EuGRZ 2017
14. Dezember 2017
44. Jg. Heft 21-23

Informatorische Zusammenfassung

Angelika Nußberger, Straßburg, bewertet den Widerstreit der Probleme von „Terrorismus und Menschenrechten“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hierzu
«Der Terrorismus fordert den Rechtsstaat heraus. Exekutive, Legislative und Judikative müssen Antworten geben, reaktiv und proaktiv, gilt es doch gleichermaßen zu beschützen und zu strafen, Angriffe in der Zukunft zu verhindern und Angriffe in der Vergangenheit zu ahnden. Über die Ziele besteht weitgehend Konsens, nicht aber über die Methoden. Wohl stimmt man darin überein, dass Menschenrechte in extremen Bedrohungssituationen eingeschränkt werden können. Aber wie und wo sind die Grenzen zu ziehen? Stichworte für kontroverse bzw. geächtete Methoden im Kampf gegen den Terrorismus sind etwa die Auslieferung oder Ausweisung von mutmaßlichen oder ihrer Straftaten bereits überführten Tätern in Staaten, die rechtsstaatlichen Standards nicht verpflichtet sind, Isolationshaft, die Verkürzung der Verfahrensgarantien bei Strafprozessen, die vorübergehende Unterbringung in Geheimgefängnissen und die Überstellung an ausländische Geheimdienste, schließlich auch der gezielte Todesschuss. Kommen Terroristen bei Konfrontationen mit der Staatsmacht um, ist der Umfang der Aufklärungspflichten ex post strittig. Mit diesen Fragen, aber auch mit den möglicherweise enger gezogenen Grenzen der Meinungsfreiheit in Zeiten terroristischer Bedrohung und mit der Aberkennung der Staatsangehörigkeit derer, die als „Gefährder“ eingestuft werden, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als für diese Thematik hauptverantwortliche europäische Instanz befasst. Und sogar über die Beerdigung von Terroristen wird prozessiert.
All diese Fragen werden gewissermaßen aus der „Täterperspektive“ gestellt (…) Die Namen der Opfer gehen nur selten in die Geschichte ein. Es ist gerade ein Charakteristikum des modernen Terrorismus, dass namenlose Opfer getroffen und die Massen in Schrecken versetzt werden. Für die damit verbundene Angst und Grausamkeit steht wohl kaum ein anderes Wort so sehr wie „Beslan“, der Ort, an dem über 1100 Geiseln – die meisten davon Kinder – über 50 Stunden in der Hand von Terroristen gehalten wurden; viele von ihnen starben. In seinem am 13.4.2017 veröffentlichten Urteil hat der Gerichtshof den russischen Behörden schwere Verfehlungen vorgeworfen. Damit werden Maßstäbe für Opferschutz und Terrorbekämpfung gesetzt.»
Zu den programmatischen Grundsätzen des EGMR gehören die Verpflichtung des Staates zum Schutz von Leib und Leben, die Definition nicht verhandelbarer Grundwerte, das Abwägungsgebot bei nicht absolut geschützten Grundrechten und Sonderregelungen im Notstand.
Bei der Durchsetzung der Konventionsgarantien im Kampf gegen den Terrorismus geht es um Garantien des fairen Verfahrens, Beachtung des absoluten Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung bei Ausweisung und Auslieferung, Verantwortung des Staates bei secret-rendition-Fällen und bei Todesfällen im Kampf gegen den Terrorismus. Es geht des Weiteren um die Abgrenzung von Hassrede und freier Meinungsäußerung, um die Aberkennung der Staatsangehörigkeit und um die Forderung nach Menschlichkeit im Umgang mit Hinterbliebenen von Terroristen.
Nußberger gelangt zu folgendem Schluss: «Das Recht hat eine nüchterne Stimme. In Verfahren, die den Umgang des Rechtsstaats mit Terrorismus betreffen, wird über Verfahrensrechte, Beweise, Kausalität, Zurechenbarkeit, Vorhersehbarkeit, den Umfang der Einschränkung von Rechten diskutiert; es wird abgewogen und geprüft. Dabei wird über den richtigen Umgang mit Terrorismus gestritten; viele der Entscheidungen des EGMR sind sehr kontrovers, gehen den einen zu weit, den anderen nicht weit genug. In jedem Fall aber versuchen sie, das Diktum des Journalisten Antoine Leiris, dessen Ehefrau bei dem Terroranschlag von Paris im November 2015 getötet worden war, zu bestätigen: „Vous n’aurez pas ma haine – Ihr bekommt meinen Hass nicht.“ In diesem Sinn muss Maxime der Rechtsprechung sein, auf den Grundwerten des Rechtsstaats zu beharren und diese gerade auch im Namen derer zu verteidigen, die sie nicht nur ablehnen, sondern zerstören wollen.» (Seite 633)

