EuGRZ
30. Dezember 2022
49 Jg. Heft 21-23

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Informatorische Zusammenfassungen

Angelika Nußberger, Köln, über „Die Zukunft des Europäischen Menschenrechtsschutzes – Zur Frage nach dem status quo in zwanzig Jahren“

Mit einem Kolloquium unter dem englischen Titel „European Human Rights Protection. Twenty Years From Now“ wurde die an der Universität zu Köln im Jahr 2022 neu gegründete Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz eröffnet. Die dabei am 16.9.2022 gehaltenen Referate sowie die wichtigsten Dokumente der Paneldiskussion werden in diesem Heft der EuGRZ sowie im Human Rights Law Journal Vol. 42 (2022) No. 10-12 veröffentlicht. Der vorliegende Text ist als Einleitung in die Thematik gedacht und soll das Gesamttableau, in das sich die einzelnen Referate einfügen, erläutern. Die Autorin ist Direktorin der neu gegründeten Akademie. Nußberger erläutert die Wahl des Themas u.a. folgendermaßen:

«Wer Gesetze schreibt oder Verträge abschließt, muss das Zukünftige für regelbar halten; das Bestreben muss sein, für alle Eventualitäten bestmöglich vorzusorgen. Die Weichen für die Zukunft werden in der Gegenwart gestellt. Dies ist die Grundlage dafür, auch die Rechtswissenschaft als berufen zu sehen, über mögliche zukünftige Entwicklungen zu reflektieren.

Ausgangspunkt für das Nachdenken über das gesellschaftsgestaltende Potential der Grund- und Menschenrechte in der Zukunft ist so die Analyse der für die Gegenwart bedeutungsbestimmenden Faktoren; auf dieser Grundlage lassen sich die relevanten offenen Fragen ermitteln und mögliche Antworten auf die kommenden Jahrzehnte projizieren, dies auch dann, wenn man konkrete Ereignisse nicht vorhersehen kann. Dementsprechend sollten mit dem Kolloquium die in der Gegenwart geführten Kontroversen und Debatten aufgegriffen und in die Zukunft extrapoliert werden.

Im Mittelpunkt standen die zentralen, für den Menschenrechtsschutz in der Gegenwart verantwortlichen Akteure, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) auf der einen Seite, die nationalen obersten Gerichte und Verfassungsgerichte auf der anderen Seite. Ihr Wirken, ihre Gefährdungen und Potentiale waren Gegenstand der Debatte.»

Robert Spano (vormaliger Präsident des EGMR) sieht keine Gefahr, dass das System der Europäischen Menschenrechtskonvention sich als „verlorene Utopie“ erweisen könnte; Koen Lenaerts (Präsident des EuGH) ist gleichermaßen optimistisch mit Blick auf die Zukunft des EuGH.

«Die Zukunftsfrage stellt sich in gleicher Weise für die nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte; die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass auch eine sehr gute Reputation schnell verloren gehen kann, wenn die Politik die Grundkoordinaten für die dritte Gewalt verändert und die Unabhängigkeit der Richter nicht mehr garantiert wird. Die Frage nach dem Stellenwert der Verfassungsgerichtsbarkeit in Staat und Gesellschaft ist nicht ein für allemal festgelegt, sondern änderungsoffen, selbst wenn die Grundbestimmungen verfassungsrechtlich fixiert sind.»

Lord Mance (vormaliger Vizepräsident des UK Supreme Court) «bestätigt die Bindung an Traditionen als Besonderheit des englischen Rechtssystems und stellt „the strong blend of tradition in our current constitutional arrangement“ der „crisp clarity“ des Grundgesetzes gegenüber. (…) Andreas Voßkuhle (langjähriger Präsident des BVerfG) geht „vorsichtig optimistisch“ davon aus, „dass beide Senate sehr sichtbar und einflussreich bleiben werden“, während die Erfolgsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa nicht gewiss sei. Dies treffe insbesondere auf Polen zu. Die Entwicklungen seit 2015 hätten dazu beigetragen, die Vorstellung, die Europäische Union sei eine Wertegemeinschaft, zu untergraben.»

