EuGRZ 2007 |
31. Juli 2007
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34. Jg. Heft 10-14
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Informatorische Zusammenfassung
Matthias Ruffert, Jena, sieht in der Position der EMRK eine Schlüsselfrage der grundrechtlichen Entwicklung in Europa und unterzieht die Wechselwirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und des innerstaatlichen Rechts einer kritischen Würdigung
«Verstärkt wird die Einwirkung der EMRK auf das formaliter ranggleiche Gesetzesrecht und sogar das im Ansatz ranghöhere Grundgesetz durch die unionsrechtliche Überformung. Seit langem zieht der EuGHdie EMRK als Erkenntnisquelle für die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts heran. Art. 6 Abs. 2 EUV und nunmehr Art. 52 Abs. 3 S. 1, 53 der (rechtlich noch unverbindlichen) Grundrechte-Charta (…) greifen dies für das Verfassungsrecht der EU positiv heraus, denn durch diese Vorschriften soll eine homogene Interpretation und Handhabung der Rechte aus der GRCh und der EMRK hergestellt werden. Dadurch kommt es zu einer durch das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht vermittelten Aufwertung der EMRK, denn als inhaltliches Element der Gemeinschaftsgrundrechte hat sie an deren Vorrangswirkung teil. (…)
Zum institutionellen Konfliktpotenzial zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR führt Ruffert u.a. aus: «Das Gewicht der institutionellen Fragestellung wird in der zentralen Formulierung des Görgülü-Beschlusses vom „letzten Wort des Grundgesetzes“ und ihrer wesentlichen Schwächen deutlich. Schon sprachlich kann eine Verfassung nicht das letzte Wort haben. Verfassungsrechtlich wird es von einer Institution beansprucht oder kommt ihr zu. Hinter der Formulierung vom Souveränitätsanspruch der Verfassung verbirgt das Bundesverfassungsgericht seinen Anspruch der Kontrolle der Interpretation der EMRK im konkreten Fall – der Kontrolle der Auswirkungen der Entscheidungen des EGMR in Deutschland. (…)
Institutionelle Konflikte betreffen also nicht allein die Aufrechterhaltung eines bestimmten Grundrechtsschutzniveaus, sondern die Antwort auf einzelne, hochkomplexe grundrechtliche Fallgestaltungen. (…)
Der Beitritt der EU zur EMRK, vorbereitet durch die VerfEU wie durch das Protokoll Nr. 14, wäre ein zentraler Schritt zur Harmonisierung der Grundrechtsstandards. Innerstaatlich lässt sich die rechtsstaatlich geforderte Aufladung der einzelnen Grundrechte des Grundgesetzes mit EMRK-Inhalten zur Rezeption gesamteuropäischer Entwicklungen ausbauen. Hierfür die Initiative zu ergreifen, ist eine vornehme Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit. Schon jetzt besteht kein Anlass, im Verfassungsstaat des Grundgesetzes die Gefahr eines Verlustes des letzten Wortes heraufzubeschwören.» (Seite 245)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Große Kammer, GK), Straßburg, stellt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs i.S.v. Art. 13 EMRK zur Vermeidung überlanger Verfahrensdauer in zivilgerichtlichen Verfahren fest / Sürmeli gegen Deutschland
Der Ausgangsfall betrifft eine Schadensersatzklage wegen eines gebrochenen Arms nach einem Zusammenstoß mit einer Radfahrerin. Die Verfahrensdauer von 16 Jahren und 7 Monaten verletzt Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Im Vordergrund des Urteils steht eine detaillierte Prüfung der zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe: Verfassungsbeschwerde, Dienstaufsichtsbeschwerde, außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde und Klage auf Schadensersatz aus Staatshaftung.
Der EGMR stellt nach ausführlicher Analyse der Karlsruher Rechtsprechung fest, «dass das Bundesverfassungsgericht selbst einräumt, dass der Umfang seiner Befugnisse, die Verfahrensdauer für verfassungswidrig zu erklären, begrenzt ist». Der Gerichtshof erkennt zwar an, «dass es durchaus zu einer zügigeren Verfahrensführung kommen kann, wenn das betreffende Gericht die Anordnung des Bundesverfassungsgerichts unverzüglich befolgt». Er weist jedoch daraufhin, «dass die Regierung nicht dargelegt hat, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts potentiell oder tatsächlich einen Einfluss auf die Bearbeitung von Rechtssachen, in denen es zu Verzögerungen gekommen ist, haben können».
