EuGRZ 2010 |
26. Mai 2010
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37. Jg. Heft 6-9
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Informatorische Zusammenfassung
Mahulena Hofmann, Gießen/Heidelberg/Prag, analysiert das zweite Lissabon-Urteil des Tschechischen Verfassungsgerichts
«Abstrakt-generell und zukunftsorientiert war das erste Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon vom 26. November 2008, konkret und praxisbezogen sein ein Jahr später ergangenes Urteil vom 3. November 2009 [EuGRZ 2010, 209]. Dieser Unterschied in Ton und Inhalt hatte seinen Grund: Auf die Ratifizierung des Vertrags durch die Tschechische Republik warteten alle übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union; der wiederholte Antrag der Senatoren auf die Überprüfung des Vertrags auf seinen Einklang mit der Verfassungsordnung, leidenschaftlich unterstützt durch den Staatspräsidenten Václav Klaus, weckte auch innerstaatlich Skepsis über den Sinn der erneuten Überprüfung derselben Sache: Gibt es eine verfassungsgerichtliche res iudicata oder können die Antragsteller die Ratifikation beliebig oft hindern? (…)
Drei Monate nach der Entscheidung des BVerfG [EuGRZ 2009, 339], am 28. September 2009, reichte wiederum eine Gruppe von Senatoren einen zweiten Antrag auf die Überprüfung der Vereinbarkeit des Lissabonner Vertrags mit der tschechischen Verfassungsordnung ein. (…)
Das Verfassungsgericht hat kein Prozesshindernis der res iudicata gefunden und die Möglichkeit der wiederholten Obstruktion der Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge abgelehnt. Das ist die zentrale innerstaatliche Wirkung des Urteils, mit dem das Verfassungsgericht auch sich selbst in der Staatsordnung positioniert. In verfassungsvergleichender Hinsicht scheint am interessantesten seine Distanzierung von dem Bemühen, die Grenzen der künftigen europäischen Integration zu fixieren. Diese Position begründet es einerseits mit der (ausschließlichen) Verantwortung der politischen Organe für eine solche Zukunftsgestaltung und andererseits mit seiner mangelnden Kompetenz: In seiner Selbsteinschätzung sieht es seine Aufgabe in der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, ob nachträglich oder – wie im Falle der völkerrechtlichen Verträge – präventiv, aber nicht in der Gestaltung der Rechtsordnung, und schon überhaupt nicht in einer auf die Zukunft bezogenen Schrankensetzung. Die Frage bleibt, ob dies eine Nachricht nur nach innen oder doch zugleich auch eine Botschaft nach außen war.» (Seite 153)
Jan Wiegandt und Kolja Naumann, Berlin/Köln, untersuchen die sich wandelnde Vichy-Rechtsprechung des französischen Staatsrates (Conseil d‘État) in Bezug auf die Mitwirkung französischer Behörden bei der Deportation französischer und ausländischer Juden in deutsche Vernichtungslager
«Vichy vor dem französischen Staatsrat / Staatshaftungsrecht als Mittel der Vergangenheitsbewältigung» – die Autoren zeichnen in einer gründlichen Analyse die rechtshistorische Entwicklung des staatlichen Selbstverständnisses in Frankreich nach, um das Gutachten des Staatsrates über den Ausschluss weiterer finanzieller Entschädigungsverpflichtungen und die neu statuierte rechtliche Verpflichtung zur Entschuldigung gegenüber den Hinterbliebenen deportierter Juden im Fall Mme Hoffman-Glemane (EuGRZ 2010, 234) einzuordnen und zu kommentieren:
«Spätestens mit diesem Gutachten dürfte damit die juristische Streitfrage über das Verhältnis des Vichy-Regimes zu den französischen Republiken entschieden sein. Auch falls das Vichy-Regime in verfassungswidriger Art und Weise an die Macht kam, ändert dies nichts an der staatsrechtlichen Kontinuität zwischen dem Frankreich der Dritten Republik (1870-1940), des Vichy-Regimes (1940-1944) und der Vierten Republik (1946-1958). Der republikanische Mythos von 1944 ist damit beseitigt, die völker- wie staatsrechtlich einzig überzeugende Antwort gegeben. (…)
