EuGRZ 2005 |
30. Dezember 2005
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32. Jg. Heft 22-23
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Informatorische Zusammenfassung
Manfred Zuleeg, Frankfurt am Main, leitet aus der vom Grundgesetz vorgegebenen Unverletzlichkeit der Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2) die legislatorische und auch richterliche Pflicht her, die Europäische Menschenrechtskonvention auf die Stufe des Verfassungsrechts zu heben
Menschenrechte, Grundrechte und Menschenwürde im deutschen Hoheitsbereich – unter dieser Überschrift hält der Autor fest: «Stünde die Unverletzlichkeit [der Menschenrechte] auf der Stufe des einfachen Gesetzes, wäre sie nutzlos. In einem Erwägungsgrund der Präambel zur EMRK heißt es, dass die Mitglieder des Europarats die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte gewährleisten. Deutschland hat diese Verpflichtung unterschrieben. Dieser Mitgliedstaat kann sich erst dann umfassend zu den Befürwortern von Menschenrechten zählen, wenn voller Rechtsschutz gewährt wird. Die EMRK ist ein rechtlicher Zusammenhalt von verbundenen Mitgliedstaaten, die ein gemeinsames Anliegen haben. Solange die Bundesrepublik Deutschland sich nur auf dem Papier in die Menschenrechtskonvention eingliedert, werden die Verheißungen der Verfassung vernachlässigt.» Zuleeg sieht in den europäischen Menschenrechten eine «Bereicherung der deutschen Verfassung». (Seite 681)
Peter Häberle, Bayreuth / St. Gallen, unterzieht Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte einer kritischen Würdigung in vergleichender Perspektive
«Verfassungsgerichte sind auch die nur auf Teilverfassungen verpflichteten Gebietskörper, also nicht nur die nationalen, sondern auch die (übernational) regionalen Verfassungsgerichte wie der EGMR in Straßburg, der EuGH in Luxemburg oder der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica. Menschenrechtspakte sind Teilverfassungen par exellence. Das europäische Verfassungsrecht der EU ist aus meiner Sicht eine darüber hinaus greifende, intensiv wachsende Teilverfassung, wobei übrigens in der EU die jetzt 25 nationalen Verfassungen auf eine Weise ihrerseits nur noch Teilverfassungen sind. Die nationalen Verfassungsrichter mögen dies gewiss nicht so gerne hören.»
Zu Status und Wahl der Richter merkt der Autor an: «Die Wahlen der deutschen BVerfG-Richter sind wegen des strikt praktizierten, im Halbschatten sich durchsetzenden parteipolitischen Proporzes freilich kein Vorbild. Auch gibt es gewiss einen Punkt, von dem an es fragwürdig wird, zu viele Universitätsprofessoren in ein Verfassungsgericht zu wählen: Praktiker (vor allem Parlamentarier) mit Politikerfahrung bleiben unverzichtbar. (…)
Bemerkenswert ist die nachweisbar gesteigerte Rolle, die die Rechtsvergleichung in Sondervoten zu deutschen BVerfG-Urteilen spielt. Dies ist verständlich: Es besteht ein gesteigerter Legitimationsbedarf. Introvertierte Verfassungsinterpretation ist jedenfalls in der europäischen Verfassungsgemeinschaft der EU von heutenicht mehr möglich. Das BVerfG sollte auch endlich den Schritt wagen, durch seine prätorische Kraft die EMRK klar auf Verfassungsstufe zu heben, auf welcher sie in der Schweiz und in Österreich längst ist. (…)
Zuletzt sei auf Richtertugenden aufmerksam gemacht. (…) Ich meine etwa die Zurückhaltung in bestimmter Hinsicht. So ist es einem Verfassungsgerichtspräsidenten m.E. nicht erlaubt, sich dezidiert zu verfassungspolitischen Fragen seines Landes zu äußern, etwa zur Reform des GG, selbst wenn er zugleich Professor ist oder war (so aber kürzlich geschehen in Karlsruhe).» (Seite 685)
Luzius Wildhaber, Straßburg, zieht eine Bilanz des europäischen Grundrechtsschutzes aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
«In Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip verlangt die EMRK nicht so sehr den Einsatz bestimmter Mittel, sondern lediglich Ergebnisse und zwar die Herstellung von Rechtszuständen, die den Urteilen des Gerichtshofs entsprechen.
