EuGRZ 2013 |
17. Mai 2013
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40. Jg. Heft 6-9
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Maierhöfer, Oldenburg, stellt nach einer rechtsvergleichenden Analyse von je einem Urteil des EGMR und des BVerfG zum Thema „Homosexualität, Ehe und Gleichheit“ ein „Missverständnis im Dialog der Gerichte“ fest
«Es kommt nicht häufig vor, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und ein nationales Verfassungsgericht an ein- und demselben Tag Grundsatzentscheidungen zu sehr ähnlichen Fragen fällen. Das Urteil der Großen Kammer des Straßburger Gerichtshofs im Fall X u.a. ./. Österreich vom 19. Februar 2013, Nr. 19010/07, und das ebenfalls an diesem Tag ergangene Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09, EuGRZ 2013, 79 ff., sind eine solche seltene Ausnahme. In beiden Verfahren ging es um die Frage, ob der Umstand, dass der eine Partner einer homosexuellen Beziehung nicht das (in Deutschland: Adoptiv-)Kind des anderen Partners adoptieren kann, mit den Grund- bzw. Menschenrechten vereinbar ist. Und in beiden Verfahren kamen die Gerichte (jedenfalls vordergründig) zum selben Ergebnis: Die Beschränkung der Adoptionsmöglichkeit verletzt den allgemeinen Gleichheitssatz bzw. das Diskriminierungsverbot.»
Der Autor stellt die jeweils (in Deutschland und Österreich) unterschiedliche Rechtslage der Ausgangsverfahren dar sowie die Entscheidungsbegründungen von BVerfG und EGMR. Er nimmt sodann die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR „von der Freiheit Homosexueller zur Gleichheit“ und die des BVerfG „vom Familienschutz zum Gleichheitsrecht“ in den Blick und prüft schließlich das Bemühen des BVerfG um eine Berücksichtigung der Straßburger Rechtsprechung und deren spätere divergierende Entwicklung.
Abschließend geht es um die „(Un-)Gleichheit von Ehe und homosexueller Partnerschaft, d.h. die Perspektiven von BVerfG und EGMR:
«Das Bemühen um Berücksichtigung der Straßburger Entscheidungen schließt Rechtsprechungsdivergenzen zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EGMR nicht aus, wenn sich die nationale Rechtsprechung von ihrem ursprünglichen konventionsrechtlichen Begründungszusammenhang verselbständigt, anstatt fortlaufend kritisch zu prüfen, ob sie noch mit der Entwicklung in Straßburg übereinstimmt. Man muss es schon fast als Ironie des Schicksals bezeichnen, wenn sich nun herausstellt, dass der EGMR in Bezug auf die Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft nahezu ebenso argumentiert, wie es eine Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts und der BGH getan haben, bevor der Erste Senat sie 2009 unter Berufung auf die Straßburger Rechtsprechung korrigierte. Auch solche Missverständnisse im europäischen Dialog der Gerichte können jedoch befruchtend sein: Es ist nun am Bundesverfassungsgericht, an seiner Auffassung festzuhalten und die Straßburger Kollegen mittel- bis langfristig doch noch von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Bis dahin bleibt festzuhalten: In Straßburg ist man inzwischen zwar bereit, homosexuelle Partnerschaften mit unverheirateten heterosexuellen Paaren gleichzustellen, die Forderung nach einer Gleichstellung mit Ehegatten wird von dort jedoch – anders als von Karlsruhe – zurückgewiesen.» (Seite 105)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt Beschwerde des nicht eingetragenen Vereins Hizb Ut-Tahrir (islamische „Befreiungspartei“) gegen ein durch den Bundesinnenminister ausgesprochenes Verbot für unzulässig, weil missbräuchlich (Art. 17 EMRK) / Hizb Ut-Tahrir gegen Deutschland
Beschwerdeführer sind die genannte Organisation (Bf. zu 1) und 16 weitere Einzelpersonen (Bf. zu 2 bis 17) unterschiedlicher Staatsangehörigkeit (Österreicher, Deutscher, Israeli, Jordanier, Iraker, Türke, Yemenite, Palestinenser).