Nußberger weist sodann auf Matthias Jestaedt hin, der sich mit „Effektivität und Kohärenz des Menschenrechtsschutzes“ durch den EGMR beschäftigt.

Sie geht schließlich auf die dem Menschenrechtsschutz in Zeiten des Krieges gewidmete Podiumsdiskussion ein: «Lado Chanturia und Ganna Yudkivska, die neben Adam Bodnar und Lady Arden auf dem Podium saßen, sind bzw. waren Richter am EGMR aus Georgien und der Ukraine und damit ex officio mit den „Kriegsfällen“ befasst, Adam Bodnar hat sich als ehemaliger polnischer Ombudsmann damit auseinandergesetzt, Lady Arden war in den Irak-Fällen am britischen Supreme Court damit befasst. Für alle war die Frage der Jurisdiktion zentral, ist dies doch die Tür, die man öffnen muss, um sich überhaupt in der Sache mit den Menschenrechtsverletzungen befassen zu können.»

Die Autorin schließt mit Überlegungen zu Szenarien der weiteren Entwicklung der Grund- und Menschenrechte: [1] «Desillusionierung: Menschenrechte stellen sich insoweit als unerfüllte Versprechen dar. (…) [2] Das zweite Szenario baut auf der Dekonstruktion der Idee der Universalität der Menschenrechte auf. (…) Mit einer derartigen kritischen Herangehensweise werden allerdings die Grund- und Menschenrechte von innen heraus zerstört. (…) [3] Dem entgegengesetzt werden im dritten Szenario die Menschenrechte sakralisiert und nehmen den Platz ein, den die Religionen in modernen Gesellschaften nicht mehr besetzen können. (…)

Wir wissen nicht, welche Denkrichtung sich durchsetzen und wovon die praktische Menschenrechtsarbeit bestimmt sein wird. Aber die Zukunft beginnt in der Gegenwart. Die Zeichen der Zeit richtig zu lesen und zu verstehen, ist so Voraussetzung dafür, auf Neues vorbereitet zu sein und dafür Sorge zu tragen, dass Menschenrechte auch weiterhin eine dominierende Rolle spielen und der gesellschaftlichen Entwicklung Orientierung geben.» (Seite 593)

Andreas Voßkuhle, Freiburg i.Br.: Das Bundesverfassungsgericht – „Bright Future“ oder „Decline of Influence“

Der vormalige Präsident des BVerfG beantwortet die von Angelika Nußberger gestellte Kolloquiumsfrage (s.o. S. 593) zum „status quo in zwanzig Jahren“ mit acht Beobachtungen und einem Ausblick. Im Einzelnen nimmt der Autor detailliert Stellung zu (1) Nachfrage und Erledigungen, (2) Akzeptanz in der Bevölkerung, zur (3) genügenden Anzahl von „Big Cases“, (4) Innovationskraft, (5) Rezeption der Rechtsprechung des BVerfG durch andere Gerichte im europäischen Verfassungsgerichtsverbund und darüber hinaus, (6) zu Untergangserzählungen, (7) zur Frage von etwaigen Umsetzungsdefiziten, und (8) zur Personal- und Sachaustattung.

In seinem abschließenden Ausblick hält Voßkuhle u.a. fest: «Das stärkere Eingewobensein in europäische und internationale Zusammenhänge tut dem Gericht eher gut und zwingt es, von manchen liebgewonnenen dogmatischen Gewohnheiten auch einmal Abschied zu nehmen. Das Urteil „Sicherungsverwahrung II“, in dem der Zweite Senat eine Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs verarbeitet und seine Rechtsprechung änderte, ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel.