Die Optik der EMRK ist somit souveränitätsschonend. Genauso wie die Bundesrepublik Deutschland in Ausübung ihrer nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gewonnenen Souveränität der EMRK ohne Bedenken und ohne Vorbehalte beigetreten ist, haben nach dem Fall des Eisernen Vorhangs insgesamt 21 zentral- und osteuropäische, baltische und kaukasische Staaten das Konventionssystem als für sie verbindlich übernommen. So kann man heute für Europa den Satz aufstellen, dass nicht-demokratische, menschenrechtsverletzende Staaten nicht als souveräne Staaten betrachtet werden sollten, und das Souveränität nicht mehr die Verletzung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatsprinzip bedeutet, sondern im Gegenteil deren Einhaltung.» (Seite 689)
Siehe auch die Wildhaber-Bemerkungen zum Vortrag von BVerfG-Präsident Papier auf dem Europäischen Juristentag 2005 in Genf, EuGRZ 2005, 743 f. (in diesem Heft).
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beurteilt Tötung zweier unbewaffneter Roma auf der Flucht als Verletzung des Rechts auf Leben, lässt jedoch keine Beweislastumkehr wegen der behaupteten rassistischen Motive zu / Nachova u.a. gegen Bulgarien
Die Große Kammer [GK] bestätigt das Kammer-Urteil (EuGRZ 2005, 23), insofern der exzessive Waffengebrauch das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) verletzt. Der EGMR [GK] kritisiert über die Kammer-Entscheidung hinausgehend auch, dass die rechtliche Regelung für den Schusswaffengebrauch der Militärpolizei „in fundamentaler Weise mangelhaft“ war. Die Feststellung der EGMR-Kammer, der beklagte Staat habe seine Pflicht gem. Art. 2 Abs. 1 EMRK, „das Recht jedes Menschen auf das Leben zu schützen“, dadurch verletzt, dass die Behörden es unterlassen haben, die Umstände der Tötung effektiv zu untersuchen, wird von der Großen Kammer des EGMR ebenfalls bestätigt.
Zur behaupteten rassistischen Diskriminierung, also Verletzung des Rechts auf Leben aus rassistischen Motiven (Art. 14 i.V.m. Art. 2 EMRK), ändert die GK das Kammer-Urteil ab. Die Große Kammer betont den Unterschied zwischen einer Verletzung unter dem materiellen Aspekt der Vorschrift und einer Verletzung unter dem verfahrensmäßigen Aspekt. Die GK spricht sich gegen eine Beweislastumkehr aus, die dem beklagten Staat die Pflicht überbürdet, das Nichtvorliegen rassistischer Motive nachzuweisen. Sie stellt deshalb keine Verletzung unter dem materiellen Aspekt fest. Allerdings führt die unterlassene Untersuchung möglicher rassistischer Motive zu einer Verurteilung Bulgariens unter dem verfahrensmäßigen Aspekt von Art. 14 i.V.m. Art. 2 EMRK. (Seite 693)
Keine Beweislast-Umkehr – Daniel Thürer und Beat Dold, Zürich, setzen sich im Anschluss an ihren Aufsatz in EuGRZ 2005, 1 ff. mit dem Urteil der Großen Kammer des EGMR im Fall Nachova u.a. gegen Bulgarien auseinander
«Der EGMR verdankt sein Ansehen und die Respektierung seiner Urteile einer umsichtigen Rechtsprechung. Es mag dies der Grund gewesen sein, weshalb er im vorliegenden Entscheid eine eher zurückhaltende Auslegung vorzog und die Verurteilung Bulgariens nach Art. 14 i.V.m. Art 2 EMRK in lediglich prozessualer Hinsicht als genügend bzw. richtig ansah.» (Seite 697)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, für die Beurteilung des strafrechtlichen Verbots des öffentlichen Gebrauchs totalitärer Symbole offensichtlich unzuständig / Sowjetstern in Ungarn / Rs. Vajnai
§ 269/B des ungarischen StGB verbietet den öffentlichen Gebrauch totalitärer Symbole: Hakenkreuz, Abzeichen der SS, Pfeilkreuz, Hammer und Sichel, fünfzackiger roter Stern. Der vorlegende Budapester Gerichtshof sah im Hinblick auf das Verbot des fünfzackigen roten Sterns oder von Hammer und Sichel eine mögliche Diskriminierung gegenüber den Linksorganisationen z. B. in Italien, denen der Gebrauch der „Symbole der internationalen Arbeiterbewegung“ freistehe.
