EuGRZ 2002 |
18. Dezember 2002
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29. Jg. Heft 21-23
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Informatorische Zusammenfassung
Luzius Wildhaber, Straßburg, kleidet die Sorge um den Fortbestand der Institution, deren Präsident er ist, in die Frage nach einer „verfassungsrechtlichen Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“
«So … ist der Stellenwert der Hilfe für Einzelne, so bedeutsam er auch gerade bei schweren Verletzungen sein mag, zweitrangig im Vergleich zum Hauptziel, das darin besteht, das allgemeine Niveau des Menschenrechtsschutzes anzuheben und die damit zusammenhängende Rechtsprechung auf die gesamte Gemeinschaft der Vertragsstaaten der Konvention auszudehnen. (…) Angesichts der gegenwärtigen Lage mit einer ständig steigenden Zahl von Fällen aus 44 Staaten, die bald 45 und mehr sein werden, und die eine Bevölkerung von etwa 800 Millionen Einwohnern umfassen, kann die Zukunftdes Systems unmöglich auf der individuellen Wiedergutmachung beruhen. (…)
In der ersten Hälfte des Jahres 2002 erhöhte sich die Zahl der hängigen Fälle um ungefähr 1.000 pro Monat. Das Erhöhungspotential ist infolge der massiven Erweiterung des Europarats seit dem Fall des Eisernen Vorhangs fast unbegrenzt, und diese Situation wird sich noch verschlimmern, wenn weitere Mitgliedstaaten die Konvention ratifizieren. (…)
Die Rolle unseres Gerichtshofs sollte auf Grundsatzentscheide zur europäischen Verfassungsordnung beschränkt werden, welche eine europäische öffentliche Ordnung der Menschenrechte, der Demokratie, und des Rechtsstaates aufzubauen vermag. Offensichtlich unbegründete Fälle sollten durch eine neue Abteilung erstinstanzlicher Richter oder Magistraten innerhalb des Gerichtshofes ausgeschieden werden. Die Probleme, welche den Gruppen von offensichtlich wohl-begründeten Fällen zugrunde liegen (zum Beispiel Verfahrensdauer oder Nichtdurchführung von rechtskräftigen Gerichtsurteilen) sollten vom Gerichtshof durch verfassungsrechtliche Grundsatzentscheide gelöst werden. Die darauf folgenden, repetitiven Fälle sollten dann als Vollzugsproblem betrachtet werden, welches primär in der Zuständigkeit des Ministerkomitees liegen könnte.» (Seite 569)
Siegfried Broß, Karlsruhe, betont in seinen „Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses“ einen gewissen Unmut im Hinblick auf „Probleme, Risiken und Chancen“
«Die Diskussion muss jetzt geführt werden, weil mit Rücksicht auf die eingeleitete Entwicklung, wie die Erklärung von Laeken richtig feststellt, Europa am Scheideweg steht.»
Der Autor, der innerhalb des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts für Rechtsfragen der EU zuständig ist, geht im einzelnen auf das Subsidiaritätsprinzip ein, wiederholt seine Forderung nach einem zusätzlichen Kompetenzkonflikt- und Schiedsgericht auf Gemeinschaftsebene, kritisiert die Grundrechtecharta, erklärt die vom Bundesverfassungsgericht im Solange-Beschluss (EuGRZ 1974, 5) erhobene Forderung nach einer Grundrechtsentwicklung auf Gemeinschaftsebene für falsch, spricht sich für ein Beibehalten des Einstimmigkeitsprinzips in der Gemeinschaft aus, befürwortet im Hinblick auf die Osterweiterung „gestufte Beitritte“ und fordert die Abschaffung der Regelung in Art. 104 EGV, nach der zur Sicherung der Stabilitätskriterien Geldbußen verhängt werden können: «Insofern bedarf es einer Revision und einer Zurückführung auf die herkömmlichen Aufsichtsmittel eines zivilisierten Staatswesens.» (Seite 574)
Jochen Herbst, Köln, hinterfragt die auf amerikanischen Druck vom UN-Sicherheitsrat einstweilen zugestandene „Immunität von Angehörigen der U.S.-Streitkräfte vor der Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof“
«Zum Schutze Angehöriger von U.S.-Streitkräften vor der Strafverfolgung durch den am 1. Juli 2002 errichteten Internationalen Strafgerichtshof haben die USA dem UN-Sicherheitsrat insbesondere unter Androhung der Einlegung ihres Vetos gegen eine Verlängerung der Bosnien-Friedensmission am 12. Juli 2002 die Resolution 1422 (2002) abgetrotzt.
Für den Erlass der Resolution, die Bindungswirkung sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten als auch für den Internationalen Strafgerichtshof beansprucht, läßt sich dabei kaum eine Rechtsgrundlage nach der Charta der Vereinten Nationen erkennen.»