Der Bundesinnenminister stützte seine Entscheidung auf das Buch „Die Unausweichlichkeit des Kampfes der Kulturen“, das 1953 vom Gründer der Organisation, Taqiuddin An-Nabhani, veröffentlicht wurde, sowie auf eine Reihe von Veröffentlichungen, die der Bf. zu 1 zugeschrieben werden, insbesondere Artikel in der Zeitschrift „Explizit“, Flugblätter und Veröffentlichungen auf der Internetseite der Organisation, und war der Ansicht, dass die Bf. zu 1 dem Staat Israel das Existenzrecht abspreche und zu dessen Zerstörung sowie zur Tötung von Juden aufrufe. Hierin komme die grundlegende weltanschauliche Haltung der Bf. zum Ausdruck, zu der der „aktive Jihad“ gehöre. Die Bf. agiere gezielt gegen islamische Staaten und Regierungen und habe wiederholt zum Sturz von Regierungen aufgerufen. Sie verfolge ihre Ziele, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richteten, in aktiv-kämpferischer, aggressiver Weise. Dabei beschränke sie sich nicht auf bloße Kritik an bestehenden politischen oder sozialen Zuständen oder auf ein schlichtes Ablehnen der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten und Völkern, sondern rufe auch zum bewaffneten Kampf gegen den Staat Israel, die Juden und die Regierungen islamischer Staaten auf.
Des Weiteren war das Ministerium der Ansicht, dass es sich bei der Bf. zu 1 nicht um eine politische Partei handele, da sie nicht beabsichtige, an Wahlen in Deutschland teilzunehmen. Darüber hinaus sei die Bf. zu 1 nicht als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft anzusehen, da sie keine religiösen, sondern politische Ziele verfolge.
Da vor dem Bundesverfassungsgericht ausländische juristische Personen, die in Deutschland keinen Sitz haben, nicht beschwerdefähig sind, war im vorliegenden Verfahren das Bundesverwaltungsgericht die letzte innerstaatliche Instanz.
Zu der in erster Linie erhobenen Rüge einer Verletzung der Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) heißt es in der Entscheidungsbegründung des EGMR:
«Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverwaltungsgericht, das eine beträchtliche Anzahl schriftlicher Äußerungen des Bf. zu 2, die in Zeitschriftenartikeln, Flugblättern und Protokollen öffentlicher Auftritte enthalten waren, sorgfältig analysiert hatte, zu dem Schluss kam, dass die Bf. zu 1 dem Staat Israel nicht nur das Existenzrecht abspreche, sondern auch zur gewaltsamen Vernichtung dieses Staats sowie zur Vertreibung und Tötung seiner Bewohner aufrufe. Das Bundesverwaltungsgericht war darüber hinaus der Auffassung, dass das Propagieren dieser Ziele eines der Hauptanliegen der Bf. zu 1 sei. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich diese Einschätzung nicht nur auf die in der Zeitschrift „Explizit“veröffentlichten Artikel stützt – für welche die Bf. zu 1 die Verantwortung bestreitet – sondern auch auf eine Reihe von Artikeln, die unbestritten von der Bf. zu 1 veröffentlicht wurden, sowie auf zwei öffentliche Äußerungen des Bf. zu 2, der in dem vorliegenden Verfahren als Vertreter der Bf. zu 1 auftritt. Das Gericht stellt insbesondere fest, dass der Bf. zu 2, in den oben erwähnten Stellungnahmen, wiederholt Selbstmordanschläge rechtfertigte, bei denen Zivilisten in Israel getötet wurden, und sich weder die Bf. zu 1 noch der Bf. zu 2 während des Verfahrens vor dem Gerichtshof von dieser Haltung distanzierten (…).
Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Bf. zu 1 versucht, Art. 11 der Konvention von seinem eigentlichen Zweck zu lösen,indem sie dieses Recht zu Zwecken nutzt, die den Werten der Konvention, insbesondere dem Eintreten für eine friedliche Lösung internationaler Konflikte und die Unverletzlichkeit menschlichen Lebens, klar entgegenstehen. Folglich stellt der Gerichtshof fest, dass die Bf. zu 1 in Anbetracht von Art. 17 [Missbrauchsverbot] der Konvention nicht von dem durch Art. 11 [Vereinigungsfreiheit] der Konvention gewährten Schutz profitieren darf.» (Seite 114)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, definiert die Reichweite der Grundrechte-Charta (GRCh) bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten (Art. 51 GRCh) / Rs. Åkerberg Fransson
Hier: Strafbewehrte Durchsetzung der Mehrwehrtsteuerpflicht und Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem, Art. 50 GRCh). Ausschlaggebend ist, dass ein Teil der Mehrwertsteuer der EU als Eigenmittel zusteht, eine Hinterziehung der MwSt. also zu einer Verkürzung der Eigenmittel der EU führt.
