EuGRZ 1999 |
5. März 1999
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26. Jg. Heft 1-4
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Informatorische Zusammenfassung
Rainer Hofmann, Kiel, kommentiert rechtsvergleichend innerstaatliche sowie gemeinschaftsrechtliche Konsequenzen aus dem Urteil des Obersten Gerichtshofs Dänemarks zum Vertrag von Maastricht über die Europäische Union
«Schließlich – und zugleich – liegt in der Einräumung des – hier so bezeichneten – prozeduralen Vorrangs des EuGH bei der Prüfung, ob sich ein Rechtsakt der Gemeinschaft innerhalb des dieser eingeräumten Kompetenzrahmens hält, ein gewichtiges Angebot zur „Kooperation“: In Abwandlung der „Solange“-Terminologie des Bundesverfassungsgerichts läßt sich die entsprechende Aussage des dänischen Obersten Gerichtshofs wohl auch so verstehen, daß, solange der EuGH – wovon nach der hier wiedergegebenen Passage des Urteils aus der Sicht der dänischen obersten Richter grundsätzlich ausgegangen werden kann – seiner Aufgabe „ordnungsgemäß“ nachkommt, die Einhaltung des genannten Kompetenzrahmens der Gemeinschaft zu prüfen, die dänischen Gerichte ihre Letztentscheidungskompetenz nur zurückhaltend ausüben werden. Hierin liegt in der Tat ein bemerkenswertes Angebot – aber zugleich auch eine ernste Warnung!
Möglicherweise ist dies auch der Sinn der im grundsätzlichen Teil der Entscheidung, d. h. in Randnummer 9.2., zu findenden Aussage, daß einer internationalen Organisation, also auch der Gemeinschaft, nicht die Befugnis übertragen werden dürfe, Rechtsakte zu erlassen oder Entscheidungen zu treffen, die Bestimmungen des dänischen Grundgesetzes, „darunter die über die Freiheitsrechte“, verletzen. (…) Im Hinblick auf jüngere Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten, der – nicht zu Unrecht – zunehmend vorgeworfen wird, sie bleibe – jedenfalls bisweilen – deutlich hinter dem materiellen Gehalt der Grundrechte zurück, wie er ihnen auf nationaler Ebene oder durch die Rechtsprechung zur EMRK zugewiesen wird, wäre dies sicherlich begrüßenswert. Eine entsprechende Haltung des dänischen Obersten Gerichtshofs wäre allerdings erheblich glaubwürdiger, wenn