EuGRZ 2001 |
31. Dezember 2001
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28. Jg. Heft 21-23
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Tomuschat, Berlin, setzt sich mit dem 11. September 2001 und seinen rechtlichen Konsequenzen auseinander
Die Elle des Rechts wie auch das Schlagwort von der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes beschreibt er als Herausforderung im Spannungsverhältnis zwischen den beiden Extrembildern des Juristen, der «in gefügigem Gehorsam jeder Entscheidung der politischen Führung folgt», oder dessen, «der auf seinen papiernen Konstruktionen sitzt und gar nicht merkt, wie sich die Wirklichkeit um ihn herum verändert».
Zur rechtlichen Einordnung des Angriffs auf das World Trade Center und das Pentagon führt Tomuschat aus: «Tausende von Menschen verloren ihr Leben – nicht so viele wie während des Zweiten Weltkriegs in Schanghai, Dresden oder Hamburg, aber dennoch immerhin dreimal so viele wie in Pearl Harbour, dessen Bombardierung durch japanische Kampfflugzeuge den Auftakt des Krieges mit Japan bildete. Dennoch ist der Ausdruck „Krieg“ jedenfalls in einem rechtlichen Sinne falsch. (…)
Ein Mordanschlag auf die Zivilbevölkerung eines Landes stellt keine Kriegshandlung dar, sondern ganz schlicht ein Verbrechen, wegen dessen die Täter wie auch die Hintermänner vor Gericht gestellt werden können. Man darf sogar, wegen der qualitativen und quantitativen Dimensionen der Taten vom 11. September 2001, von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprechen, das im Statut von Rom (Art. 7 Abs. 1) für den Internationalen Strafgerichtshof als „part of a widespread or systematic attack directed against any civilian population“ definiert wird.»
Die Tatbestandsmerkmale des Terrorismus definiert der Autor anhand der rechtspolitischen Entwicklungen im Rahmen der Vereinten Nationen wie auch des Europarates. Zum Vorliegen des Selbstverteidigungsrechts auf Grund des Art. 51 der UN-Charta werden zunächst die Voraussetzungen einer (prinzipiell zulässigen) humanitären Intervention sowie eines rechtfertigenden Notstandes verneint und dann die einzelnen Fragen des bewaffneten Angriffs, der Gegner der Maßnahmen der Selbstverteidigung, der Gegenwärtigkeit des Angriffs, der Proportionalität sowie der relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats vertieft.
Abschließend bewertet Tomuschat Rechtsgrundlagen und Grenzen für die Beteiligung Deutschlands am Kampf der USA. Er erinnert an die Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, als Verbündeter der USA auch auf die Wahrung der in Art. 9 und 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte normierten Mindeststandards bei Gerichtsverfahren gegen Terroristen mit zu achten. Die von Präsident Bush am 13. November 2001 erlassene Anordnung, mit der den US-Streitkräften fast unbeschränkte Vollmachten zur Ingewahrsamnahme und Aburteilung von fremden Staatsangehörigen durch militärische Kommissionen, über deren nähere Zusammensetzung und Unabhängigkeit nichts gesagt ist, übertragen wird, steht im Widerspruch zu den Gewährleistungen des Art. 14 des Paktes.
Dennoch: «Insgesamt läßt die Untersuchung der Reaktionen auf die Anschläge des 11. September 2001 erkennen, dass die Angegriffenen den ihnen durch die Art. 51 der UN-Charta eröffneten Handlungsspielraum bis an die äußersten Grenzen in Anspruch genommen haben. (…) Gerade der Westen, der von sich glaubt, das Recht und die Gerechtigkeit auf seiner Seite zu haben, sollte aber alles vermeiden, was dem Gedanken einer für alle Staaten gleichen und für sie verbindlichen völkerrechtlichen Ordnung bleibenden Schaden zufügen könnte.» (Seite 535)
Rudolf Müller, Wien, untersucht „Neue Ermittlungsmethoden und das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung“
Das Verfassungsprinzip des „Nemo tenetur se ipsum accusare“ stellt der Autor in seinen historischen Zusammenhang, kommentiert rechtsvergleichend die Rechtsprechung des VfGH, BVerfG sowie EGMR und geht auf aktuelle Einzelfragen ein – wie Telefonfalle, DNA-Analyse und Speicherung von DNA-Profilen in Datenbanken.
