EuGRZ 2018 |
19. Dezember 2018
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45 Jg. Heft 21-23
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Informatorische Zusammenfassung
Lukas Staffler, Zürich, setzt sich mit „Verfassungsidentität und strafrechtlicher Verjährung“ in Italien auseinander
Er zeichnet den Konflikt zweier Höchstgerichte (EuGH und itVerfGH) in der Rechtssache Taricco nach und kommentiert dessen „(vorläufiges) Ende“. Problem ist die unterschiedliche Länge von Verjährungsfristen bei Mehrwertsteuerbetrügereien – ist deren Folge ein finanzieller Nachteil des italienischen Staates, sind sie länger; geht es um einen finanziellen Nachteil der EU, sind sie kürzer.
Das sich entwickelnde Gesamtbild umschreibt der Autor so: «Nachdem 2015 das Urteil des EuGH in der Rechtssache Taricco erging, sorgte dessen Rezeption in Italien für erhebliche Spannungen. Alsbald bot sich dem italienischen Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale) Gelegenheit, im Wege eines Normkontrollverfahrens die Taricco-Inhalte zu prüfen. Die römischen Verfassungsrichter entschieden, eine Lösung im Dialog mit dem EuGH zu entwickeln. Gleichzeitig zeigten sie sich von der Verfassungswidrigkeit des Taricco-Urteils überzeugt und forderten dessen Revision. 2017 antwortete der EuGH in seinem M.A.S.-Urteil [vom 5.12.2017, EuGRZ 2018, 29] auf die Vorlage des italienischen Verfassungsgerichtshofs. Mit dem Urteil Nr. 115 von 2018 [EuGRZ 2018, 685 (in diesem Heft)] hat nun die Corte costituzionale die causa Taricco zum Abschluss gebracht. Damit wurde die Rechtssache zwar formell beendet, doch der Urteilstenor lässt genügend Raum für eine abermalige Fortsetzung des Dialogs der Höchstgerichte in dieser Angelegenheit.»
Der EuGH hatte dem nationalen Richter im Taricco-Urteil vom 8.9.2015 aufgegeben, um Betrugsfälle zum Nachteil der Union wirksam und abschreckend zu ahnden, nötigenfalls entgegenstehende nationale Vorschriften (wie hier Verjährungsvorschriften) unangewendet zu lassen.
«Während die höchstrichterliche Rechtsprechung vereinzelt den Vorgaben des Taricco-Urteils unbeanstandet Folge leistete, riefen wenige Tage nach dem Taricco-Urteil das Berufungsgericht Mailand und ein halbes Jahr später der Oberste Kassationsgerichtshof den itVerfGH im Zuge eines sog. indirekten Normenkontrollverfahrens an, weil sie die Auffassung vertraten, dass der im Taricco-Urteil aufgestellte Prüfungsauftrag der Gerichte im jeweiligen anhängigen Strafverfahren grundsätzlich Anwendung finden sollte, aber Zweifel an der Verfassungskonformität dieser unionsrechtlichen Vorgabe bestehen.
Der itVerfGH nahm die Erwägungen der beiden Vorlagegerichte auf, entschied jedoch nicht selbst in der Sache, sondern initiierte ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zum Zwecke der (Neu-)Ausrichtung des Taricco-Urteils. De facto – das lässt sich der Begründung des Vorlagebeschlusses deutlich entnehmen – ging es dem itVerfGH darum, den EuGH dazu zu bringen, die Inhalte seines Taricco-I-Urteils zu revidieren. Hierfür skizzierte der itVerfGH im Vorlagebeschluss mögliche Lösungswege auf Basis des Unionsrechts.