Koen Lenaerts, Luxemburg, skizziert „Die Werte der Europäischen Union in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union: eine Annäherung“
Der Autor ruft zunächst das Grundprinzip der Einzelermächtigung und die sich aus den Verträgen ergebenden Zuständigkeiten des EuGH in Erinnerung und fährt fort:
«Der Gerichtshof kann immer nur auf Klagen, Anträge oder Vorlagen Dritter hin aktiv werden, niemals von sich selbst aus. Als rechtsprechendes Organ verfolgt der Gerichtshof damit keinerlei politische Agenda, die Werte der EU aktiv zu konturieren.
Normativ ist dem Gerichtshof im Rahmen seiner Zuständigkeiten nach Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 EUV indes die Aufgabe übertragen, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. Dieser Satzinhalt ist folgenreich: Er enthält – mit der weit über den Aufgabenbereich der Gerichtsbarkeit hinausgreifenden Verpflichtung zur Wahrung des Rechts und zur Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes – die zentrale Verbürgung der Rechtlichkeit der Union. Diese Rechtlichkeit der Union ist ihr Kompass, ihr Wegweiser auch in diesen Zeiten großer politischer Herausforderungen.
Und das maßstabsbildende Fundament dieser Rechtlichkeit der Europäischen Union ist wiederum der Wertekanon aus Artikel 2 EUV. (…)
Dieser Kanon ist kein ursprüngliches Relikt der Gründungsverträge; stattdessen ist der Wertegehalt von Artikel 2 EUV Ausdruck eines historisch motivierten, kollektiven Lernprozesses von Mitgliedstaaten und Europäischer Union, auch im Rahmen der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes ein Mindestmaß an normativer Homogenität vorauszusetzen.»
Lenaerts beschäftigt sich sodann detailliert mit der Rechtsprechung zur Achtung der Menschenwürde sowie zu Demokratie und Rechtsstaat und führt abschließend aus:
«Die wechselseitige Vertrauens- und Anerkennungsleistung zwischen unabhängigen Gerichtsbarkeiten der Mitgliedstaaten bildet damit gleichsam den Kern der DNA der Rechtsunion. Umso bedeutsamer ist es deshalb, auch in diesem Rahmen an die Bedeutung dieses rechtsstaatlichen Grundprinzips zu erinnern, das in einigen Mitgliedstaaten gegenwärtig durch die fortwährende Politisierung des nationalen Justizsystems unterwandert wird – und damit das europäische Wertegeflecht aus Artikel 2 EUV strukturell destabilisiert, zu dessen Achtung sich die Mitgliedstaaten nicht nur vertraglich verpflichtet haben, sondern das insbesondere als Referenzbestand auch für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen der Europäischen Union von übergeordneter Bedeutung ist.» (Seite 639)

Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), gibt einen detailreichen Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asyl- und Flüchtlingsrecht sowie zum Ausländerrecht (einschließlich Auslieferungsrecht) in den Jahren 2015 und 2016 / Anschluss an EuGRZ 2015, 637
Der Autor legt einleitend die faktische Dimension der rechtlich zu bewältigenden Probleme dar: «Im Berichtszeitraum hat das Asyl- und Flüchtlingsrecht die politische und gesellschaftliche Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig bestimmt. (…) Hintergrund sind die nach wie vor ungelösten, sich sogar noch weiter verschärfenden gewaltsamen Konflikte in der Welt, insbesondere die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien, dem Irak und in Afghanistan, aber auch die strukturelle Armut und Perspektivlosigkeit in weiten Teilen Afrikas, zunehmend jedoch auch in Europa (Balkan). (…) Die Bundesregierung hat darauf mit einer zunehmenden Abschottungstendenz auf legislativer und administrativer Ebene reagiert; im Berichtszeitraum sind das Asylgesetz (AsylG) und das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) mehrfach, zumeist im Sinne einer Verschlechterung der Rechtsstellung für Geflüchtete, geändert worden.»
Der Beitrag nimmt Bezug auf Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie auf dessen IT-Anwendung EASY zur Erstverteilung der Asylsuchenden auf die Bundesländer:
«So wurden im EASY-System im Jahr 2015 bundesweit etwa 1,1 Millionen Zugänge registriert. Hauptherkunftsländer waren (im Wesentlichen wie im Vorjahr) Syrien, Albanien, Kosovo, Afghanistan, Irak, Serbien, Mazedonien, Ungeklärt, Eritrea und Pakistan. Das Jahr 2016 brachte nochmals eine Steigerung der bei dem Bundesamt gestellten Asylerstanträge auf die Zahl von 722.370 (zuzüglich 23.175 Folgeanträge). Hauptherkunftsländer waren in 2016 Syrien (ca. 36 v.H.), Afghanistan (ca. 17 v.H.), Irak (ca. 13 v.H.), Iran, Eritrea, Albanien, Pakistan, Ungeklärt, Nigeria, Russische Föderation (dort vor allem aus Tschetschenien). (…)
Dieser sehr deutliche Anstieg der bei dem Bundesamt gestellten Asylerstanträge ist zwar mittlerweile auch bei den Verwaltungsgerichten angekommen, bei dem Bundesverfassungsgericht jedoch nur sehr bedingt. Im Jahre 2015 verzeichnete das Gericht 106 neue Verfassungsbeschwerden zum Asyl- und Flüchtlingsrecht (zuzüglich 8 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung), dies war sogar noch ein leichter Rückgang zum Vorjahr (dort waren es 119 neue Verfahren). In 2016 wurden dann 142 neue Verfassungsbeschwerden zum Asyl- und Flüchtlingsrecht (hinzukommen 8 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) registriert. Was die Herkunftsländer der Beschwerdeführer angeht, ragt auch beim BVerfG Syrien mit insgesamt 23 neuen Verfahren in 2015 deutlich heraus, während hingegen Afghanistan mit 2 und der Irak mit 4 Verfahren kaum eine Rolle spielten. Ein etwas anderes Bild ergibt sich für das Jahr 2016: Hier betrafen die Neueingänge je 14 Verfahren mit Bf. aus Eritrea, Somalia und Syrien, in je 13 Verfahren stammten die Bf. aus Afghanistan und dem Kosovo.»
Strukturell geht der Beitrag zunächst auf allgemeine verfassungsrechtliche Fragen ein wie Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen, einstweilige Anordnungen und verfassungsrechtliche Anforderungen bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch die Fachgerichte. Es folgen dann Entscheidungen zum Asyl- und Flüchtlingsrecht sowie zum Aufenthalts- und Auslieferungsrecht.
Abschließend stellt Roeser für das laufende Jahr fest: «Im ersten Halbjahr 2017 ist die Zahl der Geflüchteten deutlich zurückgegangen. Das Bundesamt registrierte im 1. Halbjahr insgesamt 111.616 neue förmliche Asylanträge, das waren 72 v.H. weniger als im 1. Halbjahr 2016. Dafür haben sich jetzt die Verwaltungsgerichte in immer stärkeren Maß mit Klagen und Eilanträgen gegen Asylbescheide des Bundesamtes zu befassen. Es wird interessant sein zu beobachten, ob in nächster Zeit auch das BVerfG in größerem Umfang mit Verfassungsbeschwerden zum Asyl- und Flüchtlingsrecht beschäftigt wird. Die in letzter Zeit im AsylG und im AufenthG ergangenen Änderungen könnten in mancherlei Hinsicht Anlass für eine verfassungsrechtliche Klärung bieten.» (Seite 642)
Siehe auch den Aufsatz von Klaus Ferdinand Gärditz, Die demokratische Gestaltungsverantwortung durch Recht in einer Einwanderungsgesellschaft in EuGRZ 2017, 516 (Heft 17-20).

