EuGRZ 2009 |
30. Dezember 2009
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36. Jg. Heft 21-23
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Informatorische Zusammenfassung
Luzius Wildhaber, Basel, überdenkt Zustand und Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Der vormalige Präsident des EGMR hält zunächst fest: «Die EMRK ist ein Produkt des realistischen Idealismus. Sie stellt eine direkte Reaktion auf die Greueltaten der 1930er und 1940er Jahre dar. Sie beruht auf dem Glauben, dass Demokratien, welche Menschenrechte achten, keine Kriege gegeneinander führen, und dass es deswegen nicht mehr eine Sache der rein inneren Angelegenheiten sein kann, ob Demokratien zu Diktaturen degenerieren. (…) Das Risiko, dass Staaten versucht sein könnten, alle Menschenrechte (auch diejenigen der EMRK) nur noch als „soft law“ anzusehen und sie dem „Souveränitäts-Veto“ ihrer Regierungen zu unterstellen, besteht durchaus.»
Zu der durch die Aufnahme der vormaligen kommunistischen Diktaturen Ost- und Mitteleuropas in den Europarat verursachten sprunghaft ansteigenden Überlastung des Gerichtshofs führt Wildhaber aus:
«Indessen würde das Problem der Arbeitslast des Gerichtshofs erst dann einer dauernden Lösung näherkommen, wenn (und dies ist ein bedeutsames „wenn“) die Richter überzeugt werden können, dass es in ihrer Verantwortung liegt, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Konventionsgarantien effektiv und real sind, sondern dass auch das ganze Konventionssystem effektiv und real zu machen ist. Die Prioritäten und das Management des gesamten Systems sollten neu bewertet und gegebenenfalls neu geordnet werden; der unausweichliche Schluss, dass der Gerichtshof seine Arbeitslast nicht bewältigen kann, sollte zu einer restriktiveren Praxis sowohl bei den Zulässigkeitsentscheiden wie bei den Sachurteilen führen; und eine neue Bescheidenheit sollte zur Erkenntnis führen, dass der EGMR weiterhin effektive und reale (und nichtnur illusorische) Fortschritte machen kann, aber nur, wenn er korrekt funktioniert.
Wer hier denken sollte, dass meine Argumente allen Tadel dem Gerichtshof zuweisen wollen, täuscht sich. Im Gegenteil, die meisten politischen Akteure haben – im verständlichen, aber ungestümen Optimismus der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – die Schwierigkeiten unterschätzt und die wirklichen Möglichkeiten des Gerichtshofs überschätzt, die nationalen politischen und Gerichtssysteme tiefgreifend zu ändern. Und sie haben es unterlassen, die Lage neu zu bewerten und dann die Konsequenzen zu ziehen.» (Seite 541)
Jörg Luther, Alessandria, kommentiert das Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs, das die Berlusconi-Initiative, die Aussetzung von Strafverfahren gegen Träger der höchsten Staatsämter zu erreichen, für verfassungswidrig erklärt
«Mit seinem Urteil Nr. 262 vom 7. Oktober 2009 (EuGRZ 2009, 613, in diesem Heft) hat der italienische Verfassungsgerichtshof erneut ein von der Regierungsmehrheit verabschiedetes Gesetz für verfassungswidrig erklärt, das „zum Schutze der unabdingbar erforderlichen Kontinuität und regulären Ausübung der höchsten öffentlichen Funktionen“ das Ruhen aller laufenden Strafverfahren zulasten der Inhaber der vier höchsten Staatsämter bis zum Ende einer Amtszeit angeordnet hatte.
