EuGRZ |
30. Dezember 2021
|
48 Jg. Heft 21-23
|
Informatorische Zusammenfassung
Lukas Claes und Johannes Weil, Leipzig, setzen sich detailliert und kritisch mit der „Strafbarkeit antireligiöser Rede in der Judikatur des EGMR“ auseinander
«Die Ansätze zur strafrechtlichen Behandlung antireligiöser Rede weichen in den Mitgliedstaaten der EMRK teils erheblich voneinander ab. Bisweilen zeichnen sich auch in derEGMR-Judikatur Ambivalenzen ab, die zulasten der von Art. 10 EMRK geschützten Meinungsfreiheit gehen. Die Urteile in den 2018 entschiedenen Fällen E.S. gegen Österreich und Mariya Alekhina u.a. gegen Russland (im Folgenden Pussy Riot), offenbaren unterschiedliche Tendenzen in der jüngeren Straßburger Rechtsprechung und geben daher Anlass, die einschlägige Judikatur einer kritischen Würdigung zu unterziehen.» In einem Zwischenergebnis halten die Autoren fest: «In der brisanten Diskussion um die Grenzen des Sagbaren wird zurecht der Schutz von Minderheiten hervorgehoben, denn besonders verächtliche oder aggressive Äußerungen können den gesellschaftlichen Zusammenhalt durchaus gefährden. Speziell die Aufstachelung zu Diskriminierung, Hass oder Gewalt führt nicht nur zu persönlichen Kränkungen im Einzelfall, sondern verursacht gesellschaftliche Zerwürfnisse, die sich gewaltvoll entladen können. Im Gegensatz zur lediglich gefühlsverletzenden Rede erscheint es in diesen extremen Fällen auch nicht ausgeschlossen, dass Gläubige in der Folge am Innehaben und Ausüben religiöser Überzeugungen gehindert werden und damit in ihrer Religionsfreiheit beeinträchtigt sein könnten. Ein dem vorgelagertes, bloß theoretisches Gefährdungspotential darf den demokratischen Diskurs hingegen nicht im Keim ersticken, denn die bisweilen verletzende Konfrontation mit Kritik – auch an den persönlich wichtigen Idealen – ist unvermeidlich im offenen Austausch verschiedener Meinungen und Ideen. Die Anerkennung eines besonderen Respekts für religiöse Überzeugungen im Sinne eines Eingriffsziels widerstrebt dem Menschenrecht der Meinungsfreiheit, das sich im historischen Kontext der Aufklärung konstituiert hat. Denn diese wurde erst ermöglicht durch eine Religionskritik, die bis dahin unumstößliche Dogmen hinterfragte. Eine hohe Verletzlichkeit von Gläubigen kann daher jedenfalls nicht einen über den Beleidigungsschutz hinausgehenden Schutz religiöser Gefühle rechtfertigen. Vor dem Hintergrund, dass der EGMR von einem autonomen und mündigen Grundrechtsträger ausgeht, ist dem ehemaligen Richter am EGMR De Meyer zuzustimmen, der in seinem Minderheitsvotum zu Wingrove gegen Vereinigtes Königreich bekräftigte, dass die Stärke des Glaubens die beste Rüstung gegen Spötter darstelle. Die Verortung eines Rechts auf Achtung religiöser Gefühle in Art. 9 EMRK, zu dessen Schutz in die Meinungsfreiheit eingegriffen werden darf, kann somit nicht überzeugen.» In ihrem Fazit führen Claes und Weil u.a. aus: «Mit welchen Zielen antireligiöse Rede als konventionsrechtlich geschützte Meinungsäußerung zulässigerweise beschränkt werden kann, vermag der EGMR in seiner Rechtsprechung nicht überzeugend zu bestimmen. Seit dem Urteil im Fall Otto-Preminger- Institut tritt der aus Art. 9 Abs. 1 EMRK abgeleitete Schutz religiöser Gefühle als legitimer Zweck hervor. Jedoch mangelt es dieser subjektiv geprägten und damit zwangsläufig unscharfen Konzeption an der gebotenen Rechtssicherheit, womit sie der freiheitssichernden Funktion der in Art. 10 Abs. 2 EMRK enumerierten Eingriffsziele nicht gerecht wird. Im Pussy Riot- Urteil bezieht der EGMR sich zwar nicht mehr explizit auf Art. 9 EMRK respektive den Schutz religiöser Gefühle. Allerdings bleibt die Bestimmung des legitimen Zwecks derart vage, dass dieses Erfordernis letztlich ebenso ausgehöhlt wird. (…) Im Übrigen stehen sich zwei unterschiedliche Ansätze in der Judikatur gegenüber: Auf der einen Seite die traditionelle Rechtsprechungslinie, welche von dem Urteil E.S. gegen Österreich fortgeführt wird und einen weiten Beurteilungsspielraum zugunsten des Religionsschutzes annimmt. Begrenzungen für Strafbarkeit und Strafmaß ergeben sich hiernach lediglich aus allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen. Dabei zeigen