EuGRZ 2015 |
22. April 2015
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42. Jg. Heft 5-8
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Tomuschat, Berlin, kritisiert das Gutachten des EuGH gegen den Beitritt der EU zur EMRK unter der Überschrift „Der Streit um die Auslegungshoheit: Die Autonomie der EU als Heiliger Gral“
«Vielleicht wird man sogar (…) argumentieren können, „dass“ durch den Nichtabschluss des geplanten Beitrittsvertrags eine Einschränkung der Kontrollbefugnisse des EGMR verhindert würde. Im Übrigen würde es dem EGMR freistehen, angesichts eines Fehlschlages seine Bosphorus-Rspr. zu revidieren und die EU-Mitgliedstaaten für alle von ihnen durchgeführten Akte der EU-Organe ohne jede Vermutung einer EMRK-Konformität verantwortlich zu machen.»
Zu den rechtlichen Ausgangsdaten sieht der Autor zwei allgemeine Fragen aufgeworfen: «Die erste dieser Fragen lautet, ob es Sinn und Zweck des Abkommensentwurfs war, der EU, über die Rücksichtnahme auf ihre besondere innere Struktur hinaus, einen privilegierten Status innerhalb des Systems der EMRK zuzuweisen. Dazu ist insbesondere auf den Aussagegehalt von Art. 6 Abs. 2 EUV, Protokoll Nr. 8 und die zu den beiden Bestimmungen abgegebene Erklärung der Regierungskonferenz einzugehen. Die zweite dieser Fragen lautet, ob der EuGH die damit umrissene Sonderstellung der EU richtig verstanden hat oder sie in einem Sinne umdefiniert, der die EU nicht nur als Vertragspartei sui generis anerkennt, sondern ihr einen Vorrang zuweist, der sich mit dem Gedanken der Gleichheit innerhalb eines Vertragssystems nicht vereinbaren lässt.»
Zur Grundsatzperspektive führt der Beitrag aus: «In der Tat geht (…) der EuGH nicht auf die materiellen Aspekte des Beitritts ein, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die seiner Ansicht nach bestehenden prozeduralen Folgen, anders als Generalanwältin Kokott, die mit großer Sorgfalt darlegt, dass insoweit tatsächlich keinerlei negative Einflüsse des Beitritts zu erwarten wären. Der Beitritt zur EMRK wird vom EuGH im Wesentlichen als Kompetenzproblem im Verhältnis zwischen sich und dem Straßburger Gerichtshof gesehen.»
Tomuschat geht dann im Einzelnen auf die Hauptkritikpunkte des EuGH ein und auf die Kadi-Rechtsprechung. Er gelangt zu folgendem Schluss:
«So ergibt sich in der Zusammenschau ein einheitliches und zugleich widersprüchliches Bild. Der EuGH ist bestrebt, die EU als einen einheitlichen Grundrechtsraum zu festigen, der ausschließlich seiner richterlichen Bestimmungsmacht unterliegt. Dabei dient die Abgrenzung nach oben hin zur Weltebene dem Schutz der Unionsgrundrechte vor beeinträchtigenden Absenkungen. Im Verhältnis zur EMRK hingegen will der EuGH sicherstellen, dass nicht möglicherweise unter Berufung auf die EMRK weitergehende Rechte abgeleitet werden können, die einen in der EU erreichten Schutzstandard oder ein sonstiges Rechtsregime übertrumpfen können. Die EU wird als selbstgenügsames Gemeinwesen gesehen. Man meint, in zeitgemäßer Verkleidung einen Verfechter staatlicher Souveränität sprechen zu hören. Die Staaten haben sich mittlerweile alle solcher Gesten und Taten hoheitlicher Undurchdringlichkeit entledigt. Es wird Zeit, dass auch der EuGH zu der Einsicht kommt, dass Grundrechtsschutz in einem kooperativen Verbund zu leisten ist. Einstweilen bleibt nur das Fazit, dass der Beitritt zur EMRK nicht nur um wenige Monate oder Jahre aufgeschoben ist, sondern voraussichtlich keine einhellige Fürsprache mehr findet. Eine echte Notlage ist dadurch nicht entstanden. Die Probleme haben ein schärferes Profil erhalten. In dem Geiste, wie es der EuGH versucht hat, können sie nicht gelöst werden.» (Seite 133)
Claudio Franzius, Berlin, untersucht „Strategien der Grundrechtsoptimierung in Europa“
Der Autor unterscheidet im Einzelnen (1) den Anwendungsbereich der Grundrechte, (2) die Ausdehnung der kumulativen Anwendbarkeit der Grundrechte, (3) die Frage eines autonomen Grundrechtsschutzes, (4) eine Modifikation von „Solange“, und (5) die Frage nach Unionsgrundrechten als verfassungsrechtlichem Prüfungsmaßstab mit einem (a) Implementationsansatz sowie (b) Systemansatz.