Die Initiative für ein Untätigkeitsbeschwerdengesetz nach dem Vorbild einer entsprechenden österreichischen Vorschrift (Text s.u. S. 267) begrüßt der EGMR, weil ein vorbeugender Rechtsbehelf dem Geist der EMRK am Ehesten entspreche, «denn der neue Rechtsbehelf setzt an der Ursache des Problems der langen Verfahrensdauer an und erscheint eher geeignet, Prozessparteien angemessenen Schutz zu bieten, als kompensatorische Rechtsbehelfe, die lediglich a posteriori in Anspruch genommen werden können.» (Seite 255)
EGMR beanstandet die außergewöhnlich lange Dauer eines Zivilgerichtsverfahrens (28 J., 11 M.) / Grässer gegen Deutschland
Im Ausgangsfall ging es um die Verweigerung einer Baugenehmigung für ein Einkaufszentrum. Die Stadtverwaltung von Saarbrücken hatte das Projekt ursprünglich favorisiert, war aber nach der Kommunalwahl im August 1974 von ihren Zusagen abgerückt und verdoppelte die für die Erschließung des Grundstücks geforderte Summe überraschend auf umgerechnet 2,3 Mio. Euro (ursprünglich: 1,296 Mio. Euro).
In dem Schadensersatzprozess des Bf. musste der Bundesgerichtshof die Urteile des OLG Saarbrücken zweimal auf Revision des Bf. hin und ein drittes Mal auf die Revision des Bf. und der Stadtverwaltung hin aufheben und das Verfahren zurückverweisen, was jeweils eine Neuverhandlung notwendig machte.
Der EGMR stellt in diesem Zusammenhang fest, «dass das Verfahren hätte zügig abgeschlossen werden müssen, weil der Streitwert schließlich auf etwa 109 Millionen Euro festgelegt worden war und insoweit die wirtschaftliche Existenz des Bf. auf dem Spiel stand». (Seite 268)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bestätigt die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl (2002/584/JI) / Advocaten voor de Wereld
Auf Vorlage des belgischen Verfassungsgerichtshofs (Cour d'arbitrage / Arbitragehof) stellt der EuGH u.a. fest: «Der Europäische Haftbefehl hätte zwar auch Gegenstand eines Übereinkommens sein können, doch steht es im Ermessen des Rates, dem Rechtsinstrument des Rahmenbeschlusses den Vorzug zu geben, wenn, wie in der vorliegenden Rechtssache, die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Handlung vorliegen.»
Weiter heißt es in dem Urteil: «[Demnach] schafft zwar Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten ab, doch bleibt für die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen weiterhin das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats maßgeblich, der, wie im Übrigen Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind, und damit den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu achten hat.» (Seite 273)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, spricht sich in Rückgabeverfahren gem. Haager Übereinkommen zu internationalen Kindesentführungen (HEntfÜ) bei der Anhörung von Kindern für ein Schwellenalter von 11 bis 12 Jahren aus
«Zum einen dürfen im Rückführungsentscheid diejenigen Faktoren, zu deren Erstellung die Aussagen kleinerer Kinder sehr gut beitragen können (aktuelle Situation, persönliche Beziehung zu den Elternteilen) gerade nicht berücksichtigt werden. Zum anderen sind kleinere Kinder mit Bezug auf das Thema des Rückführungsprozesses noch nicht urteilsfähig. (…)
Mit Blick auf die Willensbildung im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ darf sodann nicht übersehen werden, dass in fast allen Entführungsfällen namentlich kleinere Kinder mit dem Entführer notwendigerweise eine Schicksalsgemeinschaft bilden und sie deshalb mit einer zwingenden Anhörung oftmals in eine unzumutbare Lage gebracht würden.» (Seite 278)
BGer bekräftigt den Grundsatz der freien Beweiswürdigung bei der Verwertung von Aussagen eines anonymisierten Zeugen im Sinne der Wahrung von Verteidigungsrechten und der Abschirmung zur Sicherheit eines gefährdeten Belastungszeugen