sich zumindest im Fall Aydın Tatlav gegen Türkei (2006) Ansätze der besonderen Beachtung eines strafrechtlichen Abschreckungseffekts mit Blick auf die Ausübung der Meinungsfreiheit; im Urteil Tagiyev u. Huseynov gegen Aserbaidschan klingt sogar die Subsidiarität strafrechtlicher Sanktionen an. Demgegenüber schränkt das Pussy Riot-Urteil (2018) den staatlichen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) durch die Bezugnahme auf internationale Standards ein und stellt zugunsten der Meinungsfreiheit klar, dass die Verhängung von Freiheitsstrafen nur ausnahmsweise hinzunehmen ist. Die im Pussy Riot-Urteil aufgestellte Schranken-Schranke für Freiheitsstrafen bildet dafür einen guten Ansatzpunkt, dessen Ausdehnung auf Geldstrafen keine gewichtigen Gründe entgegenstehen. Vielmehr gebietet es die Meinungsfreiheit als Existenzbedingung einer demokratischen Gesellschaft, dass auch Gläubige Kritik – ob nun sublim oder harsch – an ihren Überzeugungen und ihrem Handeln hinnehmen müssen.» (Seite 589)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, betont staatliche Handlungspflichten zum Schutz vor rufschädigenden Äußerungen im Internet und stellt Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) durch innerstaatliches Gerichtsurteil fest / Vacean gegen Rumänien
Der Bf. ist Musikprofessor und bewarb sich erfolgreich um die ausgeschriebene Stelle des Direktors der Philharmonie von Arad (Rumänien), einer öffentlichen Einrichtung. Kurz vor seiner Ernennung zum Philharmonie-Direktor tauchten im Internet unbewiesene Behauptungen auf, er sei vor Jahren beim Diebstahl eines Rückspiegels an einem Luxusauto gefilmt worden. Eine Vorstrafe hätte die Ernennung zum Philharmonie-Direktor nach rumänischem Recht unmöglich gemacht. Die zivilrechtliche Haftungsklage gegen den Vorsitzenden einer Künstlergewerkschaft (M.D.), der den Bf. in einem Interview als den Verdächtigen auf dem Video mit vollem Namen genannt hatte, sowie gegen mehrere Medien wegen der Veröffentlichung der diffamierenden Behauptung, er sei Objekt strafrechtlicher Ermittlungen wegen Diebstahls gewesen, war in der ersten Instanz erfolgreich, wurde in der zweiten Instanz jedoch vom Bezirksgericht Arad abgewiesen. Die allgemeinen Grundsätze seiner relevanten Rechtsprechung fasst der Gerichtshof folgendermaßen zusammen: «Die maßgeblichen Kriterien für den Ausgleich zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung sind insbesondere: der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, die Bekanntheit der Person, um die es geht, der Gegenstand der Reportage, das vorherige Verhalten der betroffenen Person, Inhalt, Form und Wirkung der Veröffentlichung sowie ggf. die Umstände des konkreten Falles (…). Wenn die Güterabwägung zwischen den genannten Rechten unter Beachtung dieser Kriterien vorgenommen wurde, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen, damit der Gerichtshof die Bewertung der innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene ersetzt.» Konkret bedeutet das: «Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bezirksgericht [zwei] Fragen nicht hinreichend geprüft hat, nämlich weder ob das Interview von M.D. und die umstrittenen Artikel wirklich einen Beitrag zu einer Frage von allgemeinem Interesse geleistet haben […] noch welcher Natur die Äußerungen von M.D. waren; schließlich hat das Bezirksgericht keine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Kriterien vorgenommen, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat in Bezug auf die Meinungsfreiheit von Journalisten und das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens […]. Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, die innerstaatlichen Behörden haben die ihnen gem. Art. 8 der Konvention obliegenden Schutzpflichten nicht erfüllt […].» (Seite 599)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Luxemburg, sieht durch Abordnung von Strafrichtern an ein Gericht höherer Ordnung mit Möglichkeit jederzeitiger Rückversetzung ohne Angabe von Gründen durch den Justizminister (in Polen) die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigt und damit den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verletzt / verb. Rsn. WB u.a.