Zusammenfassend führt Franzius u.a. aus: «Wenig erfolgversprechend erscheint die Strategie, den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte zu reduzieren. Grundrechtsoptimierungen sind im europäischen Rechtsraum vielmehr nach Maßgabe der Doppelgeltungs- oder Verbindungsthese der Grundrechte zu erwarten, was die EMRK-Rechte einschließt und eine Spielraumdogmatik erfordert. Die Unionsgrundrechte gehen nicht in den EMRK-Rechten auf. Aber der EuGH muss der EGMR-Rechtsprechung einen Raum belassen, der sich mit dem Hinweis auf die Autonomie des Unionsrechts kaum überzeugend verkleinern lässt. Ohne die nationalen Verfassungsgerichte und den EGMR hätte Luxemburg kaum zu einer ordnungsübergreifenden Grundrechtskontrolle gefunden. (…)
Der EuGH mag den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte weiter als das BVerfG ziehen, erlaubt die Ausfüllung von Spielräumen aber nach Maßgabe der nationalen Grundrechte unter dem Vorbehalt, dass der Vorrang gewahrt bleibt. Für das BVerfG stellt sich die Frage nach der Reichweite des Günstigkeitsprinzips nicht, weil in der Spielraumkonstellation schon ein Überlappungsbereich mit Unionsgrundrechten verneint wird. Das ruft Konflikte hervor: Während der EuGH sich fragen muss, ob die Anwendbarkeit nationaler Grundrechte unter einen rigiden Vorrangvorbehalt gestellt werden kann, ist das BVerfG vor die Frage gestellt, ob eine Abschirmung der deutschen Grundrechte gegenüber den Unionsgrundrechten auf Dauer trägt. (…)
Es hilft allein nicht weiter, die Vorlage von Grundrechtsfragen durch das BVerfG anzumahnen. Das wird umso eher erwartet werden können, desto überzeugender der EuGH den Respekt vor den nationalen Grundrechtskulturen signalisiert, die sich mit einer Verabsolutierung des Vorrangs kaum einebnen lassen dürften. (…)
Nichts spricht dagegen, die europäische „Mehrebenenwelt“ unter der Trennungsperspektive zu ordnen. (…) Die Verbindungsthese im hier verstandenen Sinne geht von einer Maßgeblichkeit staatlicher Maßstäbe aus, in die überstaatliche Maßstäbe „eingebaut“ und berücksichtigt werden. So schwer sich diese, aus dem Verwaltungsrecht nicht unbekannte Berücksichtigungspflicht auch ausformen lässt: Die Aufnahme überstaatlicher Schutzgehalte in den Grundrechtsschutz des Grundgesetzes hätte den Vorteil, die europäischen Grundrechte nicht bloß prozessual an der Schlagkraft der Durchsetzungsinstrumente staatlicher Gerichte teilhaben zu lassen, sondern auch materiell, indem eine Annäherung der Ebenenstandards ermöglicht wird. Das geschieht nicht eindimensional in einer Richtung, die den formalen Eigenstand des Grundrechtsregimes in Frage stellt. Vielmehr erlaubt es diese Optimierungsstrategie, das Erbe staatlicher Grundrechtskultur in die überstaatliche Welt einzubringen und für diese zu werben.