Gleichzeitig drohte der itVerfGH mit einem Controlimiti-Verfahren, sollte der EuGH von seiner bisherigen Position nicht abrücken. Auch wenn der itVerfGH nicht ausdrücklich den Terminus „controlimiti“ verwendete, war seine Sprache doch klar: „Sollte die Anwendung von Artikel 325 AEUV [Schutz der finanziellen Interessen der Union] zur Aufnahme einer dem Legalitätsgrundsatz in Strafsachen zuwiderlaufenden Regel in die Rechtsordnung führen, wie dies die vorlegenden Gerichte behaupten, wäre der Verfassungsgerichtshof verpflichtet, dies zu verhindern.“ Controlimiti bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Rechtsnormen außerhalb der nationalen Rechtsordnung nur dann im innerstaatlichen Recht rezipiert werden dürfen, wenn sie nicht den obersten Grundsätzen der italienischen Verfassungsordnung und den Grundrechten der Person entgegenstehen. Würde ein derartiger Widerspruch einer unionsrechtlichen Vorschrift bzw. einem Judikat des EuGH mit der italienischen Verfassungsidentität vorliegen, so würde der itVerfGH mit dem Controlimiti-Verfahren die Verfassungswidrigkeit des italienischen Ratifikationsgesetzes für jenen Teil feststellen, der die Implementierung der verfassungswidrigen Unionsvorschrift bzw. des konkreten verfassungswidrigen EuGH-Judikats gebieten würde.»
Der EuGH kam der Corte costituzionale ein Stück weit entgegen. «Der EuGH hob auch die Verpflichtung der Tatgerichte zur Nichtanwendung nationaler Vorschriften auf, wenn diese Nichtanwendung gegen den Legalitätsgrundsatz in Strafsachen verstoßen würde – selbst, wenn dadurch einer nationalen Sachlage abgeholfen werden könnte, die mit dem Unionsrecht unvereinbar wäre; zugleich betont der EuGH die Rolle des Gesetzgebers, der tätig werden müsse.»
Staffler zieht in dieser vielschichtigen Lage u.a. die folgende Quintessenz: «Die Taricco-Regel ist nach Ansicht des itVerfGH grundsätzlich und ausnahmslos im italienischen Recht nicht anwendbar.
Damit liegt wohl erneut ein Widerspruch zwischen der Auffassung des EuGH und jenem eines nationalen Gerichts vor, der in naher Zukunft im Dialog der Höchstgerichte gelöst werden muss. Deshalb scheint es, als wäre in der Rechtssache Taricco das letzte Kapitel noch nicht geschrieben worden. Möglicherweise wird das Höchstgericht der Europäischen Union jene Lehre aus dem jüngsten Kapitel der causa Taricco ziehen, wonach Verfassungsgerichte etwaige Lücken in der EuGH-Rechtsprechung aufnehmen, um ihre eigenen Positionen zu verdeutlichen, auch wenn sie nicht dem Kerngehalt des EuGH-Urteils entsprechen.
Gleichzeitig hat der itVerfGH mit seinen Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Normerzeugung und Normanwendung einen wichtigen Aspekt des EuGH zumindest indirekt aufgenommen und auch selbst den Gesetzgeber in die Pflicht genommen, die Verjährungsregeln einer Anpassung zu unterziehen. Damit gerät die italienische Legislative unter Zugzwang, will sie ein Vertragsverletzungsverfahren vermeiden.» (Seite 613)
Rüdiger Zuck, Stuttgart, behandelt „Die Bindungswirkung von Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts“
Eine Zuspitzung erfuhr das Problem, als die Stadt Wetzlar der NPD die Stadthalle für eine Wahlkampfveranstaltung trotz entsprechender Entscheidungen des VG Gießen, des HessVGH und des BVerfG nicht zur Verfügung stellte. Aufgrund des Zeitablaufs kam eine Vollstreckung der einstweiligen Anordnung des BVerfG nicht mehr in Betracht. Ein Brief des damaligen BVerfG-Vizepräsidenten, Ferdinand Kirchhof, an den zuständigen Regierungspräsidenten als Kommunalaufsichtsbehörde hatte keinerlei aufsichtsrechtliche Maßnahmen zur Folge.