Die bisherige Darstellung und Analyse des politischen und verfassungsrechtlichen Umgangs Frankreichs mit der Vichy-Vergangenheit haben verdeutlicht, dass Anwendung und Auslegung, welche das Staatshaftungsrecht durch den Conseil d‘État erfuhr, zunächst nicht die historische Aufarbeitung, sondern das Vergessen und Verdrängen des Vichy-Unrechts in Frankreich förderten. Erst ein halbes Jahrhundert nach den Entscheidungen Époux Giraud und Demoiselle Remise änderte sich dies 2002 mit dem Urteil Papon. Auffällig ist dabei, dass es stets einen gewissen Gleichlauf der historischen Phasen der Aufarbeitung und der Vichy-Rechtsprechung des Staatsrats gab. Neue Impulse gingen vom Staatsrat dabei jedoch nicht aus. Vielmehr vollzog er in seiner Rechtsprechung den Wandel des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit einiger Verzögerung nach.» (Seite 156)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Erbrechtsausschluss als Diskriminierung aufgrund nichtehelicher Geburt / Brauer gegen Deutschland
Die Bf. rügt erfolgreich eine gesetzliche Stichtagsregelung (1. Juli 1949) i.V.m. einem Wohnsitzerfordernis: Als vor dem 1. Juli 1949 im Gebiet der ehemaligen DDR Geborene ist sie vom Erbrecht ausgeschlossen, weil der Erblasser (ihr nichtehelicher Vater) am Tag der deutschen Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990, seinen Wohnsitz nicht ebenfalls im Gebiet der ehemaligen DDR, sondern in Westdeutschland hatte. (Seite 167)
EGMR billigt gütliche Einigung über Entschädigung im Fall Brauer gegen Deutschland
Als Ausgleich für sämtliche Ansprüche im Zusammenhang mit dem vorstehenden Verfahren erhält die Bf. von der Bundesrepublik Deutschland 115.000,– Euro. (Seite 173)
EGMR erklärt Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beim Widerruf eines Patents im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) für offensichtlich unbegründet / Rambus Inc. gegen Deutschland
Die Beschwerdeführerin, Rambus Inc., ist eine Firma mit Sitz in den USA und war Inhaberin eines europäischen Patents auf dem Gebiet der Chip-Technologie. In der Entscheidung des EGMR über die Zulässigkeit der Beschwerde heißt es:
«Zugegebenermaßen hat die Erteilung eines europäischen Patents und sein Widerruf im Einspruchsverfahren unmittelbare Auswirkungen innerhalb des deutschen Rechtssystems und der Rechtssysteme aller anderen Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens. Jedoch selbst wenn aus diesem Grund angenommen wird, dass die Bosphorus-Rechtsprechung [EuGRZ 2007, 662] auf die vorliegende Sache anwendbar ist, hat die Bf. keine Argumente vorgetragen, die Anlass zu einer Abweichung von der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts geben würden, dass der Schutz von Grundrechten im Rahmen der Europäischen Patentorganisation im Wesentlichen den Maßstäben des Grundgesetzes entspreche.» (Seite 174)
EGMR sieht in obligatorischem Ethik-Unterricht an öffentlichen Schulen (hier: in Berlin) keine Verletzung der Religionsfreiheit bzw. des Erziehungsrechts der Eltern (Art. 9 EMRK bzw. Art. 2 des 1. ZP-EMRK) / Appel-Irrgang gegen Deutschland
«Der Gerichtshof stellt ebenfalls wie das Bundesverfassungsgericht fest, dass zwar nach dem Rahmenlehrplan von dem Lehrer erwartet wird, dass er zu den im Fach angesprochenen Ethikfragen einen eigenen Standpunkt einnimmt und diesen gegenüber den Schülern glaubwürdig vertritt, die Schüler aber gleichwohl nicht unzulässig beeinflusst werden dürfen. Was den Ethikunterricht in der Praxis anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, die Bf. hätten nicht geltend gemacht, dass die während des Schuljahres 2006-2007 in diesem Fach vermittelten Kenntnisse ihre religiösen Überzeugungen nicht beachtet hätten und einer Indoktrinierungsabsicht dienten.» (Seite 177)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, beanstandet unterschiedliche Erfordernisse der Rechtswegerschöpfung bei Staatshaftungsklagen wegen eines verfassungswidrigen oder europarechtswidrigen Gesetzes / Rs. Transportes Urbanos