Eine zentrale Herausforderung der Rechtswissenschaft liegt darin, die europäische Mehrebenenwelt im Sinne des konstitutionellen Pluralismus zu verstehen.» (Seite 139)
Ralph Zimmermann, Leipzig, erarbeitet Gedanken zum Vorab-Gutachtenverfahren gemäß dem 16. Zusatzprotokoll zur EMRK – Das „Protokoll des Dialogs“
«Sollte es nach einem Inkrafttreten des 16. ZP gleichwohl zu einer maßgeblichen Zahl an Vorab-Gutachtenanfragen kommen, ist es schließlich am EGMR, den Dialog in einer Weise aufzunehmen, dass ein zeitnahes Gespräch in der Sache zustande kommt, ohne dass andererseits die übrigen Verfahren durch die Gutachten noch weiter verzögert werden. Das verlangt freilich, solche Anfragen möglichst zügig sowie vorrangig zu bearbeiten und zu beantworten; den Gutachtenanfragen hohe Priorität einzuräumen, hat der Gerichtshof denn auch bereits angekündigt. Hierfür könnte es sich als Hemmschuh erweisen, dass das 16. ZP keine Vorsorge dafür trifft, dass die Vorlagen der nationalen Gerichte in einer der Gerichtssprachen des EGMR erfolgen müssen. Vielmehr ist es danach möglich, dass die nationalen Gerichte in ihrer jeweiligen Gerichtssprache vorlegen, was eine Verzögerung der Vorab-Gutachtenverfahren durch das Erfordernis von Übersetzungen der Vorlagen mit sich bringen kann – ganz abgesehen von der bislang nicht geklärten Frage, wer die Kosten solcher Übersetzungen zu tragen hat.
Trotz dieser mit dem 16. ZP verbundenen Risiken bietet das damit einzuführende Vorab-Gutachtenverfahren nicht zu unterschätzende Chancen: Es ermöglicht den höchsten nationalen Gerichten, die aus ihrer Sicht aktuellen und zentralen Auslegungsfragen zur EMRK direkt dem EGMR vorzulegen. Dadurch können einerseits Unklarheiten in der Rechtsprechung des EGMR unmittelbarer als bislang beseitigt werden. Es können aber, was vielleicht noch wichtiger ist, nationale Rechtssätze oder strukturelle innerstaatliche Entwicklungen, die sonst für eine Vielzahl von Individualbeschwerden gesorgt hätten, von einem umsichtigen nationalen Höchstgericht dem EGMR bereits vorab vorgelegt werden.» (Seite 153)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert Asyl-Kriterien für desertierte Soldaten / Rs. Shepherd
Im Ausgangsverfahren vor dem Verwaltungsgericht München geht es um den Asyl-Antrag eines US-amerikanischen Soldaten in Deutschland nach dessen Desertion zur Vermeidung eines erneuten Irak-Einsatzes wegen befürchteter Verwicklung in Kriegsverbrechen (EuGRZ 2014, 496). Der EuGH kommt zu folgendem Ergebnis:
«1. Die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind dahin auszulegen,
· dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen,
· dass sie den Fall betreffen, in dem der geleistete Militärdienst selbst in einem bestimmten Konflikt die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich der Fälle, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde,
(…)
· dass bei der den innerstaatlichen Behörden obliegenden Würdigung zu berücksichtigen ist, dass eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der Organisation der Vereinten Nationen oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet, und dass der oder die die Operationen durchführenden Staaten Kriegsverbrechen ahnden, und
· dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrenden Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen zu entgehen, so dass der Umstand, dass er kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 ausschließt, sofern der Antragsteller nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand.
2. Die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/83 sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht davon auszugehen ist, dass die einem Militärangehörigen wegen der Verweigerung des Dienstes drohenden Maßnahmen wie eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder die Entlassung aus der Armee angesichts der legitimen Ausübung des Rechts auf Unterhaltung einer Streitkraft durch den betreffenden Staat als in einem Maß unverhältnismäßig oder diskriminierend angesehen werden könnten, dass sie zu den von diesen Bestimmungen erfassten Verfolgungshandlungen gehören würden. Dies zu prüfen ist jedoch Sache der innerstaatlichen Behörden.» (Seite 160)
EuGH zieht zur Überprüfung des Asyl-Grundes der Furcht vor Verfolgung wegen Homosexualität in der Menschenwürde begründete Grenzen und verbietet intime „Tests“ bzw. „Beweis“-Videos / Rs. A
Behördliche Befragungen zu den Einzelheiten sexueller Praktiken eines Asylbewerbers verstoßen insbesondere gegen das in Art. 7 GRCh verankerte Recht auch Achtung des Privat- und Familienlebens. In Bezug auf die Möglichkeit, dass die nationalen Behörden, «wie es einige Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren vorgeschlagen haben, akzeptieren, dass Antragsteller homosexuelle Handlungen vornehmen, sich etwaigen „Tests“ zum Nachweis ihrer Homosexualität unterziehen oder auch Beweise wie Videoaufnahmen intimer Handlungen vorlegen, würde durch derartige Mittel – abgesehen davon, dass sie nicht zwangsläufig Beweiskraft besitzen – die Würde des Menschen verletzt, deren Achtung in Art. 1 der Charta garantiert ist.»