Bereits im Jahre 2004 war ein vergleichbares Gesetz für verfassungswidrig erklärt worden (Urteil Nr. 24/2004, EuGRZ 2005, 385 f.). Der vom Staatspräsidenten dem Parlament zugeleitete neuerliche Regierungsentwurf war mit einer Auslegung dieses Urteils begründet worden, nach der das Verfassungsgericht keinen Verfassungsgesetzesvorbehalt für derartige Regelungen erklärt habe und lediglich Bedingungen für eine verfassungsmäßige Neuregelung durch den Gesetzgeber benannt habe. Das Verfassungsgerichtsurteil Nr. 24/2004 hatte einen Verstoß des Gesetzes Nr. 140/2003 gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Recht auf Verteidigung bzw. Rechtsschutz festgestellt. Das Gesetz Nr. 124/2008 gewährte deshalb dem Beschuldigten das Recht, auf die Aussetzung der Verfahren zu verzichten. Dem Privatkläger wurde das Recht gewährt, seine Rechtsansprüche vor einem Zivilrichter durchzusetzen. Der Staatsanwaltschaft wurde gestattet, unaufschiebbare Beweiserhebungen vorzunehmen. Die Möglichkeit einer Verkettung der Aussetzungen wurde auf die erste Wiederwahl bzw. -ernennung beschränkt. Von der Anwendung des Gesetzes betroffen waren der Ministerratspräsident und der Präsident der Abgeordnetenkammer. In der daraufhin eingeleiteten inzidenten Normenkontrolle wurde das Gesetz wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz „in Verbindung mit“ der Vorschrift, die das Verfahren der Verfassungsänderung regelt, für verfassungswidrig erklärt. (…)
Auf der einen Seite dieses Streites stehen die Regierungsmehrheit und ihre damaligen und heutigen Prozessvertreter, die an der Ausarbeitung des Gesetzes maßgeblich beteiligt waren, auf der anderen Seite die Richter und Staatsanwälte und der überwiegende Teil der parlamentarischen Opposition. Aus der einen Sicht geht es um die Verteidigung der Demokratie vor einem Missbrauch richterlicher Macht, aus der anderen Sicht um eine Verteidigung des Rechtsstaats vor einem Missbrauch von Wahlämtern.» (Seite 553)
Hans-Georg Franzke, Münster, behandelt die neuen Regeln zur (straf)rechtlichen Verantwortlichkeit des französischen Staatspräsidenten
«Präsident Chirac hat außer der Erfüllung seines Wahlversprechens durch die Neuregelung persönlich wenig gewonnen. Das Ende seiner Immunität nach Art. 67 Abs. 2 Verf. ist durch Art. 67 Abs. 3 n.F. allerdings auf einen Monat nach Beendigung seiner Amtszeit hinausgeschoben worden. Auch danach darf er jedoch nur wegen nicht auf das Präsidentenamt bezogener Handlungen verfolgt werden, also insbesondere wegen der Affairen aus seiner Amtszeit als Pariser Bürgermeister und Parteivorsitzender.» (Seite 559)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beanstandet die überlange Verfahrensdauer in einem familienrechtlichen Verfahren (1 J., 9 M.) als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK / Abduvalieva gegen Deutschland
Das Kind wurde wegen seiner Weigerung, die Obhut des Vaters zu verlassen und zur sorgeberechtigten Mutter zurückzukehren, in einem staatlichen Heim untergebracht. Die Mutter klagt auf Herausgabe des Kindes. (Seite 563)
EGMR sieht in der überlangen Dauer der U-Haft wegen nicht zügiger Haftprüfung (2 M., 3 W.) und der Verweigerung der Akteneinsicht im Haftprüfungsverfahren jeweils Verletzungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK / Mooren gegen Deutschland
Zur Verweigerung der Akteneinsicht heißt es in dem Urteil: «Das Verfahren, das nach Art. 5 Abs. 4 der Konvention vor dem Gericht geführt wird, das die Haftbeschwerde prüft, muss kontradiktorisch sein und stets „Waffengleichheit“ zwischen den Prozessparteien – dem Staatsanwalt und der Person, der die Freiheit entzogen ist – gewährleisten. (…) Die Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in der Ermittlungsakte versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandaten wesentlich sind.» (Seite 566)