Das BGer kommt zu einer realitätsbezogenen Auslegung der widersprüchlich anmutenden Rechtsprechung des EGMR: «Der zutreffende Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist der, dass ein Schuldspruch auf eine anonymisierte Zeugenaussage nur abgestützt werden kann, wenn der Zufallszeuge konkret schweren Repressalien aus dem Umfeld des Angeklagten ausgesetzt wäre, sofern diesem seine Identität bekannt würde. In einem solchen Fall rechtfertigt sich eine Einschränkung der Verteidigungsrechte insofern, als dem Angeklagten die Identität des Zeugen nicht offengelegt zu werden braucht, nötigenfalls auch nicht seinem Verteidiger, wenn eine nicht nur theoretische, sondern praktische Gefahr besteht, dass dem Angeklagten die Identität des Zeugen bekannt würde und dieser folglich in gleicher Weise der Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wäre, wie wenn von einer Anonymisierung überhaupt abgesehen würde. Eine anonymisierte Aussage ist auch in einem solchen Fall nur statthaft, wenn der Zeuge durch das Gericht selber befragt wird, seine Identität und allgemeine Glaubwürdigkeit durch das Gericht einer Überprüfung unterzogen wird und der Verteidiger sowie der Angeklagte unter optischer und akustischer Abschirmung dem Zeugen Fragen stellen können. Alsdann ist aber kein Grund erkennbar, welcher der Verwertung einer so erhobenen Aussage entgegenstehen könnte. Denn die Einschränkung der Verteidigungsrechte ist dem Angeklagten selbst zuzurechnen, von dem selber oder von dessen Umfeld die Drohung mit Repressalien ausgeht.» (Seite 280)
BGer verneint Anspruch von Sterbewilligen gegen den Staat auf rezeptfreien Zugang zu Suizid-geeignetem Mittel (Natrium-Pentobarbital)
«Vom Recht auf den eigenen Tod in diesem Sinn, das vorliegend als solches nicht in Frage gestellt ist, gilt es den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Anspruch auf Beihilfe zum Suizid seitens des Staates oder Dritter abzugrenzen. Ein solcher lässt sich grundsätzlich weder Art. 10 Abs. 2 BV noch Art. 8 Ziff. 1 EMRK entnehmen. (…)
Für eine wirksame Umsetzung der in Art. 8 Ziff. 1 EMRK verankerten Freiheit, über die Beendigung des eigenen Lebens entscheiden zu können, ist eine vorbehaltlose Abgabe von Natrium-Pentobarbital nicht erforderlich, auch wenn es sich für den Suizid offenbar besonders gut eignen soll. Allein die Tatsache, dass mögliche Alternativen zum Suizid mittels Natrium-Pentobarbital allenfalls risikobehafteter oder schmerzhafter erscheinen, genügt nicht, um die rezeptfreie Abgabe dieses Mittels zum Zweck des Suizids zu legitimieren.» (Seite 285)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt gleichheitswidrige Bewertung von Grundstücken für die Erbschaftssteuer für verfassungswidrig
Für den VfGH ist ausschlaggebend, «dass der Wert eines Grundstücks im Zeitablauf durch ganz unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird, weshalb eine pauschale Vervielfachung von historischen Einheitswerten nicht geeignet ist, die Wertentwicklung von Grundstücken angemessen abzubilden, und daher als eine taugliche Grundlage für eine sachgerechte Erbschaftsbesteuerung nicht in Frage kommt».
Der VfGH hebt den Steuergrundtatbestand des § 1 Abs. 1 Z 1 ErbStG per 31. Juli 2008 auf, um dem Gesetzgeber genügend Zeit für eine Neuregelung zu geben. (Seite 291)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, in der Deutung des verfassungsrechtlichen Leitbildes des Abgeordneten des Deutschen Bundestages (Art. 38 Abs. 1 GG) und in der Beurteilung der Offenbarungspflicht und Internetveröffentlichung von „Nebeneinkünften“ (§ 44 Abs. 1 Abgeordnetengesetz) gespalten
Die Stimmengleichheit im Zweiten Senat führt gem. § 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG dazu, dass ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden kann und die im Organstreitverfahren von neun Mitgliedern des Bundestags aus unterschiedlichen Fraktionen (FDP, SPD, CDU/CSU) gestellten Anträge keinen Erfolg haben.