Der EuGH betont ferner: «Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, kann jedoch allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben hat, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig ist.» (Seite 167)
EuGH zur Reichweite der Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen und zur Eingrenzung des Begriffs „menschliche Embryonen“ / Rs. International Stem Cell Corporation
«Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Licht der von der internationalen medizinischen Wissenschaft als hinreichend erprobt und anerkannt angesehenen Kenntnisse (…) menschliche Parthenoten, wie sie Gegenstand der Anmeldungen des Ausgangsverfahrens sind, die inhärente Fähigkeit haben, sich zu einem Menschen zu entwickeln.
Sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass diese Parthenoten keine solche Fähigkeit haben, müsste es daraus den Schluss ziehen, dass sie keine „menschlichen Embryonen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 sind.» (Seite 172)
EuGH bestätigt bei einer Überwachungskamera zum Schutz eines Privathauses bei Miterfassung der öffentlichen Straße behördliche Meldepflichten (hier: gegenüber dem tschechischen Amt für den Schutz personenbezogener Daten) / Rs. Ryneš
«Soweit sich eine Videoüberwachung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende auch nur teilweise auf den öffentlichen Raum erstreckt und dadurch auf einen Bereich außerhalb der privaten Sphäre desjenigen gerichtet ist, der die Daten auf diese Weise verarbeitet, kann sie nicht als eine ausschließlich „persönliche oder familiäre“ Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 95/46 angesehen werden.» (Seite 175)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, wertet Anwaltswerbung bei Eishockeyspielen im Zusammenhang mit Spielerstrafen als reisserisch und bestätigt Verwarnung durch Anwaltsaufsichtsbehörde
«Es kann dahingestellt bleiben, ob der Anwaltsaufsichtsbehörde ein Beurteilungsspielraum zukommt. Die Anwaltswerbung an einem Sportanlass in der vorliegenden Form (mehrmalige Ausstrahlung eines unübersehbaren Werbespots während eines Eishockeymatches, Ankündigung durch den Stadionsprecher, Verbindung der Anwaltskanzlei mit Spielerstrafen) muss von vornherein als reisserisch gelten und kann daher nicht zulässig sein. Es kommt nicht nur auf den Inhalt der Werbebotschaft an, sondern auch auf die Art und Weise (Anlass, Umgebung, Zusammensetzung des Publikums) sowie das Medium der Verbreitung.» (Seite 178)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, spricht sich bei angestellten Lehrerinnen an öffentlichen Schulen gegen ein generelles Verbot des islamischen Kopftuchs aus und erklärt § 57 Abs. 4 Satz 3 des SchulgesetzesNRW wegen Diskriminierung aus religiösen Gründen für nichtig
Die Leitsätze des Ersten Senats lauten: «1. Der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs der Fall sein kann.
2. Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss.
3. Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbildnicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden.
