. Wie im Folgenden gezeigt wird, gilt dies vor allem für die in globalen Verträgen sowie der EMRK verbürgten Menschenrechte sowie für die Grundrechte des GG, weniger hingegen für die EU-Grundrechte und -Grundfreiheiten. Noch längst sind aber nicht alle Fragen beantwortet, und die Entwicklung ist weiter im Fluss. Nunmehr geht es darum, erstens eine Kongruenz zwischen nationaler und supranationaler Hoheitsmacht und rechtlicher Bindung an die Grund- und Menschenrechte sicherzustellen und zweitens die Kohärenz der Völkerrechtsordnung insgesamt zu sichern, um damit die International Rule of Law als Grundpfeiler der regelbasierten internationalen Ordnung zu stärken. In diesem Sinne hat die UN-Generalversammlung jüngst die Notwendigkeit universeller Beachtung und Umsetzung der Herrschaft des Rechts auf nationaler und internationaler Ebene zugunsten einer internationalen Ordnung bestätigt, die auf der Herrschaft des Rechts und dem Völkerrecht basiert.»
Der Autor behandelt den mehrdimensionalen Schutz über mehrere Ebenen, die extraterritoriale Bindung an die globalen Menschenrechtsverträge und (in jeweils weiteren Abschnitten) an die EMRK, an die Grundrechte und Grundfreiheiten des EU-Rechts sowie an die Grundrechte des Grundgesetzes.
In seinem Gesamtergebnis sieht Giegerich die Grund- und Menschenrechte als Dreh- und Angelpunkt der International Rule of Law: «Wenn die Grund- und Menschenrechte ihren Zweck erfüllen sollen, staatliche und supranationale Hoheitsgewalt wirksam einzuhegen, muss ihre Bindungskraft extraterritorial so weit reichen wie die Eingriffsmacht der betreffenden Hoheitsträger. Denn nur bei dieser Kongruenz kann das von der AEMR verkündete und in den globalen Menschenrechtsverträgen, der EMRK und dem GG rechtlich verankerte Ideal eines Schutzes der Grund- und Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts effektiv erreicht werden, das die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet. Anders als der funktionale Ansatz des UN-AMR wird dem die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 1 EMRK bislang nicht völlig gerecht. Die deutsche Rechtsprechung liegt demgegenüber weitgehend auf der Linie des UN-AMR, wenngleich das BVerwG-Urteil zum Drohneneinsatz Vorsicht erkennen lässt.
Bei alledem bleiben die in den Grund- und Menschenrechten völkervertraglich, supranational und verfassungsrechtlich kodifizierten Spielarten der Freiheit, Gleichheit und Solidarität als Ausfluss der Würde des Menschen in die Völkerrechtsordnung insgesamt eingebunden, deren Kohärenz zu wahren ist. Wo das Völkerrecht der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt Grenzen zieht, müssen diese auch bei der Gewährleistungsverantwortung für die Grund- und Menschenrechte berücksichtigt werden: Was ein Staat im Einklang mit dem Völkerrecht nicht leisten darf, dazu ist er auch grund- oder menschenrechtlich nicht verpflichtet. So ist die Praxis verschiedener Vertragsgremien und die Rechtsprechung des BVerfG zu verstehen. Verpflichtet das Völkerrecht umgekehrt einen Staat zu einem bestimmten Verhalten, das notwendigerweise zu Eingriffen in Grund- und Menschenrechte führt, müssen die miteinander kollidierenden Pflichten zur Befolgung der völkerrechtlichen Anordnung und zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte in eine Konkordanz gebracht werden.