Die Richterinnen und Richter Broß, Osterloh, Lübbe-Wolff und Gerhardt seheneine bereits im Grundgesetz angelegte Pflicht des Abgeordneten, die Ausübung seines Mandats in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit zu stellen, denn mit dem Status des Abgeordneten gem. Art. 38 Abs. 1 GG seien nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten verbunden, «deren Reichweite durch das Gebot der Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Parlaments zu wahren, bestimmt und begrenzt wird».
Die Richter Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau halten eine verfassungskonform einschränkende Auslegung für geboten, «damit nicht aus den organisatorischen und institutionellen Zwängen heraus allmählich eine Funktionalisierung und geschmeidige Anpassung parlamentarischen Verhaltens an anderwärts beschlossene politische Entscheidungen erfolgt».
Die angegriffenen Transparenzregelungen sind nach der die Entscheidung tragenden Auffassung der Richterinnen und Richter Bross, Osterloh, Lübbe-Wolff und Gerhardt verfassungsgemäß: «Das Volk hat Anspruch darauf zu wissen, von wem – und in welcher Größenordnung – seine Vertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen.»
Die Richter Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau kritisieren die an Desinformation grenzende publizistische Prangerwirkung der veröffentlichten wirtschaftlichen Rohdaten als Eingriff in die Freiheit des Mandats, die Berufsfreiheit und in die informationelle Selbstbestimmung. (Seite 295)
BVerfG erklärt Einsatz von Tornado-Aufklärungsflugzeugen der Bundeswehr im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) für verfassungsgemäß
«Die Verantwortlichen im NATO-Rahmen durften und dürfen davon ausgehen, dass die Sicherung des zivilen Aufbaus Afghanistans auch einen unmittelbaren Beitrag zur eigenen Sicherheit im euro-atlantischen Raum leistet; angesichts der heutigen Bedrohungslagen durch global agierende terroristische Netzwerke können, wie der 11. September 2001 gezeigt hat, Bedrohungen für die Sicherheit des Bündnisgebiets nicht mehr territorial eingegrenzt werden.» (Seite 331)
BVerfG dehnt seinen Verzicht gegenüber dem EuGH auf Überprüfung von Verordnungen des Gemeinschaftsrechts auch auf die innerstaatliche Umsetzung von Richtlinien mit zwingenden Vorgaben (hier: Treibhausgas-Emissionen) aus / Bestätigung der Solange II-Rechtsprechung
«Auch die innerstaatliche Umsetzung von Richtlinien des Gemeinschaftsrechts, die den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum belassen, sondern zwingende Vorgaben machen, werden vom Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes gemessen, solange die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist.
Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes sind die Fachgerichte verpflichtet, solche gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen und gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG durchzuführen.»