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Straßburg, sieht auch in der Neufassung des Nichtehelichengesetzes von 2011 (Art. 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG) eine erbrechtliche Diskriminierung / Wolter und Sarfert gegen Deutschland
Betroffen sind vor dem 1. Juli 1949 nichtehelich geborene Kinder, deren Väter (Erblasser) vor dem 28. Mai 2009 verstorben sind. Dem Argument der innerstaatlichen Gerichte, in diesen Fällen überwiege das Interesse der ehelichen Kinder an der Rechtssicherheit, hält der EGMR entgegen, dass in beiden Fällen die rechtliche Stellung der ehelichen Erben nach innerstaatlichem Recht noch anfechtbar war: «Die rechtmäßigen Erben hätten daher wissen müssen, dass der Erbfall das Recht anderer Erben auf einen gesetzlichen Erbteil oder auf Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs nicht ausschloss, auch wenn der Nachlass bereits auf sie übergegangen war, und dass durch die Geltendmachung eines solchen Anspruchs die Rechte am Nachlass insgesamt oder der Umfang der Rechte eines jeden Abkömmlings in Frage gestellt werden konnten (vgl. vorzitiertes Urteil Fabris, Ziff. 68). Folglich war ihr Vertrauen auf einen gesetzlichen Erbteil oder einen Pflichtteil am Nachlass des Erblassers in dem Zeitraum bis zur Verjährung der Ansprüche auf jeden Fall nur relativ.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Bf. unmittelbar nach Erlass des Urteils in der vorzitierten Rechtssache Brauer [Urteil vom 28. Mai 2009, EuGRZ 2010, 167] Klagen vor den innerstaatlichen Gerichten erhoben hatten. Die verstrichene Zeit ist demnach kein Gesichtspunkt, den man ihnen entgegenhalten könnte.»
Im Ergebnis stellt der EGMR eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) i.V.m. dem Schutz des Eigentums (Art. 1 des 1. ZP-EMRK) fest. In Anbetracht dieser festgestellten Konventionsverletzung hält es der Gerichtshof seiner ständigen Praxis entsprechend nicht für erforderlich, auch die Rüge einer Diskriminierung unter dem Aspekt des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) zu prüfen. (Seite 673)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, GK), Luxemburg, zum Ort der gerichtlichen Zuständigkeit bei Klagen auf Richtigstellung unrichtiger Angaben im Internet, auf Entfernung von Kommentaren im Diskussionsforum und auf Schadensersatz in dem Staat des Mittelpunkts der Klägerinteressen / Rs. Bolagsupplysningen und Ilsjan
Kläger des Ausgangsverfahrens sind eine Gesellschaft estnischen Rechts (und eine Angestellte dieser Firma), die auf dem Gebiet von Marktinformationen eine Webseite in Schweden in schwedischer Sprache betreibt. Sie klagt dagegen, dass eine schwedische Gesellschaft „Svensk Handel“, in der Arbeitgeber des Handelssektors zusammengeschlossen sind, sie auf deren Webseite in einer „schwarzen Liste“ mit dem Eintrag führe, Betrug und Gaunerei zu betreiben. In der Klage wird vorgebracht, im Diskussionsforum der Webseite von Svensk Handel befänden sich nahezu 1.000 Kommentare mit z.T. direkten Aufrufen zu Gewalt gegen Bolagsupplysningen und deren Mitarbeiter, darunter die zweite Klägerin.
Zur Ehrenrettung ihrer auf Schwedisch in Schweden betriebenen Aktivitäten wollte die in Estland eingetragene Firma nun Svensk Handel vor estnischen Gerichten verklagen. Auf Vorlage des Obersten Gerichtshofs von Estland gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Kontext die Klage vor den Gerichten jenes EU-Mitgliedstaates zu erheben ist, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet.
Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 soll verhindern, «dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte». (Seite 681)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt ein angemessenes strafprozessuales Besuchsrecht inhaftierter Partner (hier: gefestigtes Konkubinat), zumal keine Kollusionsgefahr mehr besteht
Das BGer stellt fest: «Die strafprozessuale Haft der Lebenspartner dauert hier zudem bereits seit einem Jahr und acht Monaten an. Ein erstinstanzliches Gerichtsurteil ist nach den vorliegenden Akten noch nicht erfolgt, und die Beschuldigten können sich auf die Unschuldsvermutung berufen (Art. 32 Abs. 1 BV). Zudem droht ihnen im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung (angesichts der hohen Strafanträge von 18 bzw. 15 Jahren Freiheitsstrafe [wegen qualifizierter Raubüberfälle]) noch ein sehr langer Rest-Strafvollzug mit weiteren (dannzumal vollzugsrechtlichen) Beschränkungen des Besuchsrechts. Hinzu kommt noch, dass die beiden Inhaftierten (je mit ausländischer Staatsangehörigkeit) darlegen, dass sie in der Schweiz über kein anderes Beziehungsnetz (etwa zu nahen Familienangehörigen) verfügen.
Vor Bundesgericht beantragen [die Beschwerdeführer] ein (zumindest) monatliches Besuchsrecht, was nicht per se unangemessen erscheint. In diesem Rahmen haben die kantonalen Behörden (in Koordination zwischen Verfahrensleitung und Vollzugsbehörden) bundesrechtskonforme Besuchsmöglichkeiten des Beschuldigten in der Vollzugsanstalt seiner mitbeschuldigten Lebensgefährtin zu gewährleisten.» (Seite 685)

BGer wertet den Vollzug ausländerrechtlicher Administrativhaft von ausreisepflichtigen (afghanischen) Eltern bei gleichzeitiger Fremdplatzierung von deren drei Kindern (8, 6 und 3 Jahre alt) als Verletzung des Rechts auf Familienleben (Art. 8 EMRK)
«Eine Evaluation anderer Möglichkeiten als die Inhaftierung der Eltern, den Entzug deren Obhutsrechts und die Fremdplatzierung der Kinder in einem Kinderheim (wie etwa die Unterbringung in kantonseigenen Liegenschaften oder Unterkünften, die vom Kanton gemietet worden sind, in einem Durchgangsheim oder allenfalls sogar in einem Jugendheim für unbegleitete Minderjährige) fand nicht statt. Die separate Inhaftierung des Beschwerdeführers [im Kanton Zug] bzw. der Beschwerdeführerin mit ihrem vier Monate alten Baby im Flughafengefängnis in Zürich unter Trennung von ihren älteren drei Kindern wurde somit nicht als ultima ratio und nach einer gründlichen Prüfung weniger einschneidender Massnahme angeordnet, weshalb sich der Eingriff in ihr konventionsrechtlich geschütztes Privat- und Familienleben als unverhältnismässig (Art. 8 Ziff. 2 EMRK) erweist.» (Seite 689)

Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt die (nicht entschädigungslose) Enteignung des Geburtshauses von Adolf Hitler per Individualgesetz für verfassungskonform
«Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus ein grundlegendes Merkmal der 1945 wiedererstandenen Republik Österreich ist. (…)
Da Besuche dieser Liegenschaft auch oder geradezu regelmäßig von rechtsextremen Gruppierungen und Personen zur Verherrlichung der in Österreich verfassungsrechtlich verpönten Ideologie des Nationalsozialismus genutzt werden bzw. werden könnten, ist der Staat dazu verpflichtet, selbst sicherzustellen, dass dieser strafrechtsbewehrte Missbrauch nicht stattfinden kann. (…)
Zudem musste – wie die Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung plausibel dargelegt hat – sichergestellt werden, dass das in Rede stehende Grundstück nicht an Dritte verkauft wird. Auch ist belegt, dass die Republik Österreich – wie die Chronologie der sowohl von der Antragstellerin als auch von der Bundesregierung übereinstimmend vorgebrachten Ereignisse zeigt – sich mehrfach erfolglos um einen käuflichen Erwerb bemüht hat (…).
Auch ist die Enteignung nicht entschädigungslos (vgl. § 3 des Enteignungsgesetzes). Die angefochtenen Regelungen verletzen die Antragstellerin in ihrem Recht auf Unversehrtheit des Eigentums daher nicht.» (Seite 692)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht intersexuelle Personen durch ein Personenstandsrecht diskriminiert und in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt, das die Zuordnung nur zum weiblichen oder männlichen Geschlecht zulässt / Frist zur Neuregelung bis Dezember 2018
Die drei Leitsätze zu dem Beschluss des Ersten Senats lauten: «(1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützt die geschlechtliche Identität. Es schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.
(2) Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schützt auch Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts.
(3) Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, werden in beiden Grundrechten verletzt, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt.»
In der Begründung heißt es: «Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln. Es zwingt weder dazu, das Geschlecht als Teil des Personenstandes zu normieren, noch steht es der personenstandsrechtlichen Anerkennung einer weiteren geschlechtlichen Identität jenseits des weiblichen und männlichen Geschlechts entgegen. (…)
Ein Anspruch auf personenstandsrechtliche Eintragung beliebiger Identitätsmerkmale, die einen Bezug zum Geschlecht haben, ergibt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hingegen nicht. Davon abgesehen steht es dem Gesetzgeber frei, in personenstandsrechtlichen Angelegenheiten ganz auf den Geschlechtseintrag zu verzichten.» (Seite 702)

BVerfG billigt die Abschiebung eines radikal-islamistischen Gefährders mit russischer Staatsangehörigkeit nach Russland trotz Aufwachsens in Deutschland und bestätigt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. (Seite 711)

BVerfG beanstandet die Versagung der Anwaltszulassung (im Jahr 2015) wegen massiver Beleidigung des ausbildenden Staatsanwalts (im Jahr 2011) im Referendardienst im Unmut über eine als ungerecht empfundene Beurteilung. Die Bf. war im Jahre 2014 rechtskräftig wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Das BVerfG kritisiert die Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs von 2015 auch wegen des Fehlens einer Prognoseentscheidung darüber, ob Interessen der Öffentlichkeit einer Anwaltszulassung entgegenstehen. (Seite 714)

BVerfG hebt Beschluss eines Senatsvorsitzenden an einem Landessozialgericht auf, den dieser in einem Eilverfahren allein ohne die gebotene Beteiligung der beiden anderen Berufsrichter seines Senats getroffen hat. (Seite 716)

BVerfG verhängt Missbrauchsgebühr in Höhe von 600 Euro wegen unrichtigen Beschwerdevortrags zu Ausschreitungen anlässlich des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg. Es geht um ein Polizeivideo, auf dem Steinwürfe aus dem „schwarzen Block“ auf Polizeibeamte entgegen dem Vortrag des Anwalts deutlich erkennbar sind. (Seite 719)

Russland testet das Rückgrad des Europarates und setzt Zahlungsverweigerung fälliger Beiträge zum Haushalt des Europarates als politisches Druckmittel ein. Den russischen Abgeordneten in der Parlamentarischen Versammlung waren als Reaktion auf die Annexion der Krim und wegen des verdeckten Krieges im Osten der Ukraine das Stimmrecht und weitere parlamentarische Rechte entzogen worden. (Seite 720)

EuGH – Bestimmung des Verbrauchergerichtsstandes bei Datenschutzklage gegen Facebook / Schlussanträge von GA Bobek
Es geht darum, ob der österreichische Kläger des Ausgangsverfahrens, Maximilian Schrems, gegen Facebook Ireland Ltd auch dann vor den österreichischen Gerichten klagen kann, wenn er für Kläger im Ausland und in Drittstaaten auftritt, deren Ansprüche er sich hat abtreten lassen. (Seite 722)