Setzt ein Staat sich über seine sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen (etwa das völkerrechtliche Gewaltverbot) hinweg, so bleibt er dabei vollumfänglich an die Grund- und Menschenrechte gebunden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EGMR seit dem Loizidou-Fall (jeweils in den Grenzen des Art. 1 EMRK). Das hat zur Folge, dass die besonders weit entwickelten Durchsetzungsmechanismen für Grund- und Menschenrechte indirekt dazu genutzt werden können, um die Verletzung sonstiger Völkerrechtsregeln mit zu ahnden. Grund- und Menschenrechte werden so zum Instrument zugunsten der International Rule of Law. (…)
Es genügt der Hinweis darauf, dass die Grund- und Menschenrechte mit ihren Durchsetzungsverfahren ein erhebliches Potential als Mittel auch zur Durchsetzung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts einschließlich des humanitären Völkerrechts besitzen und damit im Dienst der International Rule of Law stehen. Dieses Potential wird umso größer, je weiter ihr extraterritorialer Anwendungsbereich definiert wird, weil extraterritoriale Hoheitsakte eher als rein interne die Gefahr einer Verletzung allgemeinen Völkerrechts mit sich bringen. Die Grund- und Menschenrechte können auf diese Weise zum Dreh- und Angelpunkt der International Rule of Law werden. In den letzten Jahren geht die internationale Praxis deutlich in diese Richtung: Beispielsweise werden beim IGH, dessen Gerichtsbarkeit konsensabhängig ist, Klagen aufgrund von Kompromissklauseln in globalen Menschenrechtsverträgen anhängig gemacht, die zwar einen menschenrechtlichen Aufhänger haben, deren eigentlicher Schwerpunkt aber in einem bewaffneten Konflikt liegt. Dasselbe gilt für die zunehmende Zahl von Staatenbeschwerden beim EGMR, aber auch für immer mehr Individualbeschwerden.
Am Beginn der Menschenrechtsrevolution im Völkerrecht stand die AEMR mit ihrer Präambelaussage, die Menschenrechte müssten durch die Rule of Law geschützt werden. Inzwischen sind die Menschenrechte in der Völkerrechtsordnung so fest etabliert, dass sie ihrerseits einen Beitrag zum Schutz der International Rule of Law leisten können. Hier frisst nicht eine Revolution ihre Kinder, sondern die Kinder verteidigen das Völkerrecht als ihre Mutter.» (Seite 17)
Andreas Zimmermann und Alina-Camille Berdefy, Potsdam, behandeln „Internationale Gerichtsbarkeit im Kontext des Krieges gegen die Ukraine / Rechtsschutzmöglichkeiten der Ukraine vor internationalen Gerichten: Schwierigkeiten und Erfolgsaussichten“
«Angesichts der dramatischen Lage in der Ukraine untersucht der folgende Beitrag auf welchem Wege, vor welchen völkerrechtlichen Gerichten, in welchem Umfang und mit welcher Aussicht auf Erfolg die Ukraine oder einzelne ukrainische Staatsangehörige Sicherheitsschutz vor der russischen Invasion und/oder den im Zusammenhang damit bereits begangenen oder noch bevorstehenden Völkerrechtsverstößen Rechtsschutz erlangen können.
Im Einzelnen handelt es sich hierbei um zwei anhängige Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof; mehrere Staaten- sowie eine große Vielzahl von Individualbeschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; ein Verfahren vor dem Internationalen Seegerichtshof; zahlreiche Investitionsverfahren vor internationalen Schiedsgerichten sowie schließlich zwei ‚Situationen‘ vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Abschließend wird die Option der Schaffung eines ad-hoc-Tribunals für das Verbrechen der Aggression behandelt.»
• Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), Den Haag: Die erste Klage der Ukraine gegen Russland aus dem Jahr 2017 stützt die Zuständigkeit des IGH auf die UN-Konvention gegen die Finanzierung des Terrorismus (ICSFT). Die zweite Klage stützt sich auf die UN-Konvention gegen Rassendiskriminierung (CERD).
– Im ersten Fall rügt die Ukraine, Russland habe durch Waffenlieferungen und andere Hilfe-Leistungen für pro-russische Separatisten im Donbass dort terroristische Handlungen finanziert. Im zweiten Verfahren rügt die Ukraine die Diskriminierung bestimmter ethnischer Gruppen (Tartaren) auf der Krim.
– Völkermordverfahren: Hier möchte die Ukraine feststellen lassen, dass sich Russland missbräuchlich auf einen behaupteten Völkermord seitens der Ukraine berufen hat, um die Anwendung militärischer Gewalt gegen die Ukraine zu rechtfertigen.
• Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg
«Aktuell sind insgesamt noch circa 16.750 Individualbeschwerden gegen die Russische Föderation beim EGMR anhängig von welchen mindestens 8.500 Vorfälle im Kontext der Annexion der Krim, des Konflikts in der Ostukraine sowie der Vorfälle im Asowschen Meer stehen. Seit der russischen Invasion im Februar 2022 erreichten den EGMR zudem bereits mehrere Ersuchen bezüglich vorläufiger Maßnahmen von Einzelpersonen, die sich in russischer Kriegsgefangenschaft befinden. Daneben sind aber ferner derzeit fünf, von der Ukraine auf der Grundlage von Art. 33 EMRK gegen die Russische Föderation angestrengte Staatenklagen beim EGMR anhängig.»
• Verfahren vor dem Internationalen Seegerichtshof, Hamburg, und einem UNCLOS Annex VII-Schiedsgericht
Vorfall im Asowschen Meer in der Straße von Kertsch. Dort wurden am 25. November 2018 drei ukrainische Kriegsschiffe durch die russische Küstenwache und das russische Militär beschlagnahmt und deren 24-köpfige Besatzung wegen eines behaupteten illegalen Grenzübertritts in Untersuchungshaft genommen.
• Investitionsstreitverfahren
Seit dem Jahr 1998 besteht zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation ein bilaterales Investitionsabkommen (Bilateral Investment Treaty, BIT) mit der Möglichkeit ein internationales Schiedsgericht anzurufen, wenn Investoren ihre Investitionen unzulässigerweise verletzt sehen. «Bis heute wurden, soweit bekannt, mindestens zehn solcher Investitionsschiedsverfahren im Zusammenhang mit der Annexion der Krim eingeleitet, welche verschiedene Wirtschaftssektoren, von Öl und Gas bis hin zu Immobilien, betreffen.»
• Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), Den Haag
Die Ukraine, die das Römische Statut nicht ratifiziert hat, hat zwei ad-hoc-Unterwerfungserklärungen nach Art. 12 (3) Römisches Statut abgegeben mittels derer die Zuständigkeit des IStGH für die Verfolgung von auf dem Gebiet der Ukraine begangener Verbrechen begründet wurde.
Die erste Erklärung war zeitlich begrenzt und ist inzwischen ausgelaufen, die zweite Erklärung vom September 2015 ist zeitlich unbegrenzt und wurde vor dem Hintergrund der Besetzung der Krim und des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine abgegeben. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die II. Vorverfahrenskammer des IStGH am 17. März 2023 zwei Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Putin und gegen dessen Kinderrechtsbeauftragte Lvova-Belova erlassen hat.
• Potenzielles Verfahren vor einem ad-hoc-Tribunal für das Verbrechen der Aggression
«Evidenterweise kommt dabei die Errichtung eines Sondertribunals durch den Sicherheitsrat anders als im Fall Jugoslawien oder Ruanda erneut wegen des dortigen russischen Vetorechts nicht in Betracht. Wie im Fall Sierra Leone könnte aber die UN-Generalversammlung im Rahmen ihrer Notkompetenzen auf der Grundlage der Uniting-for-Peace-Resolution trotz der andauernden Befassung des Sicherheitsrates mit der Ukrainefrage die Einsetzung des Sondertribunals beschließen und den UN-Generalsekretär ermächtigen, ein entsprechendes Abkommen mit dem Sitzstaat, sei es die Ukraine, sei es ein Drittstaat, abzuschließen, welches dann auch die Definition des Straftatbestandes und weiterer Folgeregelungen enthalten würde.»