«Das Unionsrecht steht der Anwendung einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, wonach eine Staatshaftungsklage, die auf eine in einem Urteil des Gerichtshofs gemäß Art. 226 EG festgestellte Verletzung des Unionsrechts durch ein nationales Gesetz gestützt wird, nur Erfolg haben kann, wenn der Kläger zuvor alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat, die auf die Anfechtung der Gültigkeit des auf der Grundlage dieses Gesetzes erlassenen beschwerenden Verwaltungsakts gerichtet sind, während eine solche Regelung nicht für eine Staatshaftungsklage gilt, die darauf gestützt wird, dass das zuständige Gericht das betreffende Gesetz für verfassungswidrig erklärt hat.» (Seite 183)
EuGH bestätigt das Recht eines Staates, eine betrügerisch erschlichene Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen, auch wenn der Betroffene dadurch staatenlos wird und seine Unionsbürgerschaft verliert / Rs. Rottmann
Der Kläger des Ausgangsverfahrens hatte 1995 seinen Wohnsitz nach München verlegt, nachdem er in Österreich wegen des (von ihm bestrittenen) Verdachts des schweren gewerbsmäßigen Betrugs richterlich vernommen worden war. Nachdem 1997 ein österreichischer Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war, beantragte er 1998 die deutsche Staatsbürgerschaft, wobei er das gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren verschwieg. Nachdem die bayerischen von den österreichischen Behörden über den Sachverhalt aufgeklärt worden waren, nahm der Freistaat Bayern mit Bescheid vom 4. Juli 2000 die Einbürgerung rückwirkend zurück.
Auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts stellt der EuGH fest: «[Es] kann ein Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit durch Täuschung erschlichen wurde, nicht nach Art. 17 EG verpflichtet sein, von der Rücknahme der Einbürgerung allein deshalb abzusehen, weil der Betroffene die Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats nicht wiedererlangt hat.
Das nationale Gericht hat allerdings zu beurteilen, ob die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit es unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände verlangt, dass dem Betroffenen vor Wirksamwerden einer derartigen Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung eine angemessene Frist eingeräumt wird, damit er versuchen kann, die Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats wiederzuerlangen.» (Seite 186)
EuGH hält Kontingentierung für ausländische Unionsbürger bei medizinischen Studiengängen (hier: im frankophonen Belgien) nur bedingt für mit Unionsrecht vereinbar / Rs. Bressol u.a., Chaverot u.a.
Die belgischen Behörden argumentieren, der Zustrom von Medizinstudenten aus Frankreich, wo Zulassungsbeschränkungen bestehen, an die frankophonen Universitäten in Belgien, verdränge einen Teil der belgischen Studenten, die später als Ärzte in der Region gebraucht werden.
Der EuGH akzeptiert die Kontingentierung für nichtansässige Studienbewerber grundsätzlich nicht «es sei denn, das vorlegende Gericht stellt nach Würdigung aller von den zuständigen Stellen angeführten relevanten Gesichtspunkte fest, dass diese Regelung im Hinblick auf das Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt ist». (Seite 192)
EuGH zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft für Flüchtlinge aus dem Irak wegen Änderung der Umstände / Rs. Aydin Salahadin Abdulla
Maßstab ist die Richtlinie 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling oder als Person mit subsidiärem Schutzstatus. Der EuGH antwortet auf die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts:
«Für die Beurteilung einer Veränderung der Umstände müssen sich die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats im Hinblick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass der oder die nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 in Betracht kommenden Akteure, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diese Akteure demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, verfügen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird.