Generalanwalt Pedro Cruz Villalón (vorm. Präsident des spanischen Verfassungsgerichtshofs) vertritt in seinen Schlussanträgen die Ansicht, dass die Grundrechte-Charta im vorliegenden Fall nicht anwendbar, der EuGH für die Beantwortung der vom schwedischen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig ist. Er sieht den Schwerpunkt des Falles weniger in der Mehrwertsteuersphäre als vielmehr in der originär hoheitlichen Strafgewalt der Mitgliedstaaten (ius puniendi). (Seite 124)
Der EuGH (Große Kammer) kommt in seinem Urteil zum gegenteiligen Ergebnis, nämlich dass er zuständig ist, und stellt fest:
· Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.
· Das Unionsrecht regelt nicht das Verhältnis zwischen der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch diese Konvention gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat.
· Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof der Europäischen Union – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.» (Seite 137)
EuGH bekräftigt das Recht eines nationalen Gerichts, ein Vorabentscheidungsersuchen (Art. 267 AEUV) an den EuGH zu richten, auch wenn das Verfassungsgericht in der Sache zuvor anders entschieden hat / Rs. Križan u.a.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens – J. Križan und 43 andere – verlangen öffentlichen Zugang zu Genehmigungsunterlagen der zuständigen Stadtverwaltung über den Standort für die Errichtung einer Abfalldeponie. Der Deponiebetreiber hatte argumentiert, die Standortunterlagen beträfen Geschäftsgeheimnisse. Eine Veröffentlichung würde sein Eigentumsrecht aus Art. 20 Abs. 1 der slowakischen Verfassung und Art. 1 des 1. ZP-EMRK verletzen. Der Verfassungsgerichtshof hatte, wie vom Betreiber beantragt, die Nichtveröffentlichung gebilligt und die Sache an den Obersten Gerichtshof zurückverwiesen. Dieser sieht sich zwar an die Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofs gebunden, durch Art. 267 AEUV jedoch verpflichtet, zur Auslegung des einschlägigen Umweltrechts der Union und des durch Art. 17 GRCh geschützten Eigentumsrechts den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen.
Der EuGH (Große Kammer) gelangt im Hinblick auf Vorlagerecht bzw. Vorlagepflicht des Obersten Gerichtshofs zu folgendem Ergebnis: «Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht wie das vorlegende Gericht auch dann verpflichtet ist, von Amts wegen ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten, wenn es nach der Aufhebung seiner ersten Entscheidung und Zurückverweisung durch das Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats über die Sache befindet und nach einer nationalen Vorschrift verpflichtet ist, bei seiner Entscheidung über den Rechtsstreit der von dem Verfassungsgericht vertretenen Rechtsauffassung zu folgen.»
Der EuGH bestätigt den unionsrechtlichen Anspruch auf öffentlichen Zugang zu den entsprechenden Umweltunterlagen und sieht darin keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Eigentumsrecht des Betreibers gem. Art. 17 GRCh. (Seite 142)
EuGH spricht sich gegen die Ablehnung (durch rumänische Behörden) eines zur Strafverfolgung (in Deutschland) ausgestellten Europäischen Haftbefehls aus / Rs. Radu
Insbesondere ist das Argument nicht stichhaltig, der Gesuchte hätte vor Ausstellung des Haftbefehls angehört werden müssen:
«Eine Verpflichtung der ausstellenden Justizbehörden, die gesuchte Person vor Ausstellung eines solchen Europäischen Haftbefehls anzuhören, würde das im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehene Übergabesystem unweigerlich zum Scheitern bringen und damit die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vereiteln, da einem solchen Haftbefehl, insbesondere um eine Flucht des Betroffenen zu verhindern, ein gewisser Überraschungseffekt zukommen muss.