Die Große Kammer (GK) befindet auf Vorabentscheidungsersuchen des Regionalgerichts Warschau in sieben Strafverfahren: «Die Mitgliedstaaten können zwar durchaus ein System anwenden, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend an ein anderes Gericht abgeordnet werden können (…).I Das Erfordernis der Unabhängigkeit verlangt aber, dass die Regelung betreffend die Abordnung der Richter die erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit bietet, um auszuschließen, dass eine solche Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird (…). Außerdem könnte der Umstand, dass die Abordnung eines Richters jederzeit und ohne allgemein bekannte Gründe widerrufen werden kann, beim abgeordneten Richter auch das Gefühl hervorrufen, dass er den Erwartungen des Justizministers entsprechen muss, was bei den Richtern selbst den Eindruck entstehen lassen könnte, dass sie dem Justizminister „unterstehen“, was nicht mit dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter vereinbar wäre. Schließlich ist festzustellen, dass für einen Richter die Beendigung seiner Abordnung ohne seine Zustimmung Wirkungen haben kann, die mit denen einer Disziplinarstrafe vergleichbar sind. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUVverlangt, dass die entsprechende Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, um auszuschließen, dass eine solche Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird, was insbesondere voraussetzt, dass die Maßnahme vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden kann, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verbürgten Rechte in vollem Umfang gewährleistet.» (Seite 604)
EuGH (GK) bewertet die Pönalisierung der Unterstützung bestimmter Asylbewerber als Verstoß gegen Unionsrecht / Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Ungarn
Grundlage der Entscheidung ist die abschließende Aufzählung der Gründe für die Ablehnung von Anträgen auf internationalen Schutz und die Definition „sicherer Drittstaaten“ im EU-Recht. Verstöße gegen das Unionsrecht liegen darin, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nach dem neuen ungarischen Recht deshalb als unzulässig abgelehnt wird, weil der Antragsteller über einen Staat, in dem er keiner Verfolgung ausgesetzt ist und in dem für ihn nicht die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist, in sein Hoheitsgebiet eingereist ist; des Weiteren darin, dass Ungarn in seinem innerstaatlichen Recht das Verhalten einer jeden Person, die im Rahmen einer Organisationstätigkeit Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags in seinem Hoheitsgebiet gewährt, mit Strafe bedroht, wenn jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person wusste, dass der Antrag nach dem innerstaatlichen Recht keine Aussicht auf Erfolg hatte, und schließlich darin, dass jeder Person, die einer solchen Straftat verdächtigt wird, das Recht genommen wird, sich Außengrenzen des Landes zu nähern. Im Übrigen wird die Klage der Kommission abgewiesen, so dass Ungarn nur vier Fünftel der Verfahrenskosten zu tragen hat, die Kommission den Rest. (Seite 612)
EuGH (GK) erklärt Disziplinarverfahren gegen Richter (hier: in Ungarn) wegen Vorlage an den EuGH für EU-rechtswidrig / Rs. IS
Außerdem kann ein nationales Höchstgericht ein untergeordnetes Gericht nicht mit der Behauptung der Unerheblichkeit bzw. Nichterforderlichkeit der Vorlagefragen zu einem Verzicht auf die Anrufung des EuGH zwingen. Und schließlich kann in einem Strafverfahren (wegen Verstoßes gegen ungarisches Waffenrecht) gegen einen Ausländer (hier: Schwede mit türkischer Herkunft) bei zweifelhafter Dolmetschleistung im Strafverfahren keine Verurteilung in Abwesenheit erfolgen. (Seite 626)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, beurteilt Corona-bedingte Beschränkungen in den Kantonen Bern, Uri und Schwyz
- Bern – Die Beschränkung der Teilnehmerzahl an politischen Kundgebungen auf 15 Personen ist verfassungswidrig:
«Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Kundgebungen, insbesondere solche, die in der Bundesstadt Bern durchgeführt werden, erfahrungsgemäss in der Regel auf öffentlichem Grund stattfinden und daher bewilligungspflichtig sind (…). Im Bewilligungsverfahren sind nicht nur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit einer Kundgebung, sondern ebenso sehr die Randbedingungen, allfällige Auflagen und eventuelle Alternativen zu prüfen (…). Zudem kann eine dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit genügende Gestaltung eine entsprechende verhältnismässige Mitwirkung der Veranstalter erfordern (…). Im Bewilligungsverfahren kann somit eine umfassende Interessenabwägung, unter Einbezug epidemiologischer Gesichtspunkte, vorgenommen werden, und es können, je nach Art der Veranstaltung (Umzug, Platzkundgebung, etc.), weitere Auflagen angeordnet werden. Dabei haben die Behörden auch dem legitimen Bedürfnis, Veranstaltungen mit Appellwirkung an eine breite Öffentlichkeit durchführen zu können, angemessen Rechnung zu tragen (…). Demgegenüber darf für die Zulassung bzw. Einschränkung vonVersammlungen nicht massgebend sein, ob ihr Ziel den zuständigen Behörden mehr oder weniger wertvoll erscheint (…). Im Ergebnis ist die hier strittige Beschränkung der Anzahl der Teilnehmenden an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 15 Personen aufgrund des Umstandes, dass das gesundheitspolizeiliche Ziel mit milderen Massnahmen erreicht werden kann und angesichts des hohen öffentlichen Interesses an Kundgebungen weder erforderlich noch zumutbar. Die angefochtene Verordnungsbestimmung stellt einen unverhältnismässigen und somit unzulässigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 22 i.V.m. Art. 36 Abs. 3 BV) dar und erweist sich als verfassungswidrig.» (Seite 640)
- Uri – Beschränkung der Teilnehmerzahl an politischen Kundgebungen auf 300 ist verfassungskonform:
«Wenn der Regierungsrat die Teilnehmerzahl auf 300 begrenzt hat, so hat er damit das akzeptable Risiko in zulässiger Weise festgelegt. Den Kantonen ist es nicht verwehrt, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aus sachlich haltbaren Gründen eine andere Risikobeurteilung vorzunehmen und dementsprechend strengere risikoreduzierende Massnahmen anzuordnen als andere Kantone oder der Bund; dies ist keine Verletzung der Rechtsgleichheit, sondern vielmehr Konsequenz des Föderalismus (…). Durch die Begrenzung der Teilnehmerzahl auf 300 Personen wird die Versammlungsfreiheit zwar eingeschränkt, jedoch nicht ihres Gehalts entleert bzw. ausgehöhlt.» (Seite 648)
- Schwyz – Beschränkung der Teilnehmerzahl an Veranstaltungen auf 10 bzw. 30 Personen und Maskentragepflicht verfassungskonform:
«Es muss ausreichen, dass eine hinreichende Plausibilität für eine (…) Wirksamkeit besteht (…). Geht man davon aus, dass die Einschränkung zwischenmenschlicher Kontakte die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen reduziert (…), ist plausibel, dass ohne die angeordneten Massnahmen die (Über-)Sterblichkeit und die Belastungen der Spitäler höher gewesen wären. (…) Immerhin war aber der Regierungsrat offensichtlich bemüht, die negativen Auswirkungen zu begrenzen: So werden bei der Limitierung der Personen in § 5 Abs. 2 bzw. 1 der Verordnung (in den Fassungen vom 25. bzw. 30. Oktober 2020) diejenigen Personen nicht mitgezählt, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit oder bei der Durchführung von Veranstaltungen mitwirken. In denErwägungen zu denVerordnungsänderungen vom25. und 30. Oktober 2020 wird zudem ausgeführt, Messen, Gewerbeausstellungen und Märkte (ausgenommen Jahrmärkte) seien nicht als Veranstaltungen zu qualifizieren und würden nicht den Vorgaben zur Maximalzahl anwesender Personen unterliegen. Damit werden die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Massnahme erheblich reduziert. Sodann waren gemäss der Fassung vom25.Oktober 2020 politische Versammlungen der Legislativen auf kantonaler und kommunaler Ebene sowie politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen und Unterschriftensammlungen von der Beschränkung der Personenzahl ausgenommen, was die Schwere der Grundrechtseinschränkung weiter reduziert. Die Fassung vom30.Oktober 2020 verweist bezüglich solcherAnlässe auf die bundesrechtlicheVerordnung, die hier nicht zu überprüfen ist.» Zur Maskenpflicht wird auf ein Urteil des BGer vom 8. Juli 2021 (in Französisch ergangen) verwiesen. (Seite 654)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Pandemie-bedingte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen hier für grundrechtskonform und hält umfassende Ausgangsbeschränkungen nur in äußerster Gefahrenlage für zulässig / Bundesnotbremse I