EGMR erklärt Beschwerde von Kindern, deren Väter im Zweiten Weltkrieg – obwohl Franzosen (Elsässer und Lothringer) – vom Nazi-Regime zwangsweise zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurden (Magré-nous) und gefallen sind, für unzulässig; die Waisen hatten gerügt, von Deutschland nicht individuell entschädigt worden zu sein / Ernewein u.a. gegen Deutschland
Obwohl die Bf. lediglich eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet, nicht aber den innerstaatlichen Rechtsweg beschritten hatten, begnügt der EGMR sich nicht mit einem Hinweis auf die Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs als Zulässigkeitsvoraussetzung, sondern zeichnet das Schicksal der „Malgré-nous“ in ihrer Tragik ebenso nach wie die Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland an die Französische Republik. (Seite 580)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sieht in der nur für Ortsfremde geltenden regionalen Landungssteuer für touristische Privatflüge und Freizeitboote auf Sardinien eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG) / Rs. Presidente del Consiglio dei Ministri
Das Argument der Region Sardinien, die Steuer beruhe insbesondere auf einer neuen Regionalpolitik zum Umwelt- und Landschaftsschutz weist der EuGH zurück und stellt ferner fest, dass die inkriminierte Regelung außerdem eine staatliche Beihilfemaßnahme zugunsten der in Sardinien ansässigen Unternehmen darstellt. (Seite 582)
Das vorliegende Urteil geht auf das erste Vorabentscheidungsersuchen des italienischen Verfassungsgerichtshofs zurück. Cf. Kokott in ihren Schlussanträgen, EuGRZ 2009, 418 (420 bei Fn. 13).
EuGH prüft die Zulässigkeit einer Unterlassungsklage (hier des Landes Oberösterreich) gegen Gefahren schädlicher Einwirkungen durch behördlich genehmigte Industrieanlagen im benachbarten EU-Ausland (hier: tschechisches Kernkraftwerk Temelín) unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsverbots / Rs. ČEZ
«Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich des EAG-Vertrags steht der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, nach denen ein Unternehmen, das über die erforderlichen Genehmigungen für den Betrieb eines Kernkraftwerks in einem anderen Mitgliedstaat verfügt, im Hinblick auf die von dieser Anlage ausgehenden schädlichen Einwirkungen oder die Gefahr schädlicher Einwirkungen auf benachbarte Grundstücke auf Unterlassung verklagt werden kann, während Unternehmen mit einer industriellen Anlage im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des Gerichtsstands, für die dort eine behördliche Genehmigung erteilt wurde, nicht mit einer solchen Klage belangt und nur auf Zahlung von Schadensersatz für die Beeinträchtigung eines benachbarten Grundstücks gerichtlich in Anspruch genommen werden können.» (Seite 588)
EuGH sieht in zu kurzer Klagefrist (15 Tage) bei Kündigung während der Schwangerschaft und in dem Ausschluss einer arbeitsrechtlichen Schadensersatzklage eine Behinderung der Effektivität der Rechtsausübung / Rs. Pontin
Der Gerichtshof weist allerdings mehrfach darauf hin, dass die Prüfung im Hinblick auf Art. 10 und 12 der Richtlinie 92/85/EWG bzw. Art. 2 der RL 76/207/EWG vom innerstaatlichen (luxemburgischen) Gericht vorzunehmen ist. (Seite 600)
EuGH präzisiert Gründe, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann / Rs. Wolzenburg
Konkret geht es um einen deutschen Staatsbürger, der wegen Drogendelikten rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, sich dann jedoch den Bewährungsauflagen durch ein Übersiedeln in die Niederlande entzog. Das zuständige Amtsgericht widerrief die Aussetzung der Strafe zur Bewährung und erließ einen Europäischen Haftbefehl. Daraufhin ließ sich der Betroffene in den Niederlanden als Unionsbürger registrieren und widersetzte sich der Übergabe an Deutschland mit dem Argument, als in den Niederlanden ansässiger Unionsbürger dürfe er gegenüber den niederländischen Staatsangehörigen nach Gemeinschaftsrecht nicht diskriminiert werden und sei deshalb den deutschen Behörden nicht zu übergeben.