Nicht ganz so optimistisch bin ich in Bezug auf die die allgemeine Entwicklung der Verfassungsgerichtbarkeit in Europa. Einige Gerichte, wie das russische, das polnische oder das ungarische Verfassungsgericht, sind praktisch nicht mehr existent, andere, wie das bulgarische oder das türkische Verfassungsgericht, aber auch das spanische Verfassungsgericht sind aus unterschiedlichen Gründen institutionell angeschlagen. Schaut man dann noch in die USA und nach Südamerika, so bekommt man schnell den Eindruck, dass die Verfassungsgerichtbarkeit allgemein unter Druck geraten ist. Dazu passt es, dass in den letzten Jahren vor allem angloamerikanische Rechtswissenschaftler unter Hinweis auf das Demokratieprinzip radikale Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit geübt haben und ihre Legitimität bestreiten. In der weltweit zu beobachtenden „Renaissance des politischen Autoritarismus“ könnte aber auch eine Chance der Bewährung liegen. Verfassungsgerichte sind in besonderer Art und Weise dafür geeignet, den politischen Diskurs offen und durchlässig zu halten und totalitären Tendenzen entgegenzuwirken. Genau um diese Herausforderung wird es in den nächsten Jahren gehen. Langfristig ist der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat ohne eine funktionsfähige Verfassungsgerichtbarkeit wohl nicht aufrechtzuerhalten. Der Hinweis auf die Schweiz und das Vereinigte Königreich vermag diese These jedenfalls nicht zu widerlegen: Die Schweiz verfügtmit demBundesgericht über eine – wie Giovanni Biaginni es formuliert – „durchaus respektable Verfassungsgerichtsbarkeit“, und der UK Supreme Court ist ebenfalls dabei, sich zu einem Verfassungsgericht zu entwickeln. Was Verfassungsgerichte aus ihren Möglichkeiten machen, ob sie im Kampf mit anderen Kräften bestehen, liegt aber nicht zuletzt an den Persönlichkeiten, die dort arbeiten und die Institution nach außen verkörpern. Verfassungsgerichte bleiben daher fragile Institutionen.» (Seite 598)

Matthias Jestaedt, Freiburg i.Br., untersucht „Effektivität und Kohärenz des Menschenrechtsschutzes – Permanente Herausforderungen des EGMR im Wandel der Zeiten“

Der Autor, der zu den Referenten des Eröffnungskolloquiums der Kölner Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz gehört (s.o. S. 593), behandelt das Generalthema European Human Rights Protection – Twenty Years From Now bezogen auf den EGMR mit einem weiten Horizont, indem er als prägend hervorhebt: «Zukunft besitzt Herkunft (…). Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich das Schutzsystem der EMRK in 20 Jahren darbieten könnte, kann es hilfreich sein, zu fragen, wie es sich vor 20 Jahren – oder genauer: in den letzten 20 Jahren – dargeboten hat. Wir versuchen also, aus der für uns überblickbaren Phase von 2002 bis 2021 die gleichlange Folgephase von 2022 bis 2041 tentativ zu extrapolieren.»