Hieran knüpft Zuck an: «Der Fall Wetzlar versteckt sich einfachrechtlich hinter dem fehlenden Abschluss eines Mietvertrages für die Nutzung der Stadthalle durch die NPD. Dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass sich hier die Politik gegenüber dem Recht durchgesetzt hat. Aus diesem Anlass soll ein umstrittenes verfassungsrechtliches Problem behandelt werden, was nämlich § 31 BVerfGG, also das Gebot der Bindung an gerichtliche Entscheidungen des BVerfG bedeutet, wenn es um bloße Kammerentscheidungen geht. Die Rechtswissenschaft billigt Kammerentscheidungen nur eine beschränkte Bedeutung zu, weil sie – entsprechend § 93c BVerfGG – hinsichtlich der zu entscheidenden verfassungsrechtlichen Fragen nicht weiterreichen könnten, als die maßgebliche Senatsrechtsprechung. Das wird aber der Rechtswirklichkeit nicht gerecht. Schon die Statistik weist aus, dass die Rechtsprechung des BVerfG in weitem Umfang Kammerrechtsprechung ist. Sie prägt in der Alltagspraxis das Bild der Rechtsprechung. Es lohnt sich deshalb zu klären, wieweit die Bindungswirkung von Kammerentscheidungen reicht. Das setzt eine knappe Rekapitulation der Bindungsregelung des § 31 BVerfGG voraus (II). Auf dieser Grundlage kann den Fragen nachgegangen werden, ob Entscheidungen nach § 93c BVerfGG binden (III), wie es sich mit Nichtannahmebeschlüssen nach § 93b BVerfGG verhält (IV) und welche Regeln insoweit für Entscheidungen über Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG gelten (V). Zur Abrundung sollen noch einige Bemerkungen zu den Vollstreckungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten dienen (VI).» (Seite 619)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, lehnt Annahme der einseitigen Erklärung der Regierung (Anerkennung der EMRK-Verletzung und Entschädigungsangebot) wegen unsicherer Rechtslage für Anspruch auf strafrechtliches Wiederaufnahmeverfahren ab / Dridi gegen Deutschland
«Der Gerichtshof begrüßt, dass Deutschland entsprechend seiner Verpflichtung, die endgültigen Urteile des Gerichtshofs zu befolgen, ein Verfahren geschaffen hat, das die Überprüfung der Frage ermöglicht, ob in einem konkreten Fall, in dem der Gerichtshof in einem Urteil eine Konventionsverletzung festgestellt hat (§ 359 Nr. 6 StPO), die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gerechtfertigt ist.
Allerdings ist der Gerichtshof der Auffassung, dass nicht mit einem vergleichbaren Maß an Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass ein solches Verfahren zur Verfügung stünde, wenn der Gerichtshof die einseitige Erklärung der Regierung akzeptieren und die Beschwerde in seinem Register streichen würde. (…)
Dementsprechend erkennt der Gerichtshof den Vortrag des Bf. an und stellt fest, dass nach dem deutschen Recht weder die einseitige Erklärung der Regierung noch eine Entscheidung des Gerichtshofs, die Beschwerde in dem Register zu streichen, einen gleichermaßen sicheren Zugang zu einem Verfahren zur Prüfung der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des innerstaatlichen Strafverfahrens eröffnen würde wie ein Urteil des Gerichtshofs, in dem dieser eine Konventionsverletzung feststellt.» Der EGMR stellte in seinem Urteil sodann Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. b und c fest.
Im Ausgangsverfahren war der Bf. wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 25,- Euro verurteilt worden. Zu der Berufungshauptverhandlung war er nicht ordnungsgemäß geladen und seinem Verteidiger war nicht ausreichend Gelegenheit gegeben worden, sich auf die Berufungshauptverhandlung vorzubereiten. (Seite 625)
EGMR sieht in mildestmöglicher Bestrafung eines Journalisten wegen Mitführens einer Waffe (verstecktes Butterflymesser) an Bord eines Flugszeugs im Rahmen einer Recherche über Sicherheitslücken keine Verletzung der Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) / Erdtmann gegen Deutschland
«Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Art und Schwere der verhängten Strafe bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu berücksichtigen sind (…). Insoweit nimmt er zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Strafzumessung berücksichtigten, dass der Bericht des Bf. tatsächlich zu einer Verbesserung der Flughafensicherheit geführt hatte, dass er ein Fernsehjournalist war, der über eine Frage von allgemeinem öffentlichen Interesse berichtete, und dass das Messer sicher verstaut war und zu keiner konkreten Gefahr für die anderen Fluggäste geführt hatte. Folglich wurde der Bf. zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt, die das Landgericht in eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, der mildesten Sanktionsmöglichkeit des innerstaatlichen Strafrechts, umwandelte, wohingegen die Höchststrafe bei zwei Jahren Freiheitsstrafe lag.
Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof überzeugt, dass diese Sanktion die Presse nicht davon abhalten würde, zu einem bestimmten Thema zu recherchieren oder eine Meinung zu Themen der öffentlichen Debatte zu äußern (…).
Angesichts der vorgenannten Faktoren sieht der Gerichtshof die Verurteilung des Bf. wegen Mitführens einer Waffe an Bord eines Luftfahrzeugs nicht als unverhältnismäßig und damit nicht als eine ungerechtfertigte Einschränkung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung an. Dementsprechend ist nicht ersichtlich, dass Art. 10 der Konvention verletzt wurde.» (Seite 630)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erkennt keine Notwendigkeit der Erneuerung (Wiederaufnahme) eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens wegen Verletzung des Unionsrechts nach dem Vorbild der Wiederaufnahmeregeln bei Verurteilung eines Staates wegen Verletzung der EKMR durch den EGMR / Rs. XC u.a.
Die Große Kammer (GK) des EuGH führt auf Vorlage des österreichischen Obersten Gerichtshofs aus:
«Der Gerichtshof hat im Übrigen in Bezug auf den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem, um den es im Ausgangsverfahren geht, bereits entschieden, dass diese Bestimmung unmittelbare Wirkung hat. (…)
Das Unionsrecht verlangt demnach nicht, dass ein Rechtsprechungsorgan eine in Rechtskraft erwachsene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um einer späteren Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (…).
Im vorliegenden Fall enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass es in der österreichischen Rechtsordnung keine Rechtsbehelfe gäbe, die den Schutz der dem Einzelnen aus Art. 50 der Charta und Art. 54 SDÜ erwachsenden Rechte wirksam gewährleisten.» (Seite 633)
EuGH verhängt Zwangsgeld gegen Griechenland wegen Nichtbeachtung eines Vertragsverletzungsurteils von 2012 / Rs. Kommission gegen Griechenland
Es geht um die unterlassene Rückforderung von unerlaubten Beihilfen im Schiffsbau. Nach detaillierter Darlegung der Bemessungskriterien für die Höhe von Zwangsgeldern verurteilt der EuGH Griechenland auf Antrag der Kommission zur Zahlung eines einmaligen Pauschalbetrages von 10 Mio. Euro und zur Zahlung von halbjährlich knapp 7,3 Mio. Euro bis zum Nachweis der vollzogenen Rückforderung. (Seite 638)
EuGH (GK) besteht auf dem Schutz der finanziellen Interessen der EU (Art. 325 Abs. 1 AEUV) gegenüber einer nationalen (hier: bulgarischen) Regelung, die trotz schwerer Zoll-Betrügereien zum Nachteil der EU zur Einstellung des Strafverfahrens führen kann (Rs. Kolev u.a.)
Der Tenor lautet insoweit: «Art. 325 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die ein möglicherweise zur Einstellung des Strafverfahrens führendes Verfahren wie das in den Art. 368 und 369 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) geregelte vorsieht, entgegensteht, soweit eine solche Regelung für Verfahren gilt, die wegen des Verdachts von schweren Betrügereien oder sonstigen schwerwiegenden rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union im Bereich der Zölle eingeleitet wurden. Es obliegt dem nationalen Gericht, Art. 325 Abs. 1 AEUV volle Wirksamkeit zu verschaffen, indem es diese Regelung erforderlichenfalls unangewendet lässt, zugleich aber darauf achtet, dass die Grundrechte der Beschuldigten gewahrt bleiben.» (Seite 649)
Siehe in diesem Zusammenhang auch das Urteil des italienischen Verfassungsgerichts zur Unanwendbarkeit der „Taricco-Regel“, EuGRZ 2018, 685 und den Aufsatz von Lukas Staffler hierzu, ebd. S. 613 (beide in diesem Heft).