«Um es in einen Satz zu kleiden: Das nemo-tenetur-Prinzip ist stärker, als manche meinen, jedoch weniger weitreichend als andere wiederum fürchten. Dieser Befund bringt aber für Eingriffe außerhalb des Schutzbereichs des Art. 6 EMRK verstärkt Art. 8 EMRK mit seinem weitgefächerten, aber elastischen Schutzbereich ins Blickfeld. Die Ereignisse des 11. September 2001, die wohl unser aller Denken und Fühlen beherrschen, sollten uns nicht veranlassen, unseren Grundrechtsbestand panisch in Frage zu stellen, sondern dazu anhalten, beharrlich die Grundrechte, aber auch deren zulässige Beschränkungen mit Augenmaß und zum allgemeinen Besten anzuwenden und zu wahren. Sie haben nämlich im Bereich der Strafverfolgung (und das gilt im Besonderen für nemo-tenetur) auch die Funktion, Fehlurteile hintanzuhalten: Jeder unschuldig Verurteilte bedeutet, dass der Täter auf freiem Fuße ist; dass die Missachtung (oder Zurückdrängung) von Grundrechten zu mehr Effektivität der Strafverfolgung führen kann, ist daher ein populistisches Ammenmärchen.» (Seite 546)
Christian Busse, Bonn, unterzieht die Präambel der Europäischen Grundrechtecharta einer kritischen Würdigung
Als Ausgangspunkt seiner Abhandlung wählt der Autor die beginnende Wirkung der Charta als Maßstab für auswärtiges und für Binnenhandeln der EU sowie vor dem EuGH und schließt seine Kritik an der proklamierten Präambelfassung mit einem modifizierten Text-Entwurf ab.
«Zusammenfassend kann der materielle Eigengehalt der Präambel gleich für mehrere Punkte bejaht werden. Sollte die Präambel im Rahmen einer Rechtsverbindlichkeitserklärung der Charta wegfallen – etwa weil die Charta in das europäische Primärrecht eingestellt wird –, so ist darauf zu achten, dass diese Punkte nicht ersatzlos entfallen, sondern an anderer Stelle mit gleichem Normrang aufgenommen werden. Dies gilt vor allem für die Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber auch für die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR und die normative Absicherung der Unionsbürgerschaft, der wirtschaftlichen Grundfreiheiten und der Erhaltung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten. Bis auf die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR dürfte es allerdings bei allen diesen Punkten außer Frage stehen, das sie in den staatsorganisatorischen Teil einer eventuellen Verfassungsurkunde der EU Aufnahme finden würden.» (Seite 559)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, streicht Beschwerde gegen Abschiebung in den Iran / Kalantari gegen Deutschland
Nach anfänglicher Ablehnung hatte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 15. Juni 2001 das Bestehen eines Abschiebungshindernisses gem. § 53 Abs. 4 AuslG (drohende Folter, Art. 3 EMRK) festgestellt, so dass der Bf. nicht in den Iran abgeschoben werden darf. (S. 576)
EGMR akzeptiert gütliche Einigung nach innerstaatlichem Verzicht auf Abschiebung in die Türkei / Ehepaar Güler gegen Deutschland
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge stellt im Fall von Frau Güler wegen erlittener Folter (auf einem Auge völlig erblindet, Sehkraft auf dem anderen Auge über die Hälfte eingeschränkt, schwer traumatisiert) ein Abschiebungshindernis i.S.v. § 53 Abs. 4 AuslG fest. Ehemann und Kind werden in diese Regelung miteinbezogen. (Seite 580)
EGMR billigt Ausweisung eines Ausländers (25jähriger Türken) wegen anhaltender Kriminalität / Adam gegen Deutschland
Der Bf. war zuletzt innerhalb von fünf Jahren zu insgesamt 3 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. (Seite 582)
EGMR stellt überlange Dauer eines Kündigungsschutzverfahrens fest – 12 J. 10 M. / Mianowicz gegen Deutschland
Der Bf. ist ein von Radio Free Europe – Radio Liberty wegen krankheitsbedingter Ausfälle entlassener Exil-Pole. (Seite 585)
EGMR hält richterliche Beurteilung des Kindeswohls ohne psychologische Begutachtung des, den Vaterablehnenden, Kindes bei Klage auf Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters für unzureichend
Der EGMR erkennt in zwei ähnlich gelagerten Fällen auf Verletzung von Art. 8 (Familienleben) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (faires Verfahren).
