EuGRZ 2016 |
15. Dezember 2016
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43. Jg. Heft 21-23
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Informatorische Zusammenfassung
Dieter Deiseroth, Leipzig/Düsseldorf, unter Mitwirkung von Ismail Öztürk, Köln, kommentiert die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts zur Amtsenthebung von zwei seiner Richter kritisch in rechtsvergleichender Perspektive
«Juristische Grundlage der Verfassungsgerichtsentscheidung vom 4. August 2016 [auszugsweise dt. Übers. s.u. S. 633] gegen die beiden Verfassungsrichter Alparslan Altan und Erdal Tercan ist die Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft Nr. 667 (im Folgenden: RV 667), die am 23. Juli 2016 im Gesetzblatt veröffentlicht worden ist. Diese war am 21. Juli 2016 von der türkischen Regierung (Ministerrat) beschlossen und am Folgetag in Kraft gesetzt worden, nachdem aufgrund von Art. 120 TV 2010 am 20. Juli 2016 unter Berufung auf den gescheiterten Putsch der „Staatsnotstand“ verkündet und der Ministerrat dadurch zu solcher Art von Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft ermächtigt worden war.
Während in Art. 2 RV 667 Maßnahmen gegen in den angehängten Listen erfasste private Institutionen und Organisationen aus den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Ausbildung, Hochschulen, Wirtschaft sowie der Gewerkschaften normiert sind, ist das Vorgehen gegen Angehörige der Justiz in Art. 3 sowie gegen andere Angehörige des öffentlichen Dienstes in Art. 4 RV 667 geregelt. Zuständig für Maßnahmen gegen Mitglieder des Verfassungsgerichts ist nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 erster Spiegelstrich RV 667 das Plenum des Verfassungsgerichts, also die Vollversammlung aller Verfassungsrichter. (...)
Gegen die beiden Verfassungsrichter Alparslan Altan (geb. 1968) und Erdal Tercan (geb. 1961) waren unter dem Vorwurf, sie seien Mitglieder einer bewaffneten Terrororganisation, von dem „Friedensrichter“ eines erstinstanzlichen Kriminalgerichts am 20. Juli 2016 Haftbefehle erlassen worden.»
Zu der Entscheidung des Verfassungsgerichts heißt es dann weiter: «Von einer Beweisaufnahme hat das Plenum des Verfassungsgerichts gänzlich Abstand genommen, und zwar mit der Begründung, bei der von Art. 3 RV 667 geforderten richterlichen Beurteilung gehe es „nicht um die Ermittlung einer konkreten Handlung strafrechtlicher oder disziplinarrechtlicher Relevanz“, sondern lediglich um einen „Vorgang der Überzeugungsbildung“. (...)
Auf welche Umstände oder Tatsachen insbesondere die Argumentation von der „sich im Laufe der Zeit“ gebildeten „gemeinsamen Überzeugung“ der Vollversammlung des Verfassungsgerichts gestützt ist, wird in der Entscheidung ebenfalls nicht angegeben.
Damit bleiben die tatsächlichen und mithin auch rechtlichen Grundlagen des Judikats im Ungewissen und Unklaren. Von einer nachvollziehbaren Argumentation kann angesichts dessen schlechterdings nicht gesprochen werden. Dieser argumentative Blindflug des türkischen Verfassungsgerichts ist einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung unwürdig.»