4. Werden äußere religiöse Bekundungen durch Pädagoginnen und Pädagogen in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule zum Zweck der Wahrung des Schulfriedens und der staatlichen Neutralität gesetzlich untersagt, so muss dies für alle Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen grundsätzlich unterschiedslos geschehen.» (Seite 181)
Richter Schluckebier und Richterin Hermanns erklären in ihrer abweichenden Meinung: «Die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung des § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW dahin, dass nur eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität ein Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagogen zu rechtfertigen vermag, wenn es um die Befolgung eines imperativ verstandenen religiösen Gebots geht, misst den zu dem individuellen Grundrecht der Pädagogen gegenläufigen Rechtsgütern von Verfassungsrang bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu geringes Gewicht bei. Sie vernachlässigt die Bedeutung des staatlichen Erziehungsauftrags, der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, sowie den Schutz des elterlichen Erziehungsrechts und der negativen Glaubensfreiheit der Schüler. Damit beschneidet der Senat zugleich in nicht akzeptabler Weise den Spielraum des Landesschulgesetzgebers bei der Ausgestaltung des multipolaren Grundrechtsverhältnisses, das gerade die bekenntnisoffene öffentliche Schule besonders kennzeichnet. Der Senat entfernt sich so auch von den Maßgaben und Hinweisen der sogenannten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282 = EuGRZ 2003, 621), die dem Landesschulgesetzgeber gerade für den Bereich der öffentlichen Schule die Aufgabe zuschreibt, gesetzlich zu regeln, inwieweit er religiöse Bezüge in der Schule zulässt oder wegen eines strikteren Neutralitätsverständnisses aus der Schule heraushält.» (Seite 199)
BVerfG erklärtgleichheitswidrige Erbschaftsteuer für verfassungswidrig und setzt Frist für Neuregelung bis zum 30. Juni 2016
In den Leitsätzen des Ersten Senats heißt es: «Die Verschonung von Erbschaftsteuer beim Übergang betrieblichen Vermögens in §§ 13a und 13b ErbStG ist angesichts ihres Ausmaßes und der eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.
Es liegt allerdings im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, kleine und mittelständische Unternehmen, die in personaler Verantwortung geführt werden, zur Sicherung ihres Bestands und damit auch zur Erhaltung der Arbeitsplätze von der Erbschaftsteuer weitgehend oder vollständig freizustellen. Für jedes Maß der Steuerverschonung benötigt der Gesetzgeber allerdings tragfähige Rechtfertigungsgründe.
Die Privilegierung des unentgeltlichen Erwerbs betrieblichen Vermögens ist jedoch unverhältnismäßig, soweit die Verschonung über den Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen hinausgreift, ohne eine Bedürfnisprüfung vorzusehen.
Die Lohnsummenregelung ist im Grundsatz verfassungsgemäß; die Freistellung von der Mindestlohnsumme privilegiert aber den Erwerb von Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten unverhältnismäßig.
Die Regelung über das Verwaltungsvermögen ist nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, weil sie den Erwerb von begünstigtem Vermögen selbst dann uneingeschränkt verschont, wenn es bis zu 50 % aus Verwaltungsvermögen besteht, ohne dass hierfür ein tragfähiger Rechtfertigungsgrund vorliegt.
Ein Steuergesetz ist verfassungswidrig, wenn es Gestaltungen zulässt, mit denen Steuerentlastungen erzielt werden können, die es nicht bezweckt und die gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind.» (Seite 204)
Richter Gaier und Masing sowie Richterin Baer erklären in ihrer abweichenden Meinung: «Wir stimmen der Entscheidung zu, sind aber der Ansicht, dass zu ihrer Begründung ein weiteres Element gehört: Das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Die Beurteilung der mit den angegriffenen Vorschriften bewirkten Ungleichbehandlungen im Lichte des Sozialstaatsprinzips sichert die Entscheidung weiter ab und macht ihre Gerechtigkeitsdimension erst voll sichtbar.» (Seite 238)
BVerfG zu gebotener Richtervorlage und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter
«Ein Fachgericht, das entgegen Art. 100 Abs. 1 GG die Vorlage zur Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht unterlässt, weil es in nicht vertretbarer Weise die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des betreffenden Gesetzes annimmt, verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).» (Seite 239)
BVerfG zur staatlichen Anerkennung der Mitgliedschaft in einer religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechts (hier: der jüdischen Kultusgemeinde in Frankfurt am Main) und dem Gebot staatlicher Neutralität. (Seite 250)
BVerfG billigt Verurteilung trotz rechtsstaatswidriger Tatprovokation und eine Kompensation im Rahmen der Strafzumessung im Einklang mit der bis dahin erfolgten Rechtsprechung des EGMR. Die 2. Kammer des Zweiten Senats weist jedoch daraufhin, dass nach der neueren Rspr. des EGMR künftig ein Verwertungsverbot zu erwägen sei. (Seite 259)
Parlamentarische Versammlung des Europarates, Straßburg, entzieht den russischen Abgeordneten das Stimmrecht und verhängt weitere parlamentarische Sanktionen gegen die russische Delegation wegen Annexion der Krim und der militärischen Destabilisierung im Osten der Ukraine. (Seite 265)
BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2015 u.a. zur Entscheidung anstehenden Verfahren (1. Teil) (Seite 266)