Im Fall Sommerfeld gegen Deutschland geht es um ein mittlerweile 13jähriges Mädchen. (Seite 588)
Im Fall Elsholz gegen Deutschland geht es um einen fast 7jährigen Jungen. (Seite 595)
S.a. die abweichenden Meinungen der Richter Vajić (Kroatin) und Pellonpää (Finne) S. 594 sowie der Richter Baka (Ungar), Palm (Schwedin), Hedigan (Ire) und Levits (Lette), S. 601.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, präzisiert in drei Urteilen die Grenzen des Rechts auf Niederlassungsfreiheit unter den Assoziationsabkommen mit osteuropäischen Beitrittskandidaten-Ländern bei illegaler Einreise
Ein als Tourist nach Großbritannien eingereister Pole (Rs. Gloszczuk), dessen Ehefrau getrennt ebenfalls als angebliche Touristin eingereist war, beruft sich als nunmehr selbständiger Bauunternehmer auf das Niederlassungsrecht unter dem Europa-Abkommen EWG-Polen. Der EuGH billigt die Entscheidung der britischen Behörden, ihn wegen der durch Täuschung erlangten Einreisegenehmigung darauf zu verweisen, in seinem Herkunfts- oder in einem anderen Land ein neues, dann auf das Assoziationsabkommen EWG-Polen gestütztes, Einreisevisum zu beantragen und die Voraussetzungen seiner geplanten Selbständigkeit nachzuweisen. Bedingung sei jedoch, dass das frühere Fehlverhalten eine adäquate Prüfung des neuen Einreiseantrags nicht verhindere. (Seite 602)
In der Rs. Kondova ist eine bulgarische Veterinär-Medizin-Studentin als Drei-Monats-Landarbeiterin nach Großbritannien eingereist. Nach Ablehnung ihres Asylantrags wollte sie sich unter Berufung auf das Europa-Abkommen EWG-Bulgarien als selbständige Reinigungsfrau betätigen. Sie muß ebenfalls ein erneutes Einreisevisum beantragen. (Seite 610)
In der Rs. Barkoci und Malik müssen zwei an den britischen Behörden vorbei illegal eingereiste Tschechen, die sich nach Ablehnung ihres als Sinti und Roma gestellten Asylgesuchs unter Berufung auf das Abkommen EWG-Tschechien als selbständige Gärtner bzw. Gebäudereiniger niederlassen wollen, ebenfalls ein entsprechendes Visum beantragen. (Seite 615)
EuGH wertet Prostitution als Dienstleistung bzw. selbständige Erwerbstätigkeit, die zur Niederlassungsfreiheit unter den Assoziationsabkommen mit Polen und Tschechien berechtigt / Rs. Jany u. a.