Jestaedt widmet sich zunächst der Rechtsschutz-Infrastruktur, um sich dann mit zwei Dekaden von Reformen zu befassen, die er auf der Basis detaillierter Statistiken und Konventionsergänzungen beschreibt: «Aus der Fülle der kontinuierlichen Veränderungen, die sich im institutionellen Setting und im Arbeitsablauf des Gerichtshofs ereigneten, seien herausgegriffen: Neben der Einrichtung einer fünften Sektion und damit einer weiteren Kammer (2006) trat mit dem Einzelrichter (ab 2010) eine neue Richterformation hinzu; im Zusammenhang damit ist der Transfer der Zulässigkeitsprüfung von der administrativen, präjudiziellen Phase auf die judicial stage zu erwähnen. Die Kanzlei wurde in beträchtlichem Maße personell aufgestockt und mit weitreichenden rechtsprechungsvorbereitenden, -unterstützenden und -aufbereitenden Aufgaben versehen; mit dem Jurisconsult verfügt die Kanzlei überdies über ein Organ, das eigens dazu bestimmt ist, die Qualität und Konsistenz des Fallrechts des Gerichtshofs sicherzustellen. Eine priority policy (2009) wurde ebenso eingeführt wie die filtering section für Verfahren gegen die fünf sogenannten high case-count countries (Russland, Türkei, Rumänien, Ukraine, Polen) (seit 2011), eine weitere Entlastung bringt das erstmals 1994 im Fall Broniowski gegen Polen zur Anwendung gebrachte Piloturteilsverfahren und jüngst (2021) eine übergreifende case-processing strategy. Derzeit (bis in den Herbst 2023) läuft der Versuch des sogenannten Summary-formula judgments. Seit Oktober 2022 ist eine Knowledge Sharing (KS) platform nun auch allgemein zugänglich. Bei aller Unvollständigkeit der Aufzählung dürfen die beständige Perfektionierung der im November 1998 eingeführten Dokumentationsplattform HUDOC sowie die stets weiterentwickelten Instrumente eines digitalen Dialogs der unterschiedlichen Einheiten des EGMR untereinander sowie mit den Konventionsstaaten nicht unerwähnt bleiben, zumal deren Bedeutung für die Effektivität und die Kohärenz der Rechtsprechung (sowie deren Proliferation) kaum überschätzt werden kann.»

Zur Rechtsprechung sensu strictu hält Jestaedt fest: «Die Zahl jeweils neuer, auch wegweisender Urteile ist immens, und die die Kohärenz des case-law herstellenden Bezugnahmen spinnen ein enges Netz insbesondere der rezentesten eigenen Rechtsprechung. Hier vollziehen sich, aufs Ganze gesehen, mehr Entwicklungen in Sachen Menschenrechtsschutz als anderswo im Verfassungsgerichtsverbund.» (Seite 602)

Thomas Markert, Straßburg: „Die Venedig-Kommission des Europarats – Vom Beratungsgremium zum Akteur der Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie (1990-2022)“

Die hier vorgelegte Gesamtdarstellung der Arbeit und Wirkungsweise der Venedig-Kommission stammt aus der Feder eines Autors, der aus jahrzehntelanger eigener Erfahrung und inzwischen auch mit einer gewissen Distanz ans Werk gegangen ist (Markert war von 2010-2020 Leiter des Sekretariats der Kommission und zuvor bereits seit 1992 dort tätig).

Nach einer Einleitung und Hinweisen auf Gründung, Mandat und Arbeitsweise der Institution (deren Dokumente tragen die Abkürzung CDL nach der vollständigen engl. bzw. franz. Bezeichnung: European Commission for Democracy through Law / Commission européenne pour la démocratie par le droit) sieht der Beitrag folgende weitere Gliederungspunkte vor:

– Die Rolle der Kommission bei der Ausarbeitung der neuen Verfassungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs

– Der Schutz des demokratischen pluralistischen Systems

– Freie und faire Wahlen

– Minderheitenschutz, territoriale Organisation und Integrität

– Schutz der Grundrechte

– Verfassungsgerichtsbarkeit

– Der Kampf um den Rechtsstaat

– Die geographische Ausdehnung der Kommission

– Bilanz und Ausblick

Markert zieht folgende Bilanz: «Während die Kommission in Westeuropa weniger bekannt ist, genießt sie in der Öffentlichkeit der Länder, in denen sie regelmäßig tätig ist, großes Ansehen. Auch deshalb lehnen die betroffenen Regierungen die Empfehlungen der Kommission selten – wie im Falle Polens geschehen (siehe bei Fn. 161, S. 627 f.) – schroff ab, sondern versuchen meist diese teilweise umzusetzen, auch wenn sie unwillkommen sind, wobei sie oft dazu neigen, die Gutachten recht eigenwillig zu interpretieren. Wenn Staaten die Empfehlungen der Kommission im Prinzip akzeptieren, steigert dies sowohl national als auch international ihren guten Ruf als Staaten, die im Einklang mit den Grundwerten des Europarats handeln wollen. (…)

Die Kommission hat auch einen wichtigen Beitrag zur internationalen Vernetzung der Verfassungsgerichte geleistet und damit deren Rolle gestärkt.