Herbst hält die Einholung eines Gutachtens beim Internationalen Gerichtshof (IGH) im Haag durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen für zielführend, damit «in einem gerichtlichen Verfahren innerhalb des Systems der Vereinten Nationen durch deren unabhängiges Hauptrechtsprechungsorgan festgestellt wird, dass der Sicherheitsrat seine Kompetenzen mit dem Erlass der Resolution 1422 überschritten hat und die Resolution daher keine rechtlichen Bindungswirkungen entfaltet». (Seite 581)
Wortlaut der Resolution 1422 (2002) des UN-Sicherheitsrats, Text der von der U.S.-Regierung forcierten bilateralen Immunitätsabkommen und Leitprinzipien der EU gegenüber den U.S.-Immunitätsabkommen sind abgedruckt unter Dokumentation, S. 644-666.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, qualifiziert Geldbuße wegen Verstoßes gegen ärztliches Werbeverbot (hier: Zeitungsinterview mit Foto) als Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit / Stambuk gegen Deutschland
Der EGMR stellt fest, «dass die Veröffentlichung sich auf eine neue Laseroperationsmethode zur Behandlung der Fehlsichtigkeit bezog und damit die Bevölkerung über ein Thema aufklärte, das von allgemeinem medizinischen Interesse war. (…) Dem Bericht kann durchaus ein Werbeeffekt zugunsten des Beschwerdeführers und seiner Praxis zugesprochen werden, aber gemessen am Hauptinhalt des Artikels erweist sich diese Werbewirkung als zweitrangig.» (Seite 589)
EGMR weist bei getrennt lebenden Eheleuten Berufung auf Art. 8 EMRK (Schutz des Familienlebens) zurück und hält die Rückkehr einer Türkin zu ihren Kindern in der Türkei für zumutbar / Taskin gegen Deutschland
Im konkreten Fall hat der EGMR das Verfahren durch Streichung im Register beendet, da sich der Stadtverband Saarbrücken in einem Teilvergleich vor dem Verwaltungsgericht des Saarlandes verpflichtet hat, der Bf. wegen ihres bedenklichen Gesundheitszustandes (somatisierte Depression mit Gangstörung) eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen und damit auf die Abschiebung zu verzichten. (Seite 593)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, konkretisiert ein unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft sich ergebendes fortwirkendes Aufenthaltsrecht mit weiteren Konsequenzen für Kinder und Ehepartner aus Drittstaaten / Rs. Baumbast und R
In dem auf Vorlage eines britischen Gerichts ergangenen Urteil heißt es: «Ein Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt, kann dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Art. 18 Abs. 1 EG ergibt.»
Kinder eines EU-Bürgers haben ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht, um weiterhin am allgemeinen Schulunterricht teilzunehmen. Das gilt auch, wenn die Eltern geschieden sind und nur einer von ihnen Unionsbürger ist, und selbst dann, wenn die Kinder eine andere Staatsangehörigkeit haben.
In einem solchen Fall ist Art. 12 der VO Nr. 1612/68 so auszulegen, «dass er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit [hier: Kolumbianerin bzw. Amerikanerin] den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern». (Seite 596)
EuGH festigt Schutz vor Willkür und unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt und bekräftigt Reichweite der EMRK in von der EU-Kommission angestrengten Kartellverfahren / Rs. Roquette Frères
Der EuGH erweitert in Auslegung des Hoechst-Urteils (EuGRZ 1989, 395) und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR den von ihm bzw. – auf Antrag der EU-Kommission – von innerstaatlichen Gerichten zu gewährenden Rechtsschutz auch auf Geschäftsräume.