«Ohne dass die Frage erörtert werden müsste, ob die Prostitution als kommerzielle Tätigkeit angesehen werden kann, wie die Regierung des Vereinigten Königreichs meint, genügt daher die Feststellung, dass sie in einer Tätigkeit besteht, durch die der Leistungserbringer gegen Entgelt eine Nachfrage des Leistungsempfängers befriedigt, ohne materielle Güter herzustellen oder zu veräußern. Die Prostitution stellt daher eine entgeltliche Dienstleistung dar, die (…) unter den Begriff Erwerbstätigkeit fällt.»
Die sechs Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, zwei Polinnen und vier Tschechinnen, arbeiten in Amsterdam als „Fensterprostituierte“, zahlen Miete und Steuern. Der EuGH macht deutlich, dass seine Ausführungen nur für selbständig ausgeübte, nicht aber für Zuhälter-abhängige Prostitution gelten. (Seite 621)
Verfassungsgericht der Russischen Föderation (RussVerfG), Moskau, erklärt die Verhängung der Todesstrafe aus nur vom Gesetzgeber zu behebenden gerichtsorganisatorischen Mängeln für einstweilen verfassungswidrig
Da der in der Verfassung verankerte Anspruch, nur von einem Geschworenengericht zum Tode verurteilt zu werden, bislang nur auf dem Territorium von neun – der mit Tschetschenien insgesamt 89 – Subjekten der Russischen Föderation gewährleistet ist, darf aus Gründen der Gleichheit solange kein Todesurteil verhängt werden, bis der Föderationsgesetzgeber für alle Landesteile Geschworenengerichte eingeführt hat. (Seite 628)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt ärztliche Zwangsbehandlung im Strafvollzug
Gesetzliche Grundlage ist Art. 43 StGB. Der Bf. leidet seit rund dreissig Jahren an einer chronischen paranoiden Schizophrenie und wurde über zwei Dutzend Male hospitalisiert. «Die für die Straftaten kausale psychische Störung wird im Rahmen der Massnahme mit dem Ziel der Verhinderung weiterer Straftaten und der Wiedereingliederung nach ärztlichen Gesichtspunkten behandelt. Dabei wird versucht, seinen Zustand soweit zu bessern, dass er nicht mehr gefährlich ist.» (Seite 634)
BGer beanstandet fehlenden direkten Zugang zum Richter bei vorsorglicher Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung
Im Kanton Luzern wird, entgegen den vom Bundesrecht mit Rücksicht auf die EMRK gemachten Vorgaben, zunächst eine Verwaltungsbehörde mit der Überprüfung der Freiheitsentziehung betraut, bevor ein Richter angerufen werden kann. (Seite 636)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt Löschung bestimmter personenbezogener Daten wegen des Grundrechts auf Datenschutz und wegen Art. 8 EMRK für geboten
Es handelt sich um Daten, die gem. § 57 Abs. 1 Z 6 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) ermittelt und gespeichert wurden. (Seite 638)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht im neuen Strategischen Konzept von 1999 keine Änderung des NATO-Vertrages
«Die Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG, die keine Vertragsänderung ist, bedarf keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages.» (Seite 643)
Der Europäische Rat (Staats- und Regierungschefs der 15 plus Kommissionspräsident) hat auf seiner Tagung am 14./15. Dezember 2001 in Laeken (Belgien) einen Verfassungs-Konvent unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing eingesetzt. Seine Arbeit ist auf ein Jahr angelegt und beginnt am 1. März 2002 in Brüssel. (Seite 662)
VfGH legt EuGH Fragen zum Ausschluss der Wählbarkeit türkischer Staatsangehöriger in der Vollversammlung einer österreichischen Arbeiterkammer (Vorarlberg) vor. (Seite 665)
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Berlin, fragt EuGH, unter welchen Voraussetzungen Prostitution von Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit erfasst wird. (Seite 669)
BVerfG weist Antrag der NPD auf Vorlage an den EuGH als unbegründet ab, da innerstaatliche Parteiverbotsverfahren nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen. (Seite 669)