Zu den in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 genannten Akteuren, die Schutz bieten können, können internationale Organisationen gehören, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, und zwar auch mittels der Präsenz multinationaler Truppen in diesem Gebiet.» (Seite 199)
EuGH zu der von einem Nachwuchsfußballspieler zu leistenden Entschädigung an den ausbildenden Verein, wenn er vorzeitig zu einem anderen Verein wechselt / Rs. Olympique Lyonnais
In dem Urteil heißt es, «dass eine Regelung, die eine Ausbildungsentschädigung für den Fall vorsieht, dass ein Nachwuchsspieler nach Abschluss seiner Ausbildung einen Vertrag als Berufsspieler mit einem anderen Verein als dem abschließt, der ihn ausgebildet hat, grundsätzlich durch den Zweck gerechtfertigt werden kann, die Anwerbung und die Ausbildung von Nachwuchsspielern zu fördern. Eine solche Regelung muss jedoch für das Erreichen dieses Zwecks tatsächlich geeignet und verhältnismäßig im Hinblick auf diesen Zweck sein, wobei die Kosten zu berücksichtigen sind, die den Vereinen durch die Ausbildung sowohl der künftigen Berufsspieler als auch derjenigen, die nie Berufsspieler werden, entstehen».
Ein darüber hinausgehender Schadensersatz verletzt die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 EG. (Seite 206)
Tschechisches Verfassungsgericht, Brünn, lehnt in seinem zweiten Lissabon-Urteil ab, einen Katalog der nichtübertragbaren Zuständigkeiten aufzustellen, und verwahrt sich gegen Polemik des Staatspräsidenten Václav Klaus
Antragsteller ist eine Gruppe von Senatoren, vertreten durch Senator Oberfalzer. Das Tschechische Verfassungsgericht setzt sich zunächst mit der Reichweite der Rechtskraft seines ersten Lissabon-Urteils auseinander und sodann mit den Grenzen seiner eigenen Zuständigkeiten:
«Im Pkt. 49 des Antrags stellt der Antragsteller dann die Forderung, dass das Verfassungsgericht „materielle Grenzen der Kompetenzübertragung“ aufstellt, und im Pkt. 51 bis 56 versucht er, diese selbst zu formulieren, wobei er sich eindeutig von der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 [EuGRZ 2009, 339] inspirieren lässt (…), die einen solchen Katalog in Rdnr. 252 zur Verfügung stellt.
Das Verfassungsgericht hält es aber nicht für möglich, mit Rücksicht auf die Stellung, die es im Verfassungssystem der Tschechischen Republik ausübt, einen solchen Katalog der nichtübertragbaren Zuständigkeiten zu bilden und autoritativ „materielle Grenzen der Übertragung der Zuständigkeiten“ zu bestimmen, so wie es der Antragsteller von ihm verlangt. Es erinnert daran, dass es schon in seinem Urteil Az. Pl. ÚS 19/08 festgestellt hat, dass „diese Grenzen primär dem Gesetzgeber überlassen werden sollten, weil es a priori um eine politische Frage geht, die dem Gesetzgeber ein weites Feld der Überlegung anbietet“ (Pkt. 109). Die Verantwortung für diese politischen Entscheidungen kann nicht auf das Verfassungsgericht übertragen werden; dieses kann sie seiner Kontrolle erst in dem Augenblick unterziehen, nachdem sie auf der politischen Ebene tatsächlich getroffen wurden.»
Zum Stichwort der Souveränität führt das Tschech. VerfG aus: «Die Souveränität bedeutet aber nicht Willkür oder eine Möglichkeit der freien Verletzung der existierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, was auch hinsichtlich derjenigen Verträge gilt, auf deren Grundlage die Tschechische Republik Mitglied der Europäischen Union ist. Der Tschechischen Republik erwachsen aus diesen Verträgen nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gegenüber anderen Mitgliedstaaten. Es wäre im Widerspruch zum Grundsatz pacta sunt servanda nach Art. 26 des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens, wenn die Tschechische Republik jederzeit beginnen könnte, diese Verpflichtungen mit der Berufung darauf zu ignorieren, dass sie wieder eigene Kompetenzen übernehme.»