Jedenfalls hat der europäische Gesetzgeber die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Vollstreckungsmitgliedstaat dergestalt gesichert, dass die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nicht beeinträchtigt wird.» (Seite 152)
EuGH widerspricht der auf die nationale (spanische) Verfassung gestützten Intervention eines Verfassungsgerichts zur Ablehnung eines (von Italien) zur Strafvollstreckung ausgestellten Europäischen Haftbefehls, wenn der in Abwesenheit Verurteilte sich der Hauptverhandlung durch Flucht entzogen hat / Rs. Melloni
«Könnte sich ein Mitgliedstaat auf Art. 53 der Charta berufen, um die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der im Rahmenbeschluss 2009/299 nicht vorgesehenen Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in der Verfassung des vollstreckenden Mitgliedstaats garantiert sind, verletzt werden, würde dies deshalb, indem die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Grundrechtsschutzstandards in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss stärken soll, führen und daher die Wirksamkeit dieses Rahmenbeschlusses beeinträchtigen.» (Seite 157)
EuGH unterstreicht den unionsrechtlichen Anspruch auf TV-Kurzberichterstattung gegenüber Inhabern exklusiver Fernsehübertragungsrechte (hier: Fußballspiele) / Rs. Sky Österreich
«Unter Berücksichtigung einerseits der Bedeutung, die der Wahrung des Grundrechts auf Information sowie der Freiheit und dem Pluralismus der Medien, wie sie durch Art. 11 der Charta garantiert werden, zukommt, und andererseits des Schutzes der unternehmerischen Freiheit, wie ihn Art. 16 der Charta gewährt, stand es dem Unionsgesetzgeber frei, Bestimmungen wie die in Art. 15 der Richtlinie 2010/13 zu erlassen, die Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit vorsehen und zugleich im Hinblick auf die erforderliche Gewichtung der betroffenen Rechte und Interessen den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen gegenüber der Vertragsfreiheit privilegieren.» (Seite 164)
EuGH stärkt Anspruch von Fluggästen auf Betreuung (Hotel- und Aufenthaltskosten) durch die Fluggesellschaft auch bei Annullierung eines Fluges wegen „außergewöhnlicher Umstände“ / Rs. McDonagh ./. Ryanair
«Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (…) ist dahin auszulegen, dass Umstände wie die Schließung eines Teils des europäischen Luftraums nach dem Ausbruch des [isländischen] Vulkans Eyjafjallajökull „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Verordnung darstellen, die die Luftfahrtunternehmen nicht von ihrer Betreuungspflicht gemäß den Art. 5 Abs. 1 Buchst. b und 9 der Verordnung entbinden. (…)
Ein Fluggast kann jedoch als Entschädigung dafür, dass das Luftfahrtunternehmen seiner Betreuungspflicht (…) nicht nachgekommen ist, nur solche Beträge erstattet bekommen, die sich in Anbetracht der dem jeweiligen Fall eigenen Umstände als notwendig, angemessen und zumutbar erweisen, um den Ausfall der Betreuung des Fluggasts durch das Luftfahrtunternehmen auszugleichen, was zu beurteilen Sache des nationalen Gerichts ist.»
Ryanair hatte sich erfolglos auf Art. 16 und 17 GRCh (unternehmerische Freiheit und Eigentumsrecht) berufen und argumentiert, die Betreuungspflicht „entziehe den Unternehmen einen Teil der Früchte ihrer Arbeit“. (Seite 169)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt das Antiterrordatei-Gesetz teilweise für verfassungswidrig
In den Leitsätzen des Ersten Senats wird u.a. ausgeführt: «Eine Verbunddatei zwischen Sicherheitsbehörden wie die Antiterrordatei bedarf hinsichtlich der zu erfassenden Daten und ihrer Nutzungsmöglichkeiten einer hinreichend bestimmten und dem Übermaßverbot entsprechenden gesetzlichen Ausgestaltung. Das Antiterrordateigesetz genügt dem nicht vollständig, nämlich hinsichtlich der Bestimmung der beteiligten Behörden, der Reichweite der als terrorismusnah erfassten Personen, der Einbeziehung von Kontaktpersonen, der Nutzung von verdeckt bereitgestellten erweiterten Grunddaten, der Konkretisierungsbefugnis der Sicherheitsbehörden für die zu speichernden Daten und der Gewährleistung einer wirksamen Aufsicht.