EuGH bestätigt Flüchtlingen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen in gleicher Höhe wie für eigene Staatsangehörige des betreffenden EU-Staates / Rs. Ayubi
«Insoweit bedeutet der Umstand, dass nach Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie den Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die „notwendige“ Sozialhilfe zu gewähren ist, nicht, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten gestatten wollte, den Flüchtlingen Sozialleistungen in einer Höhe zu gewähren, die sie als für die Bedarfsdeckung ausreichend ansehen, die aber geringer ist als bei den Sozialleistungen für ihre eigenen Staatsangehörigen. (…)
Zum anderen wäre eine solche Befugnis der Mitgliedstaaten bei den Leistungen für Flüchtlinge unvereinbar mit dem in Art. 23 der Genfer Konvention, in dessen Licht Art. 29 der Richtlinie 2011/95 auszulegen ist, aufgestellten Grundsatz, dass Flüchtlinge auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen ebenso zu behandeln sind wie die eigenen Staatsangehörigen (…).
Folglich muss ein Mitgliedstaat den Flüchtlingen, denen er diesen Status – sei es befristet oder unbefristet – zuerkannt hat, Sozialleistungen in gleicher Höhe gewähren wie seinen eigenen Staatsangehörigen.» (Seite 659)
Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, bekräftigt Rede- und Meinungsäußerungsfreiheit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments und hebt die Sanktionen des Präsidiums des EP gegen einen polnischen Abgeordneten wegen anstößiger Äußerungen in einer Debatte über eine „europäische Migrationsagenda“ auf / Rs. Korwin-Mikke
«Zunächst ist festzustellen, dass das Parlament nicht in Abrede stellen kann, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in der vorliegenden Rechtssache für die Prüfung des Verstoßes gegen Art. 166 der Geschäftsordnung relevant sind. (…)
Überdies ist darauf hinzuweisen, dass diese Gleichwertigkeit der durch die Charta und der durch die EMRK garantierten Rechte hinsichtlich der Freiheit der Meinungsäußerung förmlich festgestellt worden ist. (…)
Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass vorbehaltlich von Art. 10 Abs. 2 EMRK die Freiheit der Meinungsäußerung nicht nur für Informationen oder Ideen gilt, die Zustimmung erfahren oder die als harmlos oder unerheblich betrachtet werden, sondern auch für sämtliche Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Bereich der Bevölkerung beleidigen, aus der Fassung bringen oder stören. So verlangen es der Pluralismus, die Toleranz und die Offenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt. (…)
Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR kommt zudem der Freiheit der Meinungsäußerung von Parlamentsabgeordneten besondere Bedeutung zu. Sie ist wertvoll für jedermann, ganz besonders aber für einen gewählten Volksvertreter; er vertritt seine Wähler, macht auf ihre Sorgen aufmerksam und verteidigt ihre Interessen. Folglich hat der Richter bei Eingriffen in die Freiheit der Meinungsäußerung eines Oppositionsabgeordneten wie des Klägers eine äußerst strenge Kontrolle vorzunehmen.» (Seite 662)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, definiert die Tragweite des verfassungsrechtlichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Art. 11 BV) und sieht keinerlei Kritikwürdigkeit der HIV-Präventionskampagne des Bundesamts für Gesundheit (BAG) „LOVE LIFE – bereue nichts“
«Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer [zahlreiche Jugendliche im Alter zwischen 4 und 17 Jahren, vertreten durch ihre gesetzlichen Vertreter] wird mit den Bildern und Videosequenzen keine Pornographie und werden weder sexuelle Praktiken noch stark sexuell aufgeladene Botschaften dargestellt. Allenfalls lassen sich gewisse sexuelle Handlungen vermuten. Allerdings bedarf es hierzu eines gewissen Vorverständnis, welches Kinder noch nicht haben, wie deren Reaktionen, welche die Vorinstanz aufgeführt hat, belegen. Jugendliche verfügen bereits über ein solches Verständnis, weshalb sie auch Adressat einer solchen Informationskampagne über verantwortungsvolles Sexualverhalten werden (…). Dabei darf nicht vergessen werden, dass Kinder und Jugendliche vorab durch die Eltern (…) oder allenfalls durch die Schule altersgerecht sexuell aufzuklären sind, damit sie solche Bilder und die damit vermuteten sexuellen Handlungen korrekt erkennen und einordnen können. Bei entsprechender Erziehung können die Jugendlichen das auf den Bildern Dargestellte korrekt einordnen, wozu sie unabhängig von dieser Kampagne angesichts verbreiteter sexualisierter Darstellung im öffentlichen Raum befähigt sein müssen. (…)