Der Beitrag insgesamt zeichnet die Entwicklung nach dem gescheiterten Putsch und dessen Vorgeschichte nach, stellt die Folgen für die türkische Justiz dar, geht auf die Stellung des Verfassungsgerichts im türkischen Verfassungssystem ein und setzt sich dann unter den Stichworten „Staatsnotstand“ und „Säuberungen“ nach Art. 3 RV 667 mit dem Urteil im Einzelnen auseinander. Als Vergleichsfälle werden der Adamovich-Beschluss des österr. VfGH (Erfolgloser Amtsenthebungsantrag des Jörg Haider) herangezogen und das Urteil des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten der drei von Perus Präsident Fujimori entlassenen Verfassungsrichter. Schließlich wird das hier behandelte Urteil des türk. VerfG in den Kontext des Nato-Vertrags und vor allem der EMRK gestellt. (Seite 597)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, weist Beschwerde einer nach dem gescheiterten Staatsstreich im Juli 2016 inhaftierten türkischen Richterin wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs als unzulässig zurück / Mercan gegen Türkei
Der Gerichtshof lässt keine Ausnahme vom Grundsatz der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zu, verweist auf das 2012 eingeführte Individualbeschwerderecht zum türkischen Verfassungsgericht und führt aus:
«Bezüglich der Frage, ob es im vorliegenden Fall besondere Umstände gibt, die die Bf. von ihrer Verpflichtung befreit hätten, den fraglichen Rechtsbehelf einzulegen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die insoweit von der Bf. vorgetragenen Argumente es, prima facie, nicht erlauben, die Effektivität der Beschwerde zum Verfassungsgericht in Zweifel zu ziehen. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass einfache Zweifel, so wie sie die Bf. empfindet bezüglich der Unparteilichkeit der Verfassungsrichter, sie nicht von der Verpflichtung befreien, Beschwerde zum Verfassungsgericht zu erheben, um den Erfordernissen von Art. 35 Abs. 1 der Konvention zu genügen. In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof – erneut – daran, dass allein das Vorhandensein von Zweifeln bezüglich der Erfolgsaussichten eines vorhandenen Rechtsbehelfs, der nicht ganz offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist, nicht als ein hinreichender Grund angesehen werden kann, die Nichtanwendung zu rechtfertigen (...)
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen und des gesamten Sachverhalts des Falles, erkennt der Gerichtshof keine besonderen Umstände, die die Bf. von der Verpflichtung hätten befreien können, das Verfassungsgericht anzurufen. Im Gegenteil ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Bf., wenn sie dieses Erfordernis erfüllt hätte, dadurch der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit eröffnet hätte, wozu die Regel der Rechtswegerschöpfung bestimmt ist, nämlich den Staaten zu erlauben, über die Frage der Vereinbarkeit von gerügten Handlungen oder Unterlassungen mit der Konvention zu entscheiden; sollte die Bf. dann dennoch anschließend Beschwerde beim EGMR einlegen, hätte dieser den Vorteil, im Lichte der innerstaatlichen Entscheidungen zu urteilen. Unter diesen Voraussetzungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Bf. nicht das Notwendige getan hat, um den innerstaatlichen Gerichten zu erlauben, ihre grundlegende Rolle in dem durch die Konvention errichteten Schutzmechanismus wahrzunehmen, wobei die Rolle des Gerichtshofs ihnen gegenüber subsidiären Charakter aufweist.» (Seite 605)
EGMR verneint den Anspruch einer in der öffentlichen Debatte als verfassungswidrig bezeichneten Partei auf verfassungsgerichtliche Feststellung ihrer Verfassungskonformität / NPD gegen Deutschland
Die Bf. argumentiert, sie sei von führenden Politikern (Ministerpräsidenten und Innenministern verschiedener Bundesländer sowie Abgeordneten des Bundestages) fortwährend als verfassungswidrig bezeichnet worden, ohne dass ein Verbotsantrag beim BVerfG gestellt worden wäre. Dies hatte u.a. zur Folge, dass sie Schwierigkeiten hatte, Räumlichkeiten für Parteiveranstaltungen anzumieten, Versicherungen zu finden, die bereit waren, Haftpflichtversicherungen im Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen abzuschließen. Auch würden Banken sich weigern, ihnen ein Girokonto einzurichten. Vor diesem Hintergrund hat die NPD im November 2012 vor dem BVerfG gegen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung mit dem Ziel der Feststellung geklagt, sie sei nicht verfassungswidrig i.S.v. Art. 21 Abs. 2 GG.
Das BVerfG verwarf den Antrag mit Beschluss vom 20. Februar 2013 (EuGRZ 2013, 244). Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde beim EGMR.
Der EGMR führt aus: «Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Tatsache, dass ein Bf., der eine Vielzahl von Konventionsverletzungen durch verschiedene Handlungen oder Maßnahmen behauptet, in Bezug auf jede einzelne behauptete Rechtsverletzung getrennte Prozesse anzustrengen hat, die jeweiligen Beschwerdemöglichkeiten nicht unwirksam macht. (...)