Konkret bestätigt der Erste Senat § 12 des Gesetzes über den nationalen Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Zuteilungsperiode 2005-2007. (Seite 340)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde eines Zementwerk-Betreibers gegen europarechtlich begründetes Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHW) nicht zur Entscheidung an
Die 3. Kammer des Ersten Senats erinnert an die Kriterien seiner Solange II-Rechtsprechung: «Verfassungsbeschwerden, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch abgeleitetes Gemeinschaftsrecht geltend machen, sind unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften nach Ergehen der Solange II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist. Deshalb muss die Begründung einer Verfassungsbeschwerde im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in der Solange II-Entscheidung vorgenommen hat. (…) Daher findet, soweit die Richtlinie 2003/87/EG den Mitgliedstaaten keine Spielräume lässt, eine Überprüfung der deutschen Umsetzungsakte nur im Rahmen der oben genannten Vorgaben der Solange II-Rechtsprechung statt. (Seite 350)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde der Stadt Dresden gegen kommunale Aufsichtsmaßnahmen zur Durchsetzung eines Bürgerentscheids nicht zur Entscheidung an
Die 1. Kammer des Zweiten Senats erörtert den Status des Dresdner Elbtals als Weltkulturerbe sowie die Reichweite der UNESCO-Welterbekonvention gegenüber dem Bürgerentscheid zum Bau der Waldschlösschenbrücke:
«In Anbetracht dieses völkerrechtlichen Rahmens ist es verfassungsrechtlich möglich, dass sich der in einer förmlichen Abstimmung festgestellte Bürgerwille, als authentische Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie, in einem Konflikt über die planerische Fortentwicklung einer Kulturlandschaft durchsetzt (…) Als Folge müssen dann gleichwohl die möglichen Nachteile aus der Entscheidung – wie etwa der Verlust des Welterbestatus und ein damit einhergehender Ansehensverlust – in Kauf genommen werden.» (Seite 355)
BVerfG sieht in der Einführung von Ethik-Unterricht als Pflichtfach ohne Abmeldemöglichkeit im Bundesland Berlin keine Verletzung von Grundrechten
Die 2. Kammer des Ersten Senats stellt im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG u.a. fest: «[Es ist] Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln. (…) Die genannten Grundrechte verleihen Schülern und deren Eltern indes keinen Anspruch auf eine Gleichstellung des Unterrichtsfachs Religion mit anderen Schulfächern.» (Seite 359)
BVerfG wertet fehlerhafte statusrechtliche Besserstellung eines Bewerbers als Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf gleichen Zugang zu einem öffentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 GG
Im Ausgangsverfahren ging es um die Besetzung der Stelle des Präsidenten des Thüringer Landesarbeitsgerichts. Die 1. Kammer des Zweiten Senats qualifiziert das Vorgehen des Thüringer Oberverwaltungsgerichts als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter. Der OVG-Senat hatte zur Umgehung einer Entscheidung über einen Befangenheitsantrag gegen den Senatsvorsitzenden in dessen gezielt terminierter Urlaubsabwesenheit eine Sachentscheidung getroffen. (Seite 364)
Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, bekräftigt Entschädigungsanspruch aus Staatshaftung wegen unzumutbarer Verzögerung von Grundbuch-Eintragungen
«Der Staat hat seine Gerichte so auszustatten, dass sie die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abschließen können (hier: übermäßige Dauer der Bearbeitung von Anträgen durch das Grundbuchamt wegen Überlastung). Die Erfüllung dieser Verpflichtung kann den Justizbehörden insgesamt als drittgerichtete Amtspflicht obliegen (teilweise Abweichung von BGHZ 111, 272).» (Seite 367)
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Leipzig, klärt unbegrenzte zeitliche Rückwirkung des Lastentragungsgesetzes bei Entschädigungszahlungen nach EGMR-Urteil (Art. 41 EMRK) durch Bund und Länder
«Bei Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Gerichte ist § 4 LastG auch dann anzuwenden, wenn die Entschädigung an den Verletzten nicht aufgrundeines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sondern aufgrund eines Vergleichs gezahlt wurde, durch den ein solches Urteil abgewendet werden sollte. (…)
Lasten aus Verurteilungen Deutschlands wegen überlanger Verfahrensdauer bei Landes- wie bei Bundesgerichten sind grundsätzlich schematisch nach Zeitanteilen aufzuteilen.» (Seite 371)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, erklärt seine Prioritäten in der künftigenVerfassungsdebatte. (Seite 375)
Rat der Europäischen Union, Brüssel, erteilt detailliertes Mandat für die Regierungskonferenz 2007 zur Ausarbeitung eines Reformvertrags. (Seite 378)
BVerfG lehnt Anträge auf einstweilige Anordnungen gegen Beschränkungen der Demonstrationsfreiheit beim G8-Gipfel in Heiligendamm ab
Die 1. Kammer des Ersten Senats sieht in den verwaltungsgerichtlichen Beschränkungen keinen schweren Nachteil i.S.v. § 31 Abs. 1 BVerfGG. Es geht um (1) eine Demonstration am militärischen Haupteingang des Flughafens Rostock-Laage, (2) eine Mahnwache am östlichen Eingang des Sperrzauns und (3) das Verbot eines Sternmarsches in die Verbotszone um den Tagungsort. (Seiten 390, 391, 392)