Ausblick: Die Autoren erörtern noch weitere Möglichkeiten ähnlicher Art und gelangen u.a. zu folgendem Schluss: «Es wäre (…) vermessen, zu glauben, das Völkerrecht und seine Institutionen allein könnten eine vollständige Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine gewährleisten. Was jedoch das Völkerrecht, und was gerade internationale Gerichte aber leisten können, ist, zu benennen, wer vorliegend auf der Seite der internationalen Ordnung und des Völkerrechts steht und wer versucht, an den Grundfesten eben dieser Ordnung zu rütteln. In diesem, ganz anderen, Sinne bleibt zu hoffen, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine keine ‚Zeitenwende‘ darstellt, sondern dass sich die Völkerrechtsordnung in einer Retrospektive, etwa aus der Sicht des Jahres 2030 oder 2040, doch im Nachhinein als widerstandsfähiger erweist als es vielleicht derzeit auszusehen scheint.» (Seite 40)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beanstandet das Fehlen unabhängiger Ermittlungen im Fall von vertretbar behauptetem Racial Profiling als Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK / Selektive Identitätskontrolle eines Bahnreisenden (indischer Herkunft) durch Beamte der Bundespolizei / Basu gegen Deutschland
Zum Vortrag der Regierung, die der Dienststelle des kontrollierenden Beamten vorgesetzte Behörde habe interne Ermittlungen bezüglich des Vorfalls durchgeführt, erklärt der Gerichtshof: «In Anbetracht der hierarchischen und institutionellen Verbindungen zwischen der ermittelnden staatlichen Stelle und der im vorliegenden Fall für den Staat handelnden Person können die diesbezüglichen Ermittlungen nicht als unabhängig angesehen werden (…).
Was das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass diese Gerichte es abgelehnt haben, die Rüge des Bf., wonach er bei der Personenkontrolle diskriminierend behandelt worden sei, in der Sache zu prüfen. Trotz der vertretbaren Behauptung, dass der Bf. Opfer von Racial Profiling gewesen sein könnte, haben sie die notwendigen Beweise nicht erhoben und insbesondere die bei der Personenkontrolle anwesenden Zeugen nicht vernommen (…). Sie wiesen die Klage des Bf. aus formalen Gründen ab und vertraten die Ansicht, dass der Bf. kein berechtigtes Interesse an einer Feststellung der Rechtmäßigkeit der ihn betreffenden Personenkontrolle habe (…).
Unter diesen Umständen muss der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangen, dass die staatlichen Stellen ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen sind, alle angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um durch eine unabhängige Stelle das Vorliegen oder das Nichtvorliegen feststellen zu lassen, inwieweit eine diskriminierende Haltung eine Rolle bei der Personenkontrolle gespielt hat, und daher insoweit keine wirksame Untersuchung durchgeführt wurde. Folglich ist der Gerichtshof nicht in der Lage, darüber zu befinden, ob der Bf. aufgrund seiner ethnischen Herkunft der Personenkontrolle unterzogen wurde. Daher liegt ein Verstoß gegen Art. 14 i.V.m. Art. 8 der Konvention vor.» (Seite 48)
Richter Pavli hat dem einstimmig ergangenen Urteil eine abweichende Meinung beigegeben und betont unter Hinweis auf die Bedeutung der Beweislast, dass vorliegend eine Notwendigkeit bestanden hätte, zu konkretisieren, ob die festgestellte Verletzung von Art. 8 EMRK verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Natur ist. (Seite 53)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, bestätigt, dass der während der Covid-19-Pandemie von Lehrkräften an öffentlichen Schulen ohne deren ausdrückliche Einwilligung per Video-Konferenz-Livestream erteilte Unterricht in den Anwendungsbereich von Art. 88 DSGVO fällt / Rs. Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer beim Hessischen Kultusministerium gegen den Minister des Hessischen Kultusministeriums
Die Kläger des Ausgangsverfahrens weisen darauf hin, dass es im Gegensatz dazu auf die Einwilligung der Schüler bzw., sofern sie minderjährig sind, deren Eltern ankommt. (Seite 57)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht durch Einsetzung von zwei Gerichtsschreibern der III. Strafkammer des Obergerichts Zürich als (nebenamtliche) Ersatzoberrichter in ebendieser Kammer den Anspruch auf ein unabhängiges Gericht verletzt (Art. 30 BV und Art. 6 Abs. 1EMRK)
Die ursprüngliche Spruchkörperbesetzung war aufgrund von Abwesenheit zweier (ordentlicher) Oberrichter nachträglich geändert worden. Unverändert gehörte zu dem Spruchkörper der Präsident der III. Strafkammer, dem die beiden Ersatzrichter– in ihrer Funktion als Gerichtsschreiber – faktisch direkt unterstellt und ihm gegenüber weisungsgebunden waren.