In dem auf Vorlage des französischen Kassationsgerichtshofs ergangenen Urteil führt der EuGH aus: «Bei der Bestimmung der Tragweite dieses Grundsatzes [Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen] hinsichtlich des Schutzes der Geschäftsräume von Unternehmen ist die nach dem Urteil Hoechst/Kommission ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, aus der sich zum einen ergibt, dass der Schutz der Wohnung, um den es in Artikel 8 EMRK geht, unter bestimmten Umständen auf Geschäftsräume ausgedehnt werden kann (…), und zum anderen, dass der Eingriffsvorbehalt nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK „bei beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten oder Räumen sehr wohl weiter gehen könnte als in anderen Fällen“.» (Seite 604)
Italienischer Verfassungsgerichtshof / Corte costituzionale, Rom, sieht in der Menschenwürde eine Grenze der Meinungsfreiheit
Die Strafbarkeit von Presseveröffentlichungen, die besondere Abscheu erregen, ist bei behutsamer, die Grundwerte der Meinungsfreiheit beachtender, Anwendung der Strafvorschrift verfassungsgemäß. (Seite 613)
Corte costituzionale lässt Abgeordnetenimmunität nicht als Freibrief zur Missachtung der Richterehre gelten
Die Verurteilung des Berlusconi nahestehenden Abgeordneten Vittorio Sgarbi, der den Leiter der Staatsanwaltschaft von Palermo Giancarlo Caselli auf einer öffentlichen Veranstaltung u. a. als „perversen Kopf“ bezeichnet hat, wegen schwerer Verleumdung ist verfassungsgemäß. (Seite 613)
Jörg Luther, Alessandria, stellt in seiner Anmerkung die Entscheidung in den Gesamtzusammenhang der Immunitätsrechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs:
«Im vorliegenden Fall hat die Corte costituzionale letzte Zweifel daran ausgeräumt, dass auch die Kontrollaufgaben des Parlamentariers gegenüber der dem Justizminister unterstehenden Justizverwaltung nur solche Äußerungen decken, die in einem konkreten funktionellen Zusammenhang mit innerparlamentarischen Tätigkeiten stehen.» (Seite 614)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erklärt das gesetzliche Eheschliessungsverbot zwischen Stiefvater und Stieftochter mit Art. 12 EMRK für vereinbar
Das gilt auch, wenn aus der Beziehung Kinder hervorgegangen sind. Das BGer gibt dem Familienfrieden und dem Schutz der freien Entfaltung und sexuellen Integrität des Stiefkindes den Vorrang. (Seite 616)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erkennt im Werbeverbot für Ärzte, per Flugblatt oder Postwurfsendung Preislisten und Rabattangebote zu verbreiten, keine Verletzung der Meinungsfreiheit
«Dass aufdringliche Werbung das Standesansehen eines Arztes beeinträchtigt und ein entsprechendes Verbot von Art. 10 Abs. 2 EMRK gedeckt ist, wird auch vom antragstellenden Oberlandesgericht Wien nicht in Zweifel gezogen.» (Seite 619)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, zur Verwertung von Zeugenaussagen im Zivilprozess, die auf rechtswidrigem Mithören von Telefongesprächen Dritter beruht
«Die Gewährleistung des Rechts am gesprochenen Wort als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG schützt vor der Nutzung einer Mithöreinrichtung, die ein Gesprächsteilnehmer einem nicht an dem Gespräch beteiligten Dritten bereitstellt. Art. 10 Abs. 1 GG umfasst diesen Schutz nicht. (…)
Das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG erfasste allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt Elemente der Persönlichkeit, die nicht schon Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung nicht nachstehen.» (Seite 624)
BVerfG entwickelt am Anlassfall des, im wesentlichen verfassungsgemäßen, Altenpflegegesetzes Kriterien für die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern
«Ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG besteht nicht.» Die Erforderlichkeitsklausel unterscheidet alternativ drei mögliche Ziele als Voraussetzung zulässiger Bundesgesetzgebung: Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, Wahrung der Wirtschaftseinheit. (Seite631)
BVerfG erklärt Geldbuße wegen Abgabe von Medikamenten in kostengünstigen Krankenhauspackungsgrößen für verfassungswidrig
Die 2. Kammer des Ersten Senats gibt der Verfassungsbeschwerde einer Apothekerin wegen Verletzung von Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 103 Abs. 2 GG statt. (Seite 659)
BVerfG hält Landeskinder-Klausel für Notarstellen (hier: in Nordrhein-Westfalen) für bedenklich
Allerdings stellt die 2. Kammer des Ersten Senats fest, durch die Wiederaufnahme des Auswahlverfahrens sei die Beschwer entfallen. (Seite 662)
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN-SR), New York, gewährt Amerikanern, die an Friedenseinsätzen der Vereinten Nationen beteiligt sind, einstweilige Immunität gegenüber dem IStGH
Die Resolution 1422(2002) ist zeitlich auf 12 Monate begrenzt. Der Sicherheitsrat bekundet allerdings die Absicht, das Immunitätsersuchen an den IStGH jeweils um ein Jahr zu verlängern, «solange dies notwendig ist». (Seite 664)
Cf. den Aufsatz von Jochen Herbst (in diesem Heft S. 581), der die Resolution für rechtlich nicht bindend hält, da der Sicherheitsrat seine Kompetenzen überschritten hat.
Vereinigte Staaten von Amerika forcieren bilaterale Immunitätsabkommen zur Ausschaltung des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Text des Vertragsmusters. (Seite 664)
Der Rat der EU hat Leitprinzipien beschlossen, denenzufolge der Abschluss eines U.S.-Immunitätsabkommens mit den Vertragspflichten aus dem IStGH-Statut nicht vereinbar ist. (Seite 665)
EU-Verfassungskonvent, Brüssel, legt vom Präsidium ausgearbeiteten Struktur-Vorentwurf für einen EU-Verfassungsvertrag vor. Europäisches Parlament plädiert für Aufnahme der unveränderten Grundrechtecharta in künftigen Verfassungsvertrag. Rat beschließt Stimmengewichtung nach Osterweiterung. (Seiten 666, 670, 674)
EuGH / Generalanwältin Christine Stix-Hackl kommt in ihren Schlussanträgen zur Wehrpflicht nur für Männer (Rs. Dory) zu dem Ergebnis, dass diese nicht gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot verstößt. (Seite 675)