Formell ist die Kommission keine Monitoring- oder Kontrollinstanz und ihre Gutachten sind unverbindliche Empfehlungen. De facto ist es aber für europäische Staaten, wenn sie an einer weiteren Integration in Europa interessiert sind, schwierig oder unmöglich, diese Empfehlungen zu ignorieren. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats fordert die Staaten regelmäßig auf, ihren Empfehlungen zu folgen, und auch das Ministerkomitee tut dies zunehmend. Der EGMR zitiert die Kommission immer öfter und ein Staat, der ihre Empfehlungen umsetzt, vermindert das Risiko, vom EGMR verurteilt zu werden.

Noch bedeutsamer ist, dass die Europäische Union regelmäßig Staaten auffordert, die Kommission zu konsultieren und ihre Empfehlungen umzusetzen. Dies betraf anfangs im Wesentlichen die Kandidaten für eine Mitgliedschaft in der EU, mittlerweile aber auch Mitgliedstaaten wie Polen. Signifikant ist auch, dass die USA – ein Land, das sich ungern völkerrechtlich bindet – dem Teilabkommen beigetreten sind und ebenfalls häufig Staaten zur Umsetzung der Empfehlungen der Kommission drängen. Wenn der IWF Kredite an ein Land von der Umsetzung der Empfehlungen der Kommission abhängig macht, wie im Fall des Antikorruptionsgerichts in der Ukraine implizit geschehen, verlieren ihre Empfehlungen ihren unverbindlichen Charakter.

Die Gründe für diesen Erfolg sind zum einen struktureller Art. Als Institution des Europarats, der Organisation, die wie keine andere für die Grundwerte der Demokratie, des Rechtsstaats und des Schutzes der Menschenrechte steht, profitiert sie nicht nur vom institutionellen Rahmen, sondern auch vom Prestige dieser Organisation. (…)

Die Kommission war auch stets offen für die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, insbesondere der EU, der OSZE und den USA und hat dies als Chance erkannt, ihren Einfluss zu steigern. Sie war bereit, auf neue Herausforderungen, insbesondere die Korruption in der Justiz, einzugehen und in diesem Zusammenhang notwendige, aber strikt begrenzte Ausnahmen von wichtigen Grundsätzen wie der Unabsetzbarkeit der Richter zu akzeptieren.

Die Kommission ist allerdings, schon aufgrund ihrer beschränkten Ressourcen, nicht in der Lage, die Umsetzung der Verfassung und der Gesetze auf nationaler Ebene in ihren Gutachten systematisch zu beurteilen, auch wenn sie sich stets bemüht, gewonnene Erkenntnisse aus der Praxis bei der Interpretation von Regelungen zu berücksichtigen. Es ist nicht zu verkennen, dass auch in Ost- und Südosteuropa die Texte der Verfassungen und Gesetze weitgehend internationalen Standards entsprechen, es bei der Umsetzung aber noch deutliche Defizite gibt.