Darüber hinaus würde eine abstrakte Feststellung [des BVerfG], dass eine politische Partei nicht verfassungswidrig ist, nicht notwendiger Weise das Ergebnis entsprechender Gerichtsverfahren präjudizieren in Bezug auf spezifische, angeblich die Bf. berührende Handlungen Dritter. Dies trifft insbesondere auf Rechtsbereiche zu, in denen Vertragsfreiheit vorrangig ist und in denen der Abschluss eines Vertrags vom freien Willen der Vertragsparteien innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens abhängt.»
Der EGMR stimmt der Erwägung des BVerfG zu, dass wirksame Beschwerdemöglichkeiten für die Bf. vor Verwaltungs-, Zivil- und ggf. Strafgerichten zur Verfügung stehen. Die Beschwerde in Straßburg wird deshalb als unzulässig, weil offensichtlich unbegründet, zurückgewiesen. (Seite 608)
Die Urteilsverkündung des BVerfG in dem Verfahren über den erneuten Parteiverbotsantrag des Bundesrates in Sachen NPD (2 BvB 1/13) ist auf den 17. Januar 2017 terminiert.
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, festigt den Schutz des Urheberrechts beim Verleih digitaler Kopien von Büchern durch öffentliche Bibliotheken / Rs. Vereniging Openbare Bibliotheken
Art. 1, 2 und 6 der RL 2006/115/EG sind dahin auszulegen, «dass der Begriff „Verleihen“ im Sinne dieser Bestimmungen das Verleihen einer digitalen Kopie eines Buches erfasst, wenn dieses Verleihen so erfolgt, dass die in Rede stehende Kopie auf dem Server einer öffentlichen Bibliothek abgelegt ist und es dem betreffenden Nutzer ermöglicht wird, diese durch Herunterladen auf seinem eigenen Computer zu reproduzieren, wobei nur eine einzige Kopie während der Leihfrist heruntergeladen werden kann und der Nutzer nach Ablauf dieser Frist die von ihm heruntergeladene Kopie nicht mehr nutzen kann».
Ferner ist Bedingung, dass die zur Verfügung gestellte digitale Kopie durch Erstverkauf in der Union durch den Berechtigten in Verkehr gebracht wurde, und dass die Kopie nicht aus einer illegalen (Piraterie) Quelle stammt. (Seite 611)
uGH macht die digitale Vervielfältigung vergriffener Bücher von der Gewährleistung der tatsächlichen individuellen Zustimmung des Urhebers abhängig / Rs. Soulier und Doke
Die beanstandete gesetzliche Regelung in Frankreich sieht vor, dass Urheber bzw. die entsprechenden Rechteinhaber „vergriffener“ Bücher (vor dem 1. Januar 2001 veröffentlicht) nicht individuell darüber informiert werden, dass ihr Werk digitalisiert und verwertet wird, sondern dass die Urheber sich auf der Datenbank der staatlich eingerichteten Verwertungsgesellschaft informieren müssen, um rechtswirksam zu widersprechen. Dies hält der EuGH für einen Verstoß gegen Art. 2 und 3 der RL 2001/29/EG.
In der Begründung des Urteils heißt es: «Das Ziel des hohen Schutzes der Urheber, auf das der neunte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29 Bezug nimmt, bringt es allerdings mit sich, dass die Voraussetzungen, unter denen eine implizite Zustimmung zugelassen werden kann, eng zu fassen sind, damit der Grundsatz der vorherigen Zustimmung des Urhebers nicht ausgehöhlt wird.
Insbesondere muss jeder Urheber über die künftige Nutzung seines Werks durch einen Dritten und darüber, mit welchen Mitteln er die Nutzung untersagen kann, sofern er dies wünscht, tatsächlich informiert werden.
Denn ohne tatsächliche vorherige Information über diese künftige Nutzung ist der Urheber nicht in der Lage, zu ihr Stellung zu nehmen und sie demnach gegebenenfalls zu untersagen, so dass schon das Vorliegen seiner impliziten Zustimmung hierzu rein hypothetisch bleibt.