Es ist festzuhalten, «dass die zeitgleich ausserhalb des Spruchkörpers bestehende (unbestrittene) formelle Hierarchie zwischen den Mitgliedern des vorinstanzlichen Spruchkörpers zumindest den Anschein einer informellen Hierarchie innerhalb des Spruchkörpers schafft, die geeignet ist, die interne richterliche Unabhängigkeit der als Ersatzrichterin bzw. Ersatzrichter eingesetzten Personen zu beeinträchtigen. Dies ist umso gewichtiger, als sich dieser Anschein der fehlenden Unabhängigkeit des Spruchkörpers aus den gewählten organisatorischen Gegebenheiten ergibt (…) und demnach auch durch geeignete organisationsrechtliche Massnahmen verhindert werden kann und muss. (…).Welche konkreten Massnahmen dies sind, ist eine Frage der grundsätzlich den Kantonen obliegenden Gerichtsorganisation.» (Seite 66)
Verfassungsgericht der Republik Polen (Poln. VerfG), Warschau, insinuiert, der EGMR übe rechtsetzende Tätigkeit aus, die zur Schaffung von Rechtsnormen geführt habe, was dem VerfG die Möglichkeit der Überprüfung der EGMR-Rechtsprechung im Rahmen der Normenkontrolle eröffnet / Urteil K 7/21
Das VerfG stellt teilweise Unvereinbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK mit der Verfassung der Republik Polen (VPR) fest. Im Tenor heißt es u.a.: «Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ist, soweit: (…)
der EGMR oder die nationalen Gerichte ermächtigt werden, die Vereinbarkeit von Gesetzen über die Organisation des Justizwesens, die Zuständigkeit der Gerichte und das Gesetz über die Organisation, den Tätigkeitsbereich, die Arbeitsverfahren und die Art der Wahl der Mitglieder des Landesjustizrates mit der Verfassung und der EMRK zu prüfen,
mit Art. 188 Nr. 1 und 2 und Art. 190 Abs. 1 VRP unvereinbar.»
In ihrer einleitenden Anmerkung schreibt Viktoria Budnik (Bearbeitung und Übersetzung des Urteils): «Bereits zu Anfang der Urteilsbegründung löst sich das Verfassungsgericht von der Bindungswirkung des vom Generalstaatsanwalt angegebenen Antragsgegenstandes durch dessen „Umformulierung“ bzw. „Rekonstruktion“ (…). Zum Zwecke der Bestimmung des Antragsgegenstandes soll eine Auslegung erfolgen, die die angegriffenen Urteile des EGMR (…) in die Prüfung des Verfassungsgerichts miteinbezieht. (…) In der Konsequenz erweitert das Verfassungsgericht den Anwendungsbereich der Normenkontrolle nach Art. 188 Nr. 1 der Verfassung (…), indem es statuiert, dass es sich bei den Urteilen nicht (mehr nur) um die Rechtsanwendung im Einzelfall handele, und spricht den Urteilen somit einen abstrakt-generellen Inhalt und sich selbst die Zuständigkeit über dessen Normenkontrolle zu. Im Zuge der sich so selbst ermöglichten Auslegung zum Zwecke des Kontrollzugriffs erfolgen zudem wenig überraschende, weitreichende Ausführungen zur Rolle und Hierarchie des Völkerrechts im Kontext eines globalisierten Rechtsgefüges sowie zu den aufgeworfenen Fragen nach der Konfliktlösung im Kollisionsfall und zu der Frage der Deutungshoheit und zum „Herrn des Systems“ des supranationalen Vertragsgebildes.» (Seite 73)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen teilweise für mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar
Es fehlen Regelungen zu den Folgen und Fortführungsmöglichkeiten von – nach inländischem Recht – unwirksamen Auslandskinderehen.
«Obwohl der Gesetzgeber grundsätzlich befugt ist, die inländische Wirksamkeit im Ausland geschlossener Ehen von einem Mindestalter der Beteiligten abhängig zu machen, erweist sich Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB jedoch in seiner derzeitigen Ausgestaltung wegen fehlender Folgeregelungen und unzureichender Möglichkeiten, die Ehe nach Erreichen der Volljährigkeit auch inländisch als wirksame zu führen, als unangemessen und ist damit nicht verhältnismäßig im engeren Sinne.» (Seite 88)
BVerfG erklärt Gesetz über öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern für teilweise verfassungswidrig
Heimliche Überwachungsmaßnahmen der Polizei genügen den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht.