Das vorlegende (niederländische) Gericht stellt im Wesentlichen Fragen zu Fristen rechtmäßiger Aufenthaltsdauer und zum Diskriminierungsverbot, geht jedoch der Frage einer rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Unionsbürgerschaft ebenso wenig nach wie der EuGH. (Seite 607)
Italienischer Verfassungsgerichtshof (VerfGH), Rom, erklärt ein weiteres auf Initiative von Ministerpräsident Berlusconi verabschiedetes Gesetz zu Aussetzung von Strafverfahren gegen Träger der höchsten Staatsämter für verfassungswidrig
Nachdem der Staatspräsident das Gesetzt ausgefertigt hatte, wurden drei gegen den Ministerpräsidenten und andere wegen Bilanzfälschung, Zeugen- und Abgeordnetenbestechung anhängige Strafverfahren ausgesetzt und eine inzidente Normenkontrolle vor dem Verfassungsgerichtshof eingeleitet.
Die Vorlage des Tribunale di Milano wurde für begründet erklärt: «Die festgestellte Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes berührt auch in besonderer Weise die von der gerügten Norm bedachten hohen Staatsämter: einerseits durch die Ungleichbehandlung der Präsidenten gegenüber den übrigen Mitgliedern der jeweiligen Verfassungsorgane, andererseits durch die Gleichbehandlung untereinander nicht homogener Ämter.» (Seite 613)
S. hierzu den Aufsatz von J. Luther in diesem Heft auf S. 553.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, nimmt zur Immunität von Richtern Stellung und präzisiert die Begründungspflichten politischer Organe bei der Ablehnung der Ermächtigung zu deren Strafverfolgung
Im konkreten Fall war ein Taxifahrer von einem Täter erstochen worden, gegen den der betroffene Richter zwar vor der Tat Sicherheitshaft angeordnet, nicht jedoch deren unverzüglichen Vollzug angeordnet hatte. Die nahen Angehörigen des Opfers fochten mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde die Entscheidung des Kantonsrats an, die Ermächtigung zur Strafverfolgung des zuständigen Richters wegen fahrl. Tötung abzulehnen. Das BGer heißt die Verfassungsbeschwerde gut. (Seite 619)
BGer billigt Observation versicherter Personen durch Privatdetektive zur wirksamen Bekämpfung von Missbräuchen
Das Bundesgericht grenzt die genannte Möglichkeit jedoch ein: «Auch wenn die Observation von einer Behörde angeordnet wurde, verleiht sie den beobachtenden Personen nicht das Recht, in die Intimsphäre der versicherten Person einzugreifen.» (Seite 621)
BGer betont, dass zur Anordnung von Sicherheitshaft für die Annahme von Fluchtgefahr die Flucht nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sein muss und erörtert wirksame Ersatzmaßnahmen
In dem Urteil heißt es u.a.: «Das Regime der Ersatzmassnahmen hat sich seit der Haftentlassung der Beschwerdeführerin am 31. Oktober 2002 bis zu ihrer neuerlichen Verhaftung während mehr als 6 \\2 Jahren bewährt, was unter den dargelegten Umständen zur Annahme berechtigt, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird. Sicherheitshaft als „ultima ratio“ scheidet daher aus.» (Seite 623)
BGer nimmt zu Kriterien für Auslieferungshaft wegen Fluchtgefahr und der möglichen Ersatzmaßnahme des „Electronic Monitoring“ Stellung
Konkret geht es um das Ersuchen italienischer Behörden, einen in der Schweiz ansässigen italienischen Staatsangehörigen wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation und Drogenhandels auszuliefern.