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis: «Es ist festzustellen, dass der Fall von Herrn Vajnai keinen Bezug zu einer der von den Bestimmungen der Verträge in Betracht gezogenen Situationen aufweist und dass die in dem Ausgangsverfahren angewandte ungarische Regelung nicht in den Bereich des Gemeinschaftsrechts fällt.» (Seite 699)
Der Vorlagebeschluss setzt sich in seiner europarechtlichen Unschuld nicht mit der Frage auseinander, ob das Verbot des Sowjetsterns – in Ungarn – dadurch gerechtfertigt sein könnte, dass der Aufstand des ungarischen Volkes 1956 von sowjetischem Militär unter dem Banner des Roten Sterns blutig niedergeschlagen worden ist.
EuGH erklärt Rahmenbeschluss des Rates der EU (2003/80/JI) zu Definition und Strafbarkeit bestimmter Umweltstraftaten für nichtig und schlägt in einem Kompetenzkonflikt zwischen EG und EU eine strikte Linie ein / Kommission gegen Rat
Der EuGH stellt fest, dass die entscheidenden Vorschriften «wirksam auf der Grundlage des Artikels 175 EG hätten erlassen werden können. (…) Damit verstößt der Rahmenbeschluss dadurch, dass er in die nach Artikel 175 EG der Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten übergreift, aufgrund seiner Unteilbarkeit in seiner Gesamtheit gegen Artikel 47 EU.» (Seite 700)
EuGH zur Heilung in GemeinschaftsVO nicht geregelter Mängel durch nationales Verfahrensrecht / Rs. Leffler
Die Rechtslücke betrifft das Fehlen einer Übersetzung bei der Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000. Der EuGH entscheidet: «Zur Lösung der Probleme, die damit zusammenhängen, wie das Fehlen einer Übersetzung zu heilen ist, und die in der Verordnung, so wie diese vom Gerichtshof ausgelegt wird, nicht geregelt sind, hat das nationale Gericht, wie in den Randnummern 50 und 51 des vorliegenden Urteils angegeben, sein nationales Verfahrensrecht anzuwenden und dabei dafür Sorge zu tragen, dass die volle Wirksamkeit der Verordnung unter Beachtung ihrer Zielsetzung gewährleistet wird.» (Seite 704)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt Anspruch auf wirksame Untersuchung bei Behauptung erniedrigender Behandlung durch Polizeibeamte
«Verhielte es sich so, wie [der Bf.] sagt, hätte also, als er bereits wehrlos mit auf dem Rücken gebundenen Armen auf dem Bauch am Boden lag, der Polizeibeamte ihn an den Haaren gefasst und seinen Kopf mehrmals auf den Boden geschlagen, läge darin eine gegen Art. 3 EMRK verstossende erniedrigende Behandlung. (…) Der prozessuale Teilgehalt dieser Bestimmung verschafft ihm einen Rechtsanspruch auf eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung seines Vorwurfs. Art. 13 EMRK gibt ihm überdies das Recht auf einen wirksamen Zugang zum Untersuchungsverfahren.» (Seite 711)
BGer präzisiert Abgrenzungskriterien für die Beiordnung eines Verteidigers im Untersuchungsverfahren
In Anbetracht der konkreten Strafsache (wenig komplexe Drogendelikte, Erwartung einer nur bedingten Freiheitsstrafe) waren die Strafverfolgungsbehörden nicht verpflichtet, dem Bf. von Amts wegen einen Verteidiger zu bestellen. (Seite 714)
BGer bestätigt programmrechtliche Zulässigkeit des Fernsehspots „Stopp-Werbeverbote“
«Die Zulässigkeit einer politischen Werbung am Fernsehen beurteilt sich deshalb im Einzelfall nach Treu und Glauben, wobei Verbote bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung auf das im Sinne des Entscheids des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte vom 28. Juni 2001 Erforderliche [Verein gegen Tierfabriken (VgT) gegen die Schweiz] zu beschränken sind.» (Seite 719)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stoppt Auslieferung einer Vietnamesin nach Vietnam wegen mangelnden rechtlichen Gehörs