Ferner: «Der Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckt Ermittelnden kann den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen. Das gilt, wenn sie hierdurch kernbereichsrelevante Informationen erlangen. Darüber hinaus kann ihre Interaktion mit einer Zielperson unter besonderen Voraussetzungen bereits als solche den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren, ohne dass es noch auf den Inhalt der hierdurch erlangten Informationen ankäme. Der Gesetzgeber muss den Kernbereichsschutz normenklar regeln. Zum einen muss er auf der Ebene der Datenerhebung Vorkehrungen treffen, die nach Möglichkeit ausschließen, dass Kernbereichsinformationen miterfasst werden. Zum anderen sind auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung die Folgen eines dennoch erfolgten Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung strikt zu minimieren.» (Seite 109)
BVerfG beanstandet automatisierte Datenanalyse durch die Polizei zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung in Hessen und Hamburg als verfassungswidrig
«Werden gespeicherte Datenbestände mittels einer automatisierten Anwendung zur Datenanalyse oder -auswertung verarbeitet, greift dies in die informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) aller ein, deren Daten bei diesem Vorgang personenbezogen Verwendung finden.» (Seite 137)
BVerfG kritisiert Ablehnung der Aussetzung des Strafrests einer mehr als 47 Jahre lang vollzogenen lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung
«Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Aussetzungsentscheidungen sind mit den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Begründung der Fortdauer der Freiheitsentziehung aufgrund einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht vereinbar.» (Seite 155)
BVerfG wendet sich gegen eine mehrtägige Fesselung eines Sicherungsverwahrten während eines Krankenhausaufenthalts
Die 1. Kammer des Zweiten Senats stellt eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG fest. (Seite 161)
BVerfG bestätigt Verurteilung eines Ku’damm-Rasers wegen Mordes
«Ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz ist daher nicht erkennbar. Jedenfalls ist der Beschwerdevortrag nicht geeignet, die Urteile von Landgericht und Bundesgerichtshof im Hinblick auf das Schuldprinzip verfassungsrechtlich in Zweifel zu ziehen. (…) Die Rüge, die Einordnung der Tat als Mord führe zu einem Verstoß gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens, dringt ebenfalls nicht durch.» (Seite 166)
BVerfG beanstandet die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Einspruchsfrist in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren als Verletzung von Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. (Seite 174)
EGMR-Präsidentin Síofra O’Leary gab auf ihrer Jahrespressekonferenz einen Überblick über die Ende 2022 noch anhängigen 74.650 Fälle und die Entwicklung nach dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat
Sie betonte die Bedeutung des Dialogs mit den innerstaatlichen Höchstgerichten (Superior Courts Network) und die allgemeine Zugänglichkeit der Knowledge Sharing platform (KS).
Ein Leitmotiv der Pressekonferenz war die unzureichende finanzielle und personelle Ausstattung des Gerichtshofs angesichts der zu bewältigenden Arbeitslast. Abweichend von Art. 50 der Konvention („Die Kosten des Gerichtshofs werden vom Europarat getragen.“) zahlte der Gerichtshof ein Viertel seiner Personalkosten im vergangenen Jahr nach Angaben der Präsidentin nicht aus dem vom Europarat zur Verfügung gestellten regulären Haushalt von 74 Mio. Euro (für 2023 sind es 76,8 Mio. Euro), sondern von einem nach der Brighton-Konferenz beim Generalsekretariat des Europarats eingerichteten Sonderkonto, auf das einige Staaten freiwillige Zahlungen erbringen, um den Gerichtshof zu unterstützen. (Seite 177)
EGMR-Richterwahlen: Anne Louise Haahr Bormann neue dänische und Oddný Mjöll Arnardóttir neue isländische Richterin. (Seite 179)
BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2023 u.a. zur Entscheidung anstehenden Verfahren (Seite 180)