Wenn die tatsächliche Information der Urheber über die geplante Nutzung ihrer Werke und die Mittel, die ihnen für die Untersagung der Nutzung zur Verfügung stehen, nicht gewährleistet ist, ist es ihnen demzufolge faktisch nicht möglich, irgendeine Stellungnahme zu einer solchen Nutzung abzugeben. (...)
Dies gilt umso mehr, als eine solche Regelung Bücher erfasst, die zwar in der Vergangenheit veröffentlicht und gewerbsmäßig verbreitet wurden, dies derzeit aber nicht mehr werden. Aufgrund dieses besonderen Kontexts kann vernünftigerweise nicht angenommen werden, dass sämtliche Urheber dieser „in Vergessenheit geratenen“ Bücher, die nicht widersprechen, deswegen damit einverstanden sind, dass ihre Werke zwecks gewerbsmäßiger Nutzung in digitaler Form „wiederaufleben“.» (Seite 617)
EuGH hält die Speicherung dynamischer IP (Internetprotokoll)-Adressen durch Online-Mediendienste zum Zweck der Gewährleistung der generellen Funktionsfähigkeit der Dienste für gerechtfertigt / Rs. Breyer
Insbesondere ist an die Abwehr von Cyber-Attacken und die Bestrafung der Angreifer zu denken. (Seite 622)
EuGH zur Strafvollstreckung in justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen und die strikte Einhaltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Strafurteilen / Rs. Ognyanov
Vorliegend geht es darum, dass der in Dänemark wegen Mordes und schweren Raubes zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilte Betroffene des Ausgangsverfahren in seinen Heimatstaat zur weiteren Strafvollstreckung überstellt wurde (Rahmenbeschluss 2008/909/JI in der geänderten Fassung von 2009). Nach dem Urteil des EuGH ist es den bulgarischen Behörden untersagt, eine Strafverkürzung wegen in der Strafhaft geleisteter Arbeit vorzunehmen, da dies zwar in Bulgarien möglich, in Dänemark jedoch gesetzlich ausgeschlossen ist. (Seite 627)
Türkisches Verfassungsgericht (türk. VerfG), Ankara, beschließt in Anwendung der im Rahmen des Ausnahmezustandes nach dem Putschversuch im Juli 2016 erlassenen RV 667 (Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft Nr. 667) die Amtsenthebung zweier seiner Richter
In der Entscheidung heißt es: «Im Rahmen der durch die Generalstaatsanwaltschaft Ankara nach dem Putschversuch durchgeführten Ermittlungen wurden durch den Generalstaatsanwalt bezüglich der Mitglieder des Verfassungsgerichts Alparslan ALTAN und Erdal TERCAN die Untersuchungshaft und die Durchsuchung ihrer Wohnungen, ihrer Fahrzeuge und ihrer Arbeitsplätze schriftlich angeordnet mit der Begründung, „die Straftat des Regierungsumsturzes und die zwangsweise Auflösung der verfassungsmäßigen Ordnung werde weiterhin verwirklicht und es bestehe die Gefahr, dass die FETÖ-Mitglieder als die Täter dieser Straftat sich ins Ausland absetzen und untertauchen könnten“.»
Mit den Entscheidungen des 2. bzw. 5. Friedensgerichts Ankara, jeweils vom 20.7.2016, wurde bezüglich der Mitglieder des Verfassungsgerichts Alparslan ALTAN bzw. Erdal TERCAN die Untersuchungshaft «wegen des Tatvorwurfs der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ angeordnet. (...) Für die Anwendung der Maßnahme wird eine Verbindung der Mitglieder des Verfassungsgerichts zur Terrororganisation, zu terroristischen Aktivitäten und zum Putschversuch nicht vorausgesetzt; die Herstellung einer Verbindung zu „Strukturen“, „Organisationen“ oder „Gruppen“, die den Feststellungen des Nationalen Sicherheitsrates (MGK) zufolge Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit des Staates unternommen haben, wird als ausreichend erachtet. (...)