«[Das Kammergericht] hat den Vortrag der Beschwerdeführerin zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens in Vietnam im Allgemeinen sowie zu Drogendelikten und zu ihrem Fall im Besonderen nicht hinreichend berücksichtigt.» (Seite 721)
BVerfG erklärt Aufrechterhaltung eines außer Vollzug gesetzten Untersuchungshaftbefehls wegen ungewissen Verfahrensfortgangs für verfassungswidrig
«Hilft der Staat der Überlastung der Gerichte nicht ab, so muss er es hinnehmen und gegebenenfalls auch seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass mutmaßliche Straftäter auf freien Fuß kommen, sich der Strafverfolgung und Aburteilung entziehen oder erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen.» (Seite 725)
BVerfG besteht dem OLG Düsseldorf gegenüber auf der Bindungswirkung seiner Kammer-Entscheidungen und ordnet wegen überlanger Verfahrensdauer (8 Jahre) selbst die unverzügliche Entlassung des Bf. aus der U-Haft an
«Nach dem vom Oberlandesgericht festgestellten und dokumentierten Verfahrensablauf fehlt jedes Bemühen, Zeugen und Sachverständige auf eine effiziente Art zu laden und einen straffen Verhandlungsplan festzulegen (vgl. hierzu auch EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – [Cevizovic|'/Deutschland] –, StV 2005, S. 136 [138] = EuGRZ 2004, 634). Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen wird verletzt, wenn – wie hier – lediglich an einem Sitzungstag pro Woche für wenige Stunden verhandelt wird und sich die Hauptverhandlung dadurch über Monate hinzieht, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.» (Seite 730)
BVerfG hebt einstweilige Anordnung gegen Zustellung einer überzogen erscheinenden US-amerikanischen Sammelklage in Höhe von 17 Milliarden Dollar (EuGRZ 2003, 528-532) auf, nachdem der Bertelsmann Verlag seine Verfassungsbeschwerde ohne Angabe von Gründen zurückgenommen hat. (Seite 739)
BVerfG sieht in Geldbuße wegen unzulässiger selbständiger Handwerksausübung ohne Meisterprüfung eine Verletzung der Berufsfreiheit eines Zimmerei-Gesellen und bezieht sich auf die durch EG-Recht sowie Konkurrenz EU-ausländischer Handwerker gewandelten Verhältnisse. (Seite 740)
EGMR-Präsident Wildhaber zum Vortrag von BVerfG-Präsident Papier auf dem Europäischen Juristentag 2005 in Genf
Wildhaber gibt u.a. zu bedenken: «Wenn unser Gerichtshof verpflichtet wäre, die Urteile der russischen, ukrainischen, türkischen und anderen zentral- und osteuropäischen Verfassungsgerichte allesamt unangetastet zu lassen, so würden wesentliche Teile der Rechtsprechung zu den Menschenrechten in den Mitgliedstaaten von einer Kontrolle durch unseren Gerichtshof ausgeklammert. (…) Für den Fall, dass primär daran gedacht sein sollte, dass die Urteile des deutschen Verfassungsgerichts möglichstwenig angerührt werden sollten, kann man nur sagen, dass ziemlich alle anderen Staaten ähnliche Vorstellungen haben, was die Unantastbarkeit der Urteile der eigenen nationalen Gerichte betrifft. (…)
[Die Formulierung im Görgülü-Beschluss des BVerfG (EuGRZ 2004, 741 (748)), das OLG Naumburg sei „im … Ergebnis nicht gebunden“] hat mir zahlreiche Anrufe von Medien aus Russland, Polen, der Türkei und der Schweiz eingetragen, die sich erkundigt haben, warum ihre Länder sich noch an die Rechtsprechung unseres Gerichtshofes halten sollten, wenn Deutschland nicht gebunden sei.» (Seite 743)
EuGH-Verfahren zur Staatshaftung bei offensichtlichem Verstoß eines letztinstanzlichen Gerichts (hier: Oberster italienischer Kassationsgerichtshof) gegen das Gemeinschaftsrecht und Nichtvorlage an den EuGH. / Rs. Traghetti del Mediterraneo. (S. 744)