Die erfolglosen Verfassungsbeschwerden richten sich gegen einzelne durch das am 23. April 2021 in Kraft getretene Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (BGBl I S. 802) in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) eingefügte Bestimmungen. EuGRZ 2021 – Informatorische Zusammenfassungen – 48. Jg. Heft 21-23 II Die Leitsätze zu dem vom Ersten Senat einstimmig gefassten Beschluss lauten: «1. Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen als Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie müssen den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Einschränkung von Grundrechten in jeder Hinsicht genügen. 2. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt familienähnlich intensive Bindungen auch jenseits des Schutzes von Ehe und Familie. In seiner Ausprägung als umfassende allgemeine Handlungsfreiheit schützt dieses Grundrecht die Freiheit, mit beliebigen anderen Menschen zusammenzutreffen. In seiner Ausprägung als allgemeines Persönlichkeitsrecht schützt das Grundrecht davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird; anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung. 3. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG schützt die gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit. Sie setzt in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können; subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicherWille. a) In die Fortbewegungsfreiheit kann auch durch allein psychisch vermittelt wirkenden Zwang eingegriffen werden. Dieser muss nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar sein. b) Ein Gesetz, das unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in die Fortbewegungsfreiheit eingreift, kann den Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG genügen. c) Umfassende Ausgangsbeschränkungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht.» In der Begründung wird ausgeführt: «Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig erhoben worden sind, haben sie in der Sache keinen Erfolg. Weder die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen und deren Bußgeldbewehrung (I) noch die Ausgangsbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG und der damit korrespondierende Ordnungswidrigkeitentatbestand verletzten die Beschwerdeführenden in ihren Grundrechten (II). Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen griffen zwar sowohl in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG als auch in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein. Einen weiteren Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG bewirkte zudem die Bußgeldbewehrung von Verstößen gegen die Kontaktbeschränkungen durch § 73 Abs. 1a Nr. 11b IfSG (1). Die Eingriffe waren jedoch formell (2) sowie materiell verfassungsgemäß (3) und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt.» (Seite 659)
BVerfG entwickelt grundrechtliche Kriterien für die (hier gegebene) Zulässigkeit von Schulschließungen und setzt sich mit den Gewährleistungsdimensionen des Rechts von Kindern und Jugendlichen auf schulische Bildung sowie mit unverzichtbaren Mindeststandards auseinander / Bundesnotbremse II