Die Welle des Populismus stellt die Kommission vor neue Herausforderungen, bestätigt aber die Wichtigkeit ihrer Rolle. Demokratie durch Recht ist das Gegenteil einer „winner takes all“-Mentalität, die der augenblicklichen Mehrheit alle Rechte gibt. Die Kommission hat stets die Bedeutung von Verfahrensregeln und Institutionen betont und die Verfassungsgerichte als privilegierte Partner der Kommission sind auf staatlicher Ebene diejenige Institution, deren Aufgabe es ist, den Respekt vor Regeln und Institutionen durchzusetzen. Das Umfeld für die Kommission ist durch den Populismus schwieriger geworden, gleichzeitig hat aber ihre Rolle eine neue Aktualität gewonnen.» (Seite 608)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt ein aus Sicherheitsgründen verhängtes Verbot der Nutzung eines eigenen Computers für Strafgefangenen / Roth gegen Deutschland

«Die innerstaatlichen Gerichte legten detailliert dar, dass die Möglichkeit, Daten auf dem Computer zu speichern, zu Sicherheitsrisiken führe, da Informationen zu illegalen Aktivitäten oder Fluchtrouten zwischen Personen innerhalb und außerhalb der Haftanstalt ausgetauscht werden könnten. Sie erläuterten, dass die notwendigen Kontrollen der Computer der Gefangenen in der Praxis nicht umsetzbar seien. Weiterhin prüften sie, welche alternativen Mittel dem Bf. zur Korrespondenz mit Behörden und Gerichten zur Verfügung standen oder angeboten wurden, nämlich die Nutzung einer manuellen oder elektrischen Schreibmaschine.»

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung der Korrespondenz). Verweis auf Nutzung einer Schreibmaschine keine unzulässige Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht (Art. 6 EMRK). (Seite 637)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, sieht in dem massiven Zustrom von Ausländern (hier: in Litauen aus Belarus) keine Rechtfertigung, es illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen de facto unmöglich zu machen, internationalen Schutz zu beantragen / Vorlage aus Litauen

Auch widerspricht es bei dieser Sachlage (Erklärung einer Notlage bzw. Verhängung des Ausnahmezustands) dem Unionsrecht, dass ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, weil er sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält. (Seite 638)

EuGH zum Stellenwert geheimdienstlicher Informationen im Asylverfahren / Vorlage aus Ungarn RL 2013/32 i.V.m. RL 2011/95 ist dahin auszulegen, «dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Asylbehörde systematisch verpflichtet ist, dann, wenn mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betraute Fachbehörden mit einer nicht begründeten Stellungnahme festgestellt haben, dass eine Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, auf der Grundlage dieser Stellungnahme diese Person von der Gewährung subsidiären Schutzes auszuschließen bzw. einen dieser Person zuvor gewährten internationalen Schutz abzuerkennen». (Seite 646)

EuGH (GK) zu Kriterien für Auslistung bei einer Suchmaschine wegen Unrichtigkeit angezeigter Informationen / Pflichten und Verantwortungsbereich des Betreibers der Suchmaschine / Beweislast der die Auslistung begehrenden Person bei Anzeige eines Links zu angeblich unrichtigen Informationen / Rs. TU, RE gegen Google Die Auslistung hängt nicht davon ab, dass «die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines (…) gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist.» (Seite 653)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer) zu Rassendiskriminierung und Meinungsäußerungsfreiheit / Definition der Begriffe „Fahrende“ und „Zigeuner“ Das BGer bestätigt Verurteilung zu bedingten Geldstrafen der Urheber eines abstoßend bebilderten Wahlkampfaufrufs im Internet („Transitplätze für Zigeuner verhindern“): «Mit der Kernbotschaft, wonach „ausländische Zigeuner“ generell unhygienisch, ekelerregend und kriminell seien, stellt der fragliche Beitrag aber nicht bestehende Missstände sachbezogen in den Vordergrund, sondern nimmt vielmehr eine pauschale Verunglimpfung und Herabsetzung der betroffenen Gruppe vor.» (Seite 663)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, beanstandet die Übermittlungspflicht personenbezogener Daten, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, für die Zusammenarbeit der Behörden des Bundes und der Länder in § 20 Bundesverfassungsschutzgesetz als teilweise nicht hinreichend normenklar gefasst / Neuregelung bis Ende 2023