Das BGer weist auch darauf hin, dass das „Electronic Monitoring“ auch in der im Jahr 2011 in Kraft tretenden Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 vorgesehen ist. (Seite 626)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, beanstandet die Nichtanwendung einer Steuerbefreiung für gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften auf die Zeugen Jehovas
Der VfGH bleibt bei seiner Rechtsprechung, dass gegen die Differenzierung zwischen (gesetzlich) anerkannten und nicht anerkannten Religionsgemeinschaften grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Er hat jedoch im Hinblick auf das Urteil des EGMR vom 31. Juli 2008 im Fall Zeugen Jehovas u.a. gegen Österreich davon auszugehen, dass die Anwendung der Zehn-Jahres-Frist im Anerkennungsverfahren der Bekenntnisgemeinschaft Zeugen Jehovas der EMRK widersprach. Demzufolge gibt der VfGH dem Antrag in Ansehung des EGMR-Urteils statt. (Seite 629)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt das Verbot einer ehrenden Gedenkveranstaltung am Grab von Rudolf Hess („Stellvertreter des Führers“) in Wunsiedel als propagandistische Gutheißung der nationalistischen Gewalt- und Willkürherrschaft
Der Erste Senat argumentiert: «Der Eingriff in die Meinungsfreiheit ist gerechtfertigt. § 130 Abs. 4 StGB ist eine gesetzliche Grundlage, die in verfassungsrechtlich zulässiger Weise einen Eingriff in die Meinungsfreiheit rechtfertigen kann. (…)
Die endgültige Überwindung der nationalsozialistischen Strukturen und die Verhinderung des Wiedererstarkens eines totalitär nationalistischen Deutschlands war schon für die Wiedererrichtung deutscher Staatlichkeit durch die Alliierten ein maßgeblicher Beweggrund und bildete (…) eine wesentliche gedankliche Grundlage für die Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948, in denen die Militärgouverneure die Ministerpräsidenten aus ihren Besatzungszonen mit der Schaffung einer neuen Verfassung beauftragten. Auch für die Schaffung der Europäischen Gemeinschaften sowie zahlreiche internationale Vertragswerke wie insbesondere auch die Europäische Menschenrechtskonvention ging von den Erfahrungen der Zerstörung aller zivilisatorischen Errungenschaften durch den Nationalsozialismus ein entscheidender Impuls aus. Sie prägen die gesamte Nachkriegsordnung und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkergemeinschaft bis heute nachhaltig.» (Seite 631)
BVerfG beanstandet Strafverfahren gegen hochbetagten (88-jährigen) und herzkranken Beschuldigten trotz gesundheitlicher Risiken nicht
Die 2. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Das Oberlandesgericht hat Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erkannt und ist bei seiner verfassungsrechtlichen Prüfung zutreffend davon ausgegangen, dass eine Abwägung zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem grundrechtlich geschützten Interesse des Beschwerdeführers an seiner körperlichen Unversehrtheit vorzunehmen ist.» (Seite 645)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde gegen die Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon (EuGRZ 2009, 534) nicht zur Entscheidung an
Die 2. Kammer des Zweiten Senats führt u.a. aus: «Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 entschieden, dass das Zustimmungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die europäische Integration ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts über den Vertrag von Lissabon verfassungskonform realisierbar, soweit die gesetzgebenden Körperschaften ihrer Integrationsverantwortung nachkommen.» (Seite 648)
BVerfG bestätigt Einsatz der Bundeswehr im Kosovo auch nach dessen Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 ohne erneute Zustimmung des Bundestages als verfassungsgemäß
Der Zweite Senat lehnt den Antrag der Fraktion DIE LINKE im Organstreitverfahren als offensichtlich unbegründet ab. (Seite 649)
BVerfG zur Effektivität des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes
Die 3. Kammer der Ersten Senats gibt der Verfassungsbeschwerde eines muslimischen Metzgers auf vorläufige Duldung des betäubungslosen Schlachtens (Schächten) von wöchentlich zwei Rindern und dreißig Schafen statt. (Seite 653)
BVerfG sieht in den Ladenöffnungszeiten an den vier Adventssonntagen (13 bis 20 Uhr) in Berlin einen Verstoß gegen die Gewährleistung der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen gem. Art. 4, Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 Weimarer Reichsverfassung
Der Erste Senat führt aus: «Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG [Religionsfreiheit] wird in seiner Bedeutung als Schutzverpflichtung des Gesetzgebers durch den objektivrechtlichen Schutzauftrag für den Sonn- und Feiertagsschutz aus Art. 139 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) konkretisiert, der neben seiner weltlich-sozialen Bedeutung in einer religiös-christlichen Tradition wurzelt. (…)
Mit der Gewährleistung rhythmisch wiederkehrender Tage der Arbeitsruhe konkretisiert Art. 139 WRV überdies das Sozialstaatsprinzip. (…) Der Sonn- und Feiertagsgarantie kann schließlich ein besonderer Bezug zur Menschenwürde beigemessen werden, weil sie dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient.» (Seite 658)
BVerfG zum Atom-Endlager im Bergwerk Konrad in Salzgitter / Radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung
Die 3. Kammer des Ersten Senats nimmt eine im Wesentlichen gegen den Planfeststellungsbeschluss gerichtete und auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 14 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. (Seite 676)
BVerfG erklärt Abweisung eines Geldentschädigungsanspruchs wegen einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung durch Polizeieinsatzkräfte am Rande einer Großdemonstration (hier: bei Gorleben) für verfassungswidrig
«Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass der Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens gebietet, weil anderenfalls ein Verkümmern des Rechtsschutzes der Persönlichkeit zu befürchten wäre.» (Seite 683)
BVerfG untersagt in zwei Fällen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus Griechenland
Der Bf. besitzt die deutsche und die griechische Staatsangehörigkeit und befindet sich seit dem 25. Juni 2009 in Auslieferungshaft. Im ersten Fall sieht die 2. Kammer des Zweiten Senats in dem stattgebenden Beschluss des OLG München eine Verletzung von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip in der Ausprägung als Bestimmtheitsgebot. Im zweiten Fall unterstreicht die Kammer die Begründungserfordernisse und Vorgaben für richterliche Sorgfalt im Auslieferungsverfahrensrecht (hier: Verletzung des Willkürverbots). (Seiten 686/691)
BVerfG beanstandet überlange Dauer eines zivilgerichtlichen sowie eines sozialgerichtlichen Verfahrens
Im ersten Fall war ein erstinstanzliches Verfahren vor dem LG Hannover nach über 14 Jahren noch nicht abgeschlossen. Im zweiten Fall hat das Sozialgericht Gotha über einen Klageantrag nach 9 Jahren noch nicht entschieden.(S. 695/699)
BVerfG beanstandet Bußgeld wegen Klavierspiels am Sonntag (ruhestörender Lärm) und sieht in der Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Landes-Immissionsgesetzes Berlin eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots aus Art. 103 Abs. 2 GG. (Seite 702)
Vassilios Skouris für eine dritte Amtszeit als Präsident des EuGH wiedergewählt. (Seite 705)
Gerichtshof der Europäischen Union – Neue Bezeichnung des EuGH nach dem Vertrag von Lissabon
Außerdem sind am 1. Dezember 2009 einige Änderungen in Bezug auf die Organisation des Gerichtshofs sowie die Ernennung seiner Mitglieder, in Bezug auf die Zuständigkeiten des EuGH sowie hinsichtlich verschiedener Verfahren in Kraft getreten. (Seite 706)
BVerfG untersagt mit einstweiliger Anordnung aus rechtsstaatlichen Erwägungen die Abschiebung eines eritreischen Asylantragstellers nach Griechenland. (Seite 707)