Die vom Ersten Senat auch hier durch einstimmig gefassten Beschluss zurückgewiesenen Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Verbot und Beschränkung von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen zum Infektionsschutz in Gestalt eines Gebots von Wechselunterricht (Wechsel von Präsenzunterricht in der Schule und Distanzunterricht zuhause) oder einer vollständigen Untersagung des Präsenzschulbetriebs. Die Leitsätze lauten: «1. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). 2. Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen: a) Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen. b) Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt zudem ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems. c) Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das in Ausgestaltung des Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches zu verändern. 3. Entfällt der schulische Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung für einen längeren Zeitraum, sind die Länder nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet. 4. Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona- Pandemie muss der Gesetzgeber seinen Entscheidungen umso fundiertere Einschätzungen zugrunde legen, je länger die zur Bekämpfung der Gefahr ergriffenen belastenden Maßnahmen anhalten. Allerdings dürfte der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug dazu beigetragen hat, dass freiheitsschonendere Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren erforscht wurden. 5. Eine die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates gemäß Art. 104a Abs. 4 GG auslösende bundesgesetzliche Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten liegt nur dann vor, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezweckt, Dritten individuelle Vorteile durch staatliche Leistungen zu verschaffen.» In der Begründung heißt es: «Zwar ist das Recht auf schulische Bildung grundrechtlich geschützt. Das Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG verletzte jedoch nicht das Recht auf schulische Bildung der beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler (I.). Es verletzte auch nicht das Recht der Beschwerdeführerin zu 1. im Verfahren (…) auf freie Bestimmung des Bildungsganges ihres Sohnes (II.) oder das von dem Beschwerdeführer zu 1. und der Beschwerdeführerin zu 2. als Eltern schulpflichtiger Kinder im Verfahren (…) geltend gemachte Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG (III.). Das Verbot von Präsenzunterricht griff in das nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG geschützte Recht auf schulische Bildung ein (1). Der Eingriff war jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil die angegriffene Regelung sowohl formell (2) als auch materiell (3) verfassungsgemäß war.» (Seite 694)
BVerfG nimmt Vb. von außerhalb Berlins wohnenden AfD-Abgeordneten wegen angeblicher Verhinderung der Teilnahme an der Kanzler-Wahl durch die InfektionsschutzmaßnahmenVO des Landes Berlin (2G-Regel in Hotels: Geimpft, Genesen) nicht zur Entscheidung an
Die 1. Kammer des Zweiten Senats beanstandet die Nichterschöpfung des Rechtsweges sowie die nicht hinreichende Begründung der Vb. und verweist auf Ausnahmen von der 2G-Regel in Hotels im benachbarten Brandenburg mit der dadurch gegebenen Ausweichmöglichkeit. (Seite 719)
EGMR-Richterwahlen –
Michail Borisowich Lobow (Russe), Katerˇina Šimácˇková (Tschechin), Diana Sârcu (vorm. Scobioala˘ ) (Moldauerin) neu in den EGMR gewählt / Ukrainische Liste zurückgewiesen (Seite 722)
Ministerkomitee des Europarats (MK), Straßburg, notifiziert der türkischen Regierung mit 2/3-Mehrheit beschlossene förmliche Warnung wegen Missachtung des Kavala-Urteils des EGMR (Art. 46 Abs. 4 EMRK)
Der EGMR hatte in dem genannten Urteil am 10. Dezember 2019 entschieden, der Bf. sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen und die gegen ihn eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren seien zu beenden. Die Untersuchungshaft des Bf. (Festnahme am 18. Oktober 2017) sei ohne hinreichende Beweise für die erhobenen Tatvorwürfe (Versuch eines gewaltsamen Umsturzes) erfolgt und diene in Wirklichkeit dem Zweck, ihn mundtot zu machen sowie andere Menschenrechtsverteidiger einzuschüchtern (Art. 18 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 EMRK). Die Fortdauer der Haft sei eine Fortsetzung der Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 18 EMRK. Die Regierung in Ankara riskiert nach diesem (seltenen) Beschluss des Ministerkomitees mittelfristig Sanktionen von der Aberkennung der Stimmrechte im MK bis zum (im Extremfall) Ausschluss aus dem Europarat. (Seite 724)