Die Anträge werden teils als unzulässig und teils als unbegründet zurückgewiesen. (Seite 209)
Zum vorstehenden Urteil s.a. den Aufsatz von Mahulena Hofmann, EuGRZ 2010, 153 (in diesem Heft).
Französischer Staatsrat (Conseil d‘État), Paris, anerkennt eine Verantwortung des Staates für die Mitwirkung bei der von Nazi-Deutschland betriebenen Deportation französischer und ausländischer Juden / Fall Hoffman-Glemane
«Daraus folgt, dass diese Machenschaften die Haftung für entstandene Schäden begründet haben, wenn sie die Deportation der Opfer antisemitischer Verfolgung aus Frankreich ermöglicht oder erleichtert haben und sich nicht aus einem direkten Zwang des Besatzers ergaben. Das gilt insbesondere für Festnahmen, Internierungen und Transporte in Richtung der Durchgangslager, die während des Zweiten Weltkriegs die erste Etappe der Deportationen in jene Lager waren, in denen die meisten dieser Personen ermordet wurden.
Diese antisemitischen Verfolgungen haben außergewöhnliche Schäden von einer extremen Schwere bewirkt, die im absoluten Widerspruch zu den Werten und Prinzipien, insbesondere zur Menschenwürde stehen, wie sie in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und in der republikanischen Tradition verankert sind. Auch wenn während der Kriegsjahre auf französischem Boden Menschen unter Einsatz ihres Lebens Rettungstaten vollbracht und Widerstand geleistet haben, die in zahlreichen Fällen Verfolgungen verhindern konnten, so sind doch 76.000 Menschen, darunter 11.000 Kinder, aus dem einzigen Grund, dass sie aufgrund der Gesetzgebung der faktischen Regierung, die sich „Regierung des französischen Staats“ nannte, als Juden angesehen wurden, aus Frankreich deportiert worden; weniger als 3.000 von ihnen sind aus den Lagern zurückgekehrt. (…)
Die Wiedergutmachung der außergewöhnlichen Leiden der Opfer antisemitischer Verfolgung konnte sich indessen nicht auf Maßnahmen finanzieller Natur beschränken. Sie forderte die feierliche Anerkennung der durch diese Personen kollektiv erlittenen Schäden, der Rolle, die der französische Staat bei den Deportationen gespielt hatte, sowie die Erinnerung an die Leiden der Opfer und ihrer Familien, die im Gedächtnis der Nation immer erhalten bleiben muss.» (Seite 234)
S.a. den Aufsatz von Jan Wiegandt und Kolja Naumann, EuGRZ 2010, 156-167 (in diesem Heft).
Schweizerisches Bundesgericht, Lausanne, nimmt Stellung zur medienrechtlichen Verfassungsordnung und sieht nur ein ausnahmsweises „Recht auf Antenne“ / Verein gegen Tierfabriken
«Die neuen Technologieformen (Internet, Digitalfernsehen usw.) erlauben dem Publikum, sich aus den unterschiedlichsten Quellen zu informieren; gleichzeitig gestatten sie dem Einzelnen, sich im Rahmen einer Vielzahl von Medien über die private Kommunikation hinaus Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen (…). Es kann deshalb zum Schutz vor Benachteiligung beim Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit nur ausnahmsweise in die Programmautonomie der einzelnen Veranstalter eingegriffen und ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Zugang zu einem konkreten Radio- oder Fernsehprogramm anerkannt werden.» (Seite 237)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, stärkt Schutz des Eigentums eines Wohnhauseigentümers gegen gleichheitswidriges Sonderopfer (wertmindernde Stichtagsregelung) bei Flughafenerweiterung / Berlin-Schönefeld