Andererseits muss für die Anordnung der Amtsenthebungsmaßnahme nach diesem Artikel [Art. 3 RV 667] die o.g. Verbindung mit der Struktur, Organisation oder Gruppe nicht eine solche in Gestalt der „Mitgliedschaft“ oder „Zugehörigkeit“ sein. Vielmehr ist ein Kontaktzusammenhang ausreichend.
Schließlich wird der „Nachweis“ einer Verbindung der Mitglieder des Verfassungsgerichts zu Terrororganisationen oder zu Strukturen, Organisationen oder Gruppen, die den Feststellungen des Nationalen Sicherheitsrates (MGK) zufolge Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit des Staates unternommen haben, nicht vorausgesetzt. Die Bejahung einer Verbindung im Rahmen der „Beurteilung“ durch die Vollversammlung des Verfassungsgerichts wird als ausreichend erachtet. Mit dieser Beurteilung wird die „Überzeugung“ der Vollversammlung, getragen von der einfachen Mehrheit ihrer Stimmen, zum Ausdruck gebracht. Zweifelsohne handelt es sich hierbei lediglich um eine Beurteilung hinsichtlich der Frage der Angemessenheit eines Verbleibs im Beruf. Und zwar unabhängig von einer Überzeugungsbildung hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortung.
Nach Art. 3 der Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft wird für diese Überzeugungsbildung die Heranziehung von Beweismitteln bestimmter Art nicht vorausgesetzt.»
Die verbliebenen 15 Verfassungsrichter entscheiden einstimmig, dass ihre beiden Kollegen des Amtes zu entheben sind. (Seite 633)
Zu dieser Entscheidung des türk. VerfG cf. den Aufsatz von Dieter Deiseroth unter Mitwirkung von Ismail Öztürk auf S. 597 und die Initiative des Generalsekretärs des Europarates, Thorbjørn Jagland, gegenüber der türkischen Führung in diesem Zusammenhang zur Einführung innerstaatlicher Rechtsschutzmöglichkeiten auf EMRK-Niveau, s.u. S. 696 in diesem Heft.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, präzisiert die Haftvoraussetzungen im Dublin-Verfahren und gibt einer Beschwerde gegen die Anordnung von Administrativhaft durch das Staatssekretariat für Migration statt
Allein der Umstand, dass eine Person in einem anderen Dublin-Staat ein Asylgesuch gestellt hat, rechtfertigt eine Haft nicht. Für eine Haftanordnung gestützt auf Art. 76a AusländerG müssen konkrete Anzeichen einer erheblichen Gefahr des Untertauchens bestehen. (Seite 639)
BGer bekräftigt den Schutz der Privatsphäre von Mietern und begrenzt die Zulässigkeit der Videoüberwachung zur Abwehr von Einbrechern, Dieben und Vandalen. (Seite 644)
Verfassungsgerichtshof, Wien, bestätigt die Pflicht des Grundeigentümers, die von ihm ethisch abgelehnte Jagd zu dulden
Die Jagdfreistellung ist nur bei Umfriedung des Grundstücks möglich. In Anbetracht der spezifischen Verhältnisse in Kärnten, insbesondere wegen der Notwendigkeit, den Wald zur Verhinderung von Bodenerosion zu schützen, ist der Eingriff in das Eigentumsrecht verhältnismäßig. Die bisherige Rechtsprechung des EGMR (Chassagnou u.a. gegen Frankreich [GK, 1999], Schneider gegen Luxemburg [2007] und Herrmann gegen Deutschland [2012]) ist demzufolge hier nicht einschlägig. (Seite 647)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, zu Bundesrichterwahlen und den verfassungsmäßigen Grenzen von Mitbewerber-Klagen
Die Leitsätze des Ersten Senats lauten: «Die Berufung von Richtern an den obersten Gerichtshöfen des Bundes ist an Art. 33 Abs. 2 GG zu messen. Das durch Art. 95 Abs. 2 GG vorgegebene Wahlverfahren bedingt jedoch Modifikationen gegenüber rein exekutivischen Auswahl- und Beförderungsentscheidungen.