«Die Normenklarheit setzt der Verwendung gesetzlicher Verweisungsketten Grenzen, steht dieser aber nicht grundsätzlich entgegen. Bei der Normierung sicherheitsrechtlicher Datenverarbeitungen kann es zweckdienlich sein, auf Fachgesetze zu verweisen, in deren Kontext Auslegungsfragen – anders als bei heimlichen Maßnahmen – im Wechselspiel von Anwendungspraxis und gerichtlicher Kontrolle verbindlich geklärt werden können.» (Seite 667)

BVerfG erklärt ausnahmsloses Verbot von Windenergieanlagen in Thüringer Waldgebieten für verfassungswidrig

§ 10 Abs. 1 Satz 2 Thüringer Waldgesetz verletzt das Eigentumsrecht der Waldbesitzer und ist mit der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern unvereinbar und deshalb nichtig. (Seite 682)

BVerfG beanstandet die verminderte Sonderbedarfsstufe für alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftseinrichtungen (§ 2 Asylbewerberleistungsgesetz) als verfassungswidrig

Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung wird eine Übergangsregelung angeordnet. (Seite 693)

BVerfG zum NSU-Prozess / Vb der Beschwerdeführerin Beate Z. gegen Strafurteil wegen mittäterschaftlicher Beteiligung an mehreren Mordtaten einer rechtsterroristischen Vereinigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe nicht zur Entscheidung angenommen. (Seite 705)

BVerfG nimmt Vb gegen Entzug wesentlicher Teile des elterlichen Sorgerechts wegen des Verdachts von erheblichen Körperverletzungen zum Nachteil des betroffenen Kindes im elterlichen Haushalt nicht zur Entscheidung an

Es handelt sich um ein am 29. August 2017 geborenes Kind, das am 17. September 2017 im Haushalt seiner Eltern einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste. Am 14. November 2017 wurden bei einer Untersuchung des Kindes Anzeichen für ein Schütteltrauma dokumentiert. «Das Oberlandesgericht hat ohne erkennbare verfassungsrechtlich relevante Fehler festgestellt, dass das Kind durch ein schweres Erziehungsversagen und eine bewusst gesteuerte Handlung des Beschwerdeführers zu 1) am 17. September 2017 einen Spiralbruch des Oberschenkels (a) und dass es durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein Subduralhämatom (b) erlitten hat. Die Beschwerdeführenden legen auch nicht dar, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung, insbesondere durch Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens, erfolgversprechend gewesen wäre (c).» (Seite 712)

EGMR-Präsident Spano beschreibt vor dem Ministerkomitee des Europarats die leitenden Grundsätze für die Aufarbeitung der über 17.000 gegen Russland anhängigen Fälle

«Erstens möchte ich betonen, dass der Gerichtshof getreu seiner Aufgabe fortfahren wird sicherzustellen, dass die schwersten Menschenrechtsverletzungen durch die Russische Föderation Gegenstand einer richterlichen Überprüfung zum Nutzen der Opfer selbst und der internationalen Rechtsordnung sein werden. Es ist klar, dass das Konventionssystem auf dem Grundsatz basiert, dass ein früherer Mitgliedstaat wie Russland sich nicht rückwirkend von seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen befreien kann.» (Seite 718)

EGMR-Richterwahlen in Bezug auf Dänemark und Island vorerst gescheitert. (Seite 719)

EGMR erlässt einstweilige Maßnahmen zum Schutz von obdachlosen Asylbewerbern in Belgien

Es geht um bislang mehrere hundert Fälle, bei denen die Föderale Agentur für die Aufnahme von Asylbewerbern (Fedasil) mit der Überfüllung der Aufnahmeeinrichtungen argumentiert und sich ansonsten trotz verpflichtender Gerichtsentscheidungen in Schweigen hüllt. (Seite 720)