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der von den Beschwerdeführern angerufene Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 BV nicht berührt ist. Die Beschwerdeführerinnen sind durch die strittigen Darstellungen deshalb nicht in ihren Rechten und Pflichten berührt. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Verfügung über Realakte sind nicht gegeben. Das BAG ist zu Recht nicht auf das Gesuch eingetreten und die Vorinstanz hat die Beschwerde dagegen zu Recht abgewiesen.» (Seite 669)
Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein (StGH), Vaduz, sieht in der fristlosen Entlassung eines Whistleblowers (stv. Chefarzt) aus dem staatlichen Landesspital wegen Verletzung von Sorgfaltspflichten vor Erhebung seiner Vorwürfe keinen Verstoß gegen Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK)
Der Vorwurf gegen den Chefarzt lautete auf verbotene Sterbehilfe. DerStGH führt u.a. aus: «Es kann kein Zweifel bestehen, dass ein enormes öffentliches Interesse an einer nach allen Regeln der ärztlichen Berufsausübung erfolgende Behandlung in einem Spital, schon gar in einer staatlichen Einrichtung, besteht. Dass der Beschwerdeführer aus eigennützigen Motiven gehandelt hätte, lässt sich den Feststellungen der Gerichte nicht entnehmen. (…)
Wenn der Oberste Gerichtshof zur Auffassung gelangt, der Beschwerdeführer habe leichtfertig gehandelt, kann ihm angesichts des Tatsachensubstrats nicht entgegen getreten werden. Das Kriterium der „Leichtfertigkeit“ ist freilich auch für den EGMR bei der Beurteilung, ob die Entlassung eines Whistleblowers die Meinungsfreiheit verletzt, ein ganz entscheidendes (…). Daraus folgt für den Staatsgerichtshof freilich auch, dass eine Verletzung der Meinungsfreiheit im konkreten Fall nicht stattgefunden hat.» (Seite 673)
Italienischer Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale), Rom, betont den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht und schließt die innerstaatliche Anwendbarkeit der „Taricco-Regel“ (Unanwendbarkeit von dem EU-Recht entgegenstehenden nationalen Verjährungsfristen bei Mehrwertsteuer-Betrügereien zum Nachteil der Union) aus
Da allerdings der EuGH am Ende selbst dem nationalen Richter auf der Basis von EU-Recht aufgegeben hat, eine Verletzung von Grundrechten vorrangig zu vermeiden, sieht die Corte costituzionale nach heftiger Verteidigung nationaler Standpunkte in ungewöhnlich scharfem Ton keinen Normenkonflikt und vermeidet so einen institutionellen Konflikt. Das Urteil ist in vollem Wortlaut übersetzt. (Seite 685)
Siehe hierzu den Aufsatz von Lukas Staffler, Verfassungsidentität und strafrechtliche Verjährung / Das (vorläufige) Ende des Konflikts zweier Höchstgerichte in der Rechtssache Taricco, EuGRZ 2018, 613 (in diesem Heft).
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bekräftigt in zwei stattgebenden presserechtlichen Kammer-Entscheidungen das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit
Einstweilige Verfügungen, die ohne Anhörung der betroffenen Partei erlassen wurden, sind in den konkreten Fällen verfassungswidrig. (Seiten 693, 696)
EGMR-Richterwahlen – Arnfinn Bårdsen neuer norwegischer und Darian Pavli neuer albanischer Richter / Wahl eines türkischen Richters zum dritten Mal mangels hinreichend qualifizierter Kandidaten-Liste gescheitert. (Seite 700)
EuGH – gerichtsinterne Wahlen: Koen Lenaerts (Belgier) als Präsident des EuGH wiedergewählt / Rosario Silva de Lapuerta (Spanierin) neue Vizepräsidentin / Maciej Szpunar (Pole) Erster Generalanwalt. (Seite 702)
Polnischer Generalstaatsanwalt, Warschau, beantragt beim Verfassungsgericht die Feststellung der partiellen Unvereinbarkeit von Art. 267 AEUV (Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH) mit der Verfassung
Der Antrag zielt auf die verfassungsrechtliche Verhinderung von Vorabentscheidungsersuchen polnischer Gerichte an den EuGH, soweit Fragen der nationalen Justizorganisation betroffen sind. (Seite 703)