Die uneingeschränkte Einbeziehung von Daten in die Antiterrordatei, die durch Eingriffe in das Brief- und Fernmeldegeheimnis und das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung erhoben wurden, verletzt Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG.» (Seite 174)
BVerfG erklärt die in § 13 Abs. 13 Satz 2 und 3 Luftsicherheitsgesetz enthaltene ministerielle Eilkompetenz zum Einsatz der Streitkräfte im Inland bei überregionalem Katastrophennotstand für verfassungswidrig und nichtig
Der Zweite Senat betont in dem von Bayern und Hessen angestrengten Normenkontrollverfahren die Alleinzuständigkeit der Bundesregierung als Kollegialorgan gem. Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG. (Seite 203)
BVerfG billigt „Deal im Strafprozess“ und das hierzu ergangene Verständigungsgesetz
In den Leitsätzen des Zweiten Senats heißt es: «Verständigungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten über Stand und Aussichten der Hauptverhandlung, die dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze zusagen und eine Strafuntergrenze ankündigen, tragen das Risiko in sich, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber nicht schlechthin verwehrt, zur Verfahrensvereinfachung Verständigungen zuzulassen. Er muss jedoch zugleich durch hinreichende Vorkehrungen sicherstellen, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen gewahrt bleiben. Die Wirksamkeit der vorgesehenen Schutzmechanismen hat der Gesetzgeber fortwährend zu überprüfen. Ergibt sich, dass sie unvollständig oder ungeeignet sind, hat er insoweit nachzubessern und erforderlichenfalls seine Entscheidung für die Zulässigkeit strafprozessualer Absprachen zu revidieren. (…)
Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung. (…)
Mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes hat die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren eine abschließende Regelung erfahren. Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sogenannte informelle Absprachen sind unzulässig.» (Seite 212)
BVerfG gibt Verfassungsbeschwerden gegen Fortdauer der nachträglich (nach Erledigung der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik) angeordneten Sicherungsverwahrung statt
Maßgeblich für den Beschluss des Zweiten Senats ist die in dessen Urteil vom 4. Mai 2011, EuGRZ 2011, 297 festgelegte Übergangsregelung bis zu einer gesetzlichen Neuregelung und die in der vorliegenden Entscheidung herangezogene Rechtsprechung des EGMR.
In der Begründung heißt es: «Die Gerichte verkennen, dass in Altfällen aufgrund der Beeinträchtigung grundrechtlich geschützten Vertrauens der Eingriff in das Freiheitsrecht der Beschwerdeführer nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig ist und verletzen dadurch, dass sie eine Prüfung anhand dieses Maßstabes – die in erster Linie ihnen, nicht dem Bundesverfassungsgericht, obliegt – nicht vorgenommen haben, das durch das Freiheitsrecht geschützte Vertrauen der Beschwerdeführer auf ein Unterbleiben der nachträglichen Anordnung einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung.» (Seite 233)
BVerfG bestätigt Stichtagsregelung (1. Juli 1949) für die Erbberechtigung nichtehelich geborener Kinder auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR. (Seite 238)
BVerfG verwirft Anträge der NPD auf Feststellung, keine verfassunswidrige Partei i.S.d. Art. 21 Abs. 1 GG zu sein (Seite 244)
Hans-Jörg Behrens und Judith Hilker, Berlin, erläutern das Gesetz zur Einführung von Kostenhilfe für Drittbetroffene vor dem EGMR
Das EGMR-Kostenhilfegesetz (EGMRKHG) ist nach der am 24. April 2013 erfolgten Verkündung im Bundesgesetzblatt bereits in Kraft getreten.
Die Autoren stellen fest: «Das Gesetz beendet die aus rechts- und sozialstaatlichen Gründen schwer hinnehmbare Situation, in der Drittbetroffene aus finanziellen Gründen gehindert sein konnten, sich an Verfahren vor dem EGMR zu beteiligen – auch wenn es um ihre Menschenrechte ging. (…).
Es besteht zudem die Erwartung, dass das EGMR-Kostenhilfegesetz dazu führt, dass die Diskussion über die Stellung und Bedeutung der Drittbeteiligten auch auf der Ebene des Europarates belebt wird – dort, wo die schwache Stellung der Drittbetroffenen am effektivsten – zum Beispiel durch Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – behoben werden kann.» (Seite 247)
BVerfG zur Aufteilung der Presseplätze im Strafverfahren zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) vor dem OLG München
In dem Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats wird dem Vorsitzenden des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts aufgegeben, «nach einem von ihm im Rahmen seiner Prozessleitungsbefugnis festzulegenden Verfahren eine angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten zu vergeben. Möglich wäre, ein Zusatzkontingent von nicht weniger als drei Plätzen zu eröffnen, in dem nach dem Prioritätsprinzip oder etwa nach dem Losverfahren Plätze vergeben werden. Es bleibt dem Vorsitzenden aber auch unbenommen, anstelle dessen die Sitzplatzvergabe oder die Akkreditierung insgesamt nach anderen Regeln zu gestalten.» (Seite 249)