«Demgegenüber müssen die ebenfalls von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Interessen der Vorhabensträger an der Nutzung des Flughafens (…) zurücktreten, wenn die Betroffenen aufgrund der Festlegung des Stichtags für die zu zahlende Entschädigung nicht mehr in der Lage sind, sich ein adäquates Wohngrundstück für sich und ihre Familie leisten zu können. Dabei mag zwar – je nach den Umständen des Einzelfalls – ein gewisser Grundstückswertverlust aufgrund des geplanten Flughafens als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums hinzunehmen sein. Die Beschwerdeführer machen hier jedoch eine Verkehrswertminderung im Ausmaß von 50 bis 60 % geltend. Von diesem Ausmaß der Verkehrswertminderung ist im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren auszugehen, weil sie so vom Bundesverwaltungsgericht, das diesbezüglich auf eine Beweisaufnahme verzichtet hat, im angegriffenen Beschluss unterstellt worden ist.» (Seite 240)
BVerfG beanstandet Verletzung der Vorlagepflicht an den EuGH durch Bundesarbeitsgericht
Die Nichtvorlage an den EuGH verletzt das Recht auf den gesetzlichen Richter i.S.v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. (Seite 247)
BVerfG erkennt keine Richter-Befangenheit bei wissenschaftlichen Äußerungen
«Die zitierten Äußerungen des Richters betreffen abstrakte Kausalitätsfragen und nehmen grundsätzlich auf gesetzliche Erfordernisse Bezug.» (Seite 252)
BVerfG sieht wörtliches Zitat aus Anwaltsschreiben in Internetveröffentlichung durch Meinungsfreiheit gedeckt
Gerichtliche Unterlassungsanordnung verletzt Art. 5 Abs. 1 GG, zumal eine Prangerwirkung nicht erkennbar ist. (Seite 253)
BVerfG wertet drohende erschwerte lebenslängliche Freiheitsstrafe in der Türkei als Auslieferungshindernis
«Die Auslieferung bei drohender Verhängung einer sogenannten erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verstößt gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, soweit diese erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe so ausgestaltet ist, dass sie nicht lediglich eine Strafaussetzung zur Bewährung gesetzlich ausschließt, sondern auch die bloß theoretische Möglichkeit einer späteren Begnadigung unter die rechtliche Bedingung dauernder Krankheit, Behinderung oder des Alters stellt.» (Seite 256)
Konsequenzen eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK für die EU selbst, für den Europarat und den EGMR / Kritik an Richterwahlen
Der Beitrag unterstreicht die essentiellen Vorteile für die EU, als vollwertige Vertragspartei in den Organen der EMRK mitzuwirken. Er mahnt erneut die administrative Unabhängigkeit des Gerichtshofs vom Generalsekretär des Europarats an und er übt scharfe Kritik an der mangelnden professionellen Qualifikation der, im April von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählten, neuen ukrainischen Richterin, die bei ihrer Nominierung mit einem vier-Jahres-Vertrag in der Kanzlei des Gerichtshofs als Anfänger-Juristin beschäftigt war:
« Solche Wahlen sind die sicherste Methode, künftig geeignete Richter-Kandidaten abzuschrecken. Abgesehen davon, wäre es weder dem Ansehen des Gerichtshofs förderlich noch entspräche es EuGH-Standard, wenn die Regierungen dazu übergingen, die Kandidatenliste mit Beamten aus der Kanzlei des Gerichtshofs oder sonst aus dem Europarat aufzufüllen. Nicht nur für ein Gelingen der Beitrittsverhandlungen der EU zur EMRK seien die Regierungen an das Niveau ihrer nationalen Höchstgerichte erinnert. Der Test, dem sich jede Regierung für die Qualifikation ihrer Straßburger Kandidatenliste selbst stellen sollte, lautet: Wären wir bereit, jeden der drei für den EGMR nominierten Kandidaten in unser nationales Verfassungsgericht bzw. Höchstgericht zu berufen?» (Seite 259)
EGMR-Urteil zur nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung (M. gegen Deutschland, EuGRZ 2010, 25) rechtskräftig. Fall kommt nicht vor die Große Kammer. (Seite 261)
Slowakei missachtet einstweilige Anordnung des EGMR im Fall Mustapha Labsi. (Seite 261)
BVerfG lehnt zu den Finanzhilfen für Griechenland den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. (Seite 261)