Die Mitglieder des Richterwahlausschusses haben bei ihrer Entscheidung die Bindung des zuständigen Ministers an Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten. Der eigentliche Wahlakt unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle.
Der zuständige Minister hat sich bei seiner Entscheidung den Ausgang der Wahl grundsätzlich zu eigen zu machen, es sei denn, die formellen Ernennungsvoraussetzungen sind nicht gegeben, die verfahrensrechtlichen Vorgaben sind nicht eingehalten oder das Ergebnis erscheint nach Abwägung aller Umstände und insbesondere vor dem Hintergrund der Wertungen des Art. 33 Abs. 2 GG nicht mehr nachvollziehbar.
Der Minister muss begründen, wenn er seine Zustimmung verweigert oder wenn er der Wahl eines nach der Stellungnahme des Präsidialrats oder den dienstlichen Beurteilungen nicht Geeigneten zustimmt.» (Seite 657)
BVerfG verneint einen Anspruch der G 10-Kommission auf Herausgabe bzw. Einsichtnahme in die NSA-Selektorenlisten
Die G 10-Kommission ist ein Kontrollorgan eigener Art und im Organstreit nicht parteifähig. Denn: «Sie ist weder oberstes Bundesorgan, noch ist sie eine andere durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattete Beteiligte.» (Seite 662)
BVerfG stuft bei den NSA-Selektorenlisten das Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung höher ein als das parlamentarische Informationsinteresse des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags
«Das Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses unterliegt Grenzen, die, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben müssen (...). Völkerrechtliche Verpflichtungen können demgemäß keine unmittelbare Schranke des parlamentarischen Beweiserhebungsrechts begründen, da sie als solche keinen Verfassungsrang besitzen.
Das aus dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses grundsätzlich folgende Recht auf Vorlage der NSA-Selektorenlisten ist nicht durch die Einsetzung der sachverständigen Vertrauensperson und deren gutachterliche Stellungnahme erfüllt.
Dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses steht das Interesse der Bundesregierung an funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung gegenüber. Zu diesen Aufgaben gehört auch die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste zur Gewährleistung eines wirksamen Staats- und Verfassungsschutzes.»
Das BVerfG führt weiter aus: «Das Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung überwiegt das parlamentarische Informationsinteresse, weil die vom Beweisbeschluss erfassten NSA-Selektorenlisten aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen nicht ihrer Verfügungsbefugnis unterfallen, ihre Einschätzung, eine nicht konsentierte Herausgabe dieser Listen könne die Funktions- und Kooperationsfähigkeit deutscher Nachrichtendienste erheblich beeinträchtigen, nachvollziehbar ist und sie dem Vorlageersuchen in Abstimmung mit dem Untersuchungsausschuss durch andere Verfahrensweisen so präzise, wie es ohne eine Offenlegung von Geheimnissen möglich gewesen ist, Rechnung getragen hat.» (Seite 668)
BVerfG zur Unvereinbarkeit einer Blankettstrafnorm mit den Bestimmtheitsanforderungen des Grundgesetzes / hier: § 10 Abs. 1 und 3 Rindfleischetikettierungsgesetz. (Seite 686)
BVerfG zur Verletzung des rechtlichen Gehörs des Patienten in einem Prozess über die Vergütungspflicht im Arztvertragsrecht. (Seite 694)
Europarat/Türkei – Generalsekretär Jagland warnt türkische Regierung vor einer Beschwerdeflut zum EGMR und fordert innerstaatliche Rechtsschutzmöglichkeiten auf EMRK-Niveau. (Seite 696)
Parlamentarische Versammlung des Europarates – Lətif Hüseynov (52), Völkerrechtsprofessor aus Aserbaidschan und Jovan Ilievski (58) Staatsanwalt und Leiter der Strafverfolgungsbehörde zur Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption in Mazedonien zu neuen Richtern am EGMR gewählt. (Seite 697)
BVerfG beanstandet mangelhaften Eilrechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung einer vorzeitigen Besitzeinweisung des Bergbauunternehmens nach Enteignung eines Grundstücks zur bergbaulichen Nutzung im Braunkohletagebau. (Seite 698)