EuGRZ 1997 |
23. Dezember 1997
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24. Jg. Heft 21-22
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Rumpf, Stuttgart/Heidelberg, untersucht die staats- und völkerrechtliche Lage Zyperns
Im Hinblick auf das EGMR-Urteil im Fall Loizidou gegen Türkei (s.u. S. 555) ermöglicht der Beitrag eine Übersicht über die rechtliche Gesamtsituation. Der Autor zeichnet die historische Entwicklung der Herrschaft über die Insel von den Phöniziern bis zur britischen Kronkolonie nach und stellt den völkerrechtlichen Rahmen der Verträge dar, die 1960 zur Unabhängigkeit führten. Es folgt eine gründliche Darstellung der Verfassung der Republik Zypern von 1960 sowie der Verfassung der völkerrechtlich nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern (TRNZ) von 1985.
Rumpf kommt zu dem Schluß: «Die gegenwärtige verfassungs- und staatsrechtliche Situation der Republik Zypern ist geprägt von dem seit 1963 eingeleiteten "Staatsstreich" der griechischen Volksgruppe, der es gelungen ist, die türkische Volksgruppe lange vor der Intervention der Türkei aus allen Positionen der Staatsgewalt, wie sie von der Volksgruppenverfassung von 1960 bestimmt worden waren, zu verdrängen. Zwar blieb die ausschließlich von Zyperngriechen gestellte Regierung die völkerrechtlich anerkannte Regierung der Republik Zypern, sie besaß jedoch keine innerstaatliche Legitimität mehr. Die am 20.7.1974 durchgeführte militärische Intervention war eine Reaktion auf die Usurpation aller zyprischer Staatsgewalt durch das von Athen unterstützte Regime des Nicos Sampson, das sich den Anschluß Zyperns an Griechenland zum erklärten Ziel gesetzt hatte. (…)
Vor diesem Hintergrund bildeten sich zwei unterschiedliche staatsrechtliche Einheiten. Die Regierung der Republik Zypern ist zwar als solche völkerrechtlich anerkannt, verfügt jedoch staatsrechtlich nicht über die notwendige Legitimität,für die Republik Zypern zu handeln. Diese Legitimität hat sie nicht etwa durch die militärische Intervention der türkischen Regierung im Jahre 1974, sondern durch den permanenten Verfassungsbruch der griechischen Volksgruppe unter Führung von Erzbischof Makarios seit 1963 eingebüßt. Staatsrechtlich ist sie nicht mehr und nicht weniger als die Regierung eines auf dem Südteil der Insel gelegenen Staates. Im Nordteil hat sich dagegen mit dem Namen Türkische Republik Nordzypern staatsrechtlich ein eigenständiger Staat etabliert, dem es allerdings an der völkerrechtlichen Anerkennung fehlt mit der Folge, daß er bisher völkerrechtlich handlungsunfähig geblieben ist. Der Umstand, daß auf dem Territorium dieses Staates Truppen der Republik Türkei stationiert sind, ändert nichts an dieser staatsrechtlichen Qualifikation.» (Seite 533)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, qualifiziert die Verweigerung des Zutritts zu Grundstücken einer Zyperngriechin, die in dem von türkischem Militär kontrollierten Nordzypern belegen sind, als Verletzung der Eigentumsrechte aus Art. 1 des 1. ZP-EMRK
Im Fall Loizidou gegen Türkei stellt der EGMR in der Hauptsache-Entscheidung fest: «Es ist nicht notwendig zu bestimmen, ob die Türkei, wie von der Bf. und der Regierung Zyperns vorgetragen, über Politik und Handlungen der Behörden der "TRNZ" ins einzelne gehende Kontrolle ausübt. Es ergibt sich offensichtlich aus dem Umfang der in Nordzypern aktiv eingesetzten Truppen (siehe Ziff. 16), daß ihre Armee effektive Gesamtkontrolle über diesen Teil der Insel ausübt. Solche Kontrolle, so ergeben die einschlägige Prüfung und die Umstände des Falles, führt zur Verantwortlichkeit für die Politik und Handlungen der "TRNZ" (siehe Ziff. 52). Diejenigen, die durch solche Politik oder Handlungen betroffen sind, fallen daher unter die "Jurisdiktion" der Türkei im Sinne von Art. 1 der Konvention. Ihre Verpflichtung, der Bf. die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten, erstreckt sich daher auch auf das Gebiet Nordzyperns. (…)
Dementsprechend hat die Bf., nachdem ihr seit 1974 der Zutritt zu ihrem Grund und Boden verwehrt worden ist, effektiv jegliche Verfügungsgewalt und somit die Möglichkeiten verloren, ihr Eigentum zu gebrauchen und zu nutzen. Die fortdauernde Verweigerung des Zutritts muß daher als Eingriff in ihre Rechte gemäß Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls angesehen werden.» (Seite 555)
Matthias Pechstein und Artur Bunk, Frankfurt (Oder), untersuchen das Aufenthaltsrecht als Auffangrecht für Unionsbürger
«Die Bedeutung des Art. 8a Abs. 1 EGV, der jedem Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt in jedem anderen Unionsstaat einräumt, ist umstritten. Fraglich ist insbesondere, ob die Bestimmung unmittelbar anwendbar ist und damit den Bürgern direkt einklagbare Rechte verleiht, oder ob die Gewährung des Aufenthaltsrechts erst konstitutiv durch Sekundärrecht erfolgt. Mit der teilweise vertretenen Ansicht, Art. 8a Abs. 1 EGV komme unmittelbare Anwendbarkeit zu, sind Vorstellungen von einer Verbesserung der materiellen Rechtsstellung des Unionsbürgers verknüpft. Diese Erwartungen leiten sich aus den Erfahrungen mit den Grundfreiheiten des EG-Vertrags her. Deren vom EuGH statuierte unmittelbare Anwendbarkeit verhalf ihnen erst zu ihrer heutigen Bedeutung. Beim allgemeinen Aufenthaltsrecht existierte jedoch das konkretisierende Sekundärrecht, die drei Aufenthaltsrichtlinien, schon bei Schaffung des Art. 8a EGV, während dies bei den Grundfreiheiten auch bei Ende der Übergangszeit noch weitgehend fehlte. Die vorliegende Untersuchung zeigt, daß keine Notwendigkeit besteht, die Vorschrift des Art. 8a Abs. 1 EGV als unmittelbar anwendbar zu qualifizieren, da dies keinerlei Verbesserung der Rechtsstellung der Unionsbürger mit sich bringt.» (Seite 547)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erklärt Beförderungsvorrang für Frauen im öffentlichen Dienst für EGV-konform, sofern die Beförderungschancen für gleichqualifizierte männliche Bewerber durch objektive Einzelfallprüfung sämtlicher personenbezogenen Beurteilungskriterien gewahrt sind
Im Marschall-Urteil hatte der EuGH die mit einer "Öffnungsklausel" versehene Quotenregelung in Nordrhein-Westfalen zu beurteilen: «Im Gegensatz zu der Regelung, die Gegenstand des Urteils Kalanke [Bremen, EuGRZ 1995, 546] war, überschreitet eine nationale Regelung, die wie im vorliegenden Fall eine Öffnungsklausel enthält, diese Grenzen nicht, wenn sie den männlichen Bewerbern, die die gleiche Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, in jedem Einzelfall garantiert, daß die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden und der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang entfällt, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers überwiegen. Solche Kriterien dürfen allerdings gegenüber den weiblichen Bewerbern keine diskriminierende Wirkung haben.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage einer Prüfung der Tragweite der streitigen Bestimmung in ihrer Anwendung durch den Beklagten festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.» (Seite 563)
EuGH hält die Frage des Unterlassens der Höflichkeitsanrede im Strafbefehl für gemeinschaftsrechtlich nicht relevant
In dem Urteil Grado und Bashir erklärt sich der EuGH für die Beantwortung der vom AG Reutlingen vorgelegten Frage für nicht zuständig: «Selbst wenn sich… die Praxis der Staatsanwaltschaft Tübingen als diskriminierend gegenüber Gemeinschaftsbürgern erweisen würde, wäre nicht ersichtlich, daß dies Auswirkungen auf das Ausgangsverfahren hätte.» (Seite 566)
EuGH präzisiert Rechtsweggarantie für Unionsbürger bei Einreise- und Aufenthaltsverboten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit – hier: Großbritannien
Der Kläger Shingara ist französischer Staatsangehöriger. Ihm wurde wegen Verbindungen mit dem Sikh-Extremismus die Einreise vom britischen Innenminister verweigert. Der Kläger Radiom hat die irische und die iranische Staatsbürgerschaft. Er arbeitete im Vereinigten Königreich im iranischen Konsulardienst. Nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und der islamischen Republik Iran mußte er Großbritannien verlassen.
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, ein Mitgliedstaat erfülle seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen, «wenn die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten über den Rechtsbehelf verfügen, der in diesem Mitgliedstaat gegen die Verwaltungsakte im allgemeinen eröffnet ist».
Zur Dauer eines solchen Einreiseverbots erklärt der EuGH, der Gemeinschaftsangehörige habe das Recht, eine erneute Prüfung seines Falles zu verlangen, wenn die Umstände, die das Einreiseverbot gerechtfertigt hatten, seines Erachtens entfallen sind. (Seite 567)
EuGH bestätigt Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei auch im Anschluß an ursprünglichen Aufenthalt
Im Günaydin-Urteil kommt der EuGH zu dem Ergebnis, daß eine ursprünglich auf Ausbildungszwecke beschränkte Aufenthaltserlaubnis kein Hindernis sei, die abgestuften Rechte des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei zu erwerben:
«Aufgrund dessen kann die Geltendmachung der aufgrund des Beschlusses Nr. 1/80 erworbenen Rechte durch einen Arbeitnehmer nicht mit der Begründung beanstandet werden, daß dieser angegeben habe, er wolle seine berufliche Laufbahn nach mehrjähriger Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat, die der Vervollkommnung seiner beruflichen Fähigkeiten dienen sollte, in seinem Herkunftsland fortsetzen, und daß er sich zunächst mit der Beschränkung seiner Aufenthaltserlaubnis in diesem Staat einverstanden erklärt habe.» (Seite 571)
EuGH spricht sich bei Täuschung der Ausländerbehörden gegen den Erwerb eines rechtlichen Besitzstandes im Rahmen des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei aus – hier: Scheinehe
Im Kol-Urteil erklärt der EuGH es für ausgeschlossen, «daß die Ausübung einer Beschäftigung im Rahmen einer Aufenthaltserlaubnis, die aufgrund einer Täuschung erteilt wurde, die wie im Ausgangsverfahren zu einer Verurteilung geführt hat, Rechte für den türkischen Arbeitnehmer entstehen lassen oder bei ihm ein berechtigtes Vertrauen begründen kann». (Seite 576)
EuGH sieht in der ehelichen Lebensgemeinschaft keine absolute Bedingung für das Aufenthaltsrecht im Rahmen des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei
Im Kadiman-Urteil stellt der EuGH zunächst grundsätzlich fest, der im Rahmen der Familienzusammenführung eingereiste Angehörige müsse auch weiterhin tatsächlich mit dem Wanderarbeitnehmer zusammenwohnen, da sonst die Gefahr bestünde, daß insbesondere durch Schließung von Scheinehen die einschlägigen Vorschriften des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei umgangen würden. Allerdings sei allein das nationale Gericht zuständig, zu entscheiden, ob solche objektiven Gegebenheiten vorliegen, die es rechtfertigen können, daß der Familienangehörige und der türkische Wanderarbeitnehmer voneinander getrennt leben. (Seite 578)
Russisches Verfassungsgericht (RussVerfG), Moskau, erklärt über die eigentliche Abgeordnetentätigkeit hinausreichende Immunitätsrechte von Parlamentsabgeordneten für verfassungswidrig
«Aus dem Sinn des Art. 98 und des Punkts 9 des Zweiten Abschnittes "Schluß- und Übergangsbestimmungen" der Verfassung der Russischen Föderation ergibt sich, daß die Immunität eines Parlamentariers nicht zu einer Befreiung von seiner Verantwortung für eine begangene Rechtsverletzung einschließlich von Verstößen gegen Straf- oder Verwaltungsrecht führt, soweit diese Rechtsverletzung nicht im Zusammenhang mit der Ausübung der eigentlichen Abgeordnetentätigkeit begangen worden ist. Ein extensives Verständnis der Immunität in solchen Fällen würde zu einer Verzerrung des öffentlich-rechtlichen Charakters der parlamentarischen Immunität und zu ihrer Umwandlung in ein persönliches Privileg führen, was einerseits eine rechtswidrige Ausnahme von dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz und dem Gericht (Art. 19 Abs. 1) darstellen und andererseits eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Opfer von Straftaten und Machtmißbrauch (Art. 52) bedeuten würde.» (Seite 583)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, entwickelt Kriterien zur Konkretisierung des Benachteiligungsverbots zugunsten Behinderter (Art. 3 GG) im Schulwesen
«Die Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule gegen seinen und seiner Eltern Willen stellt nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. Eine solche Benachteiligung ist jedoch gegeben, wenn die Überweisung erfolgt, obwohl eine Unterrichtung an der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischer Förderung möglich ist, der dafür benötigte personelle und sachliche Aufwand mit vorhandenen Personal- und Sachmitteln bestritten werden kann und auch organisatorische Schwierigkeiten und schutzwürdige Belange Dritter der integrativen Beschulung nicht entgegenstehen.» (Seite 586)
BVerfG unterstreicht die Verfassungswidrigkeit der Wiederholung einer vom BverfG bereits für verfassungswidrig erklärten Norm auch für Übergangsfälle
Die Vorlageverfahren betreffen das Sonderurlaubsgesetz des Landes Hessen für Tätigkeiten in der Jugendarbeit. Die Überbürdung der Entgeltfortzahlung auf die Arbeitgeber hatte das BVerfG bereits 1992 (EuGRZ 1992, 149) für verfassungswidrig erklärt. Trotzdem wurde diese Regelung für Altfälle aufrechterhalten.
Das BVerfG führt hierzu aus: «Eine Normwiederholung verlangt vielmehr ihrerseits besondere Gründe, die sich vor allem aus einer wesentlichen Änderung der für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse oder der ihr zugrunde liegenden Anschauungen ergeben können. (…) Hier hat der Landesgesetzgeber die Frage, ob geänderte Verhältnisse die – auf zurückliegende Fälle beschränkte – Aufrechterhaltung der für verfassungswidrig erklärten Regelung rechtfertigen können, anscheinend nicht einmal erwogen. (…) Die vorgelegte Norm ist erst während der parlamentarischen Beratungen in das Sonderurlaubsgesetz eingefügt worden. Der entsprechende Änderungsantrag enthält keine Begründung.» (Seite 594)
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Berlin, bestätigt Klagebefugnis für Landesmedienanstalten zur Anfechtung der Genehmigung eines bundesweit empfangbaren Programms durch die örtlich zuständige Landesmedienanstalt wegen Verletzung der Sicherung der Meinungsvielfalt
«Die Landesmedienanstalten der Bundesländer haben aufgrund ihrer Letztverantwortung für die Rechtmäßigkeit der in ihrem Sendegebiet ausgestrahlten Rundfunkprogramme gegenüber allen anderen Landesmedienanstalten eine verteidigungsfähige Rechtsposition; sie sind daher klagebefugt für eine Anfechtungsklage, mit der sie geltend machen, die für die Genehmigung eines bundesweit empfangbaren Rundfunkprogramms örtlich zuständige Landesmedienanstalt habe bei der Genehmigung die Vorschriften des Rundfunkstaatsvertrages über die Sicherung der Meinungsvielfalt verletzt.» (Seite 596)
Das Verfahren hat eine Vorgeschichte vor dem BVerfG, in dem dieses die Subsidiarität der Bundes-Verfassungsbeschwerde gegenüber fachgerichtlichem vorläufigem Rechtsschutz auch bei negativen landesverfasssungsgerichtlichen Eilentscheidungen bekräftigt (EuGRZ 1997, 118).
Errichtung der Institution des Ombudsmans in Griechenland
Das griechische Parlament hat am 28. März 1997 das entsprechende Gesetz verabschiedet. Der Text des Gesetzes wurde übersetzt und mit einer Einführung versehen von Altana Filos, Heidelberg/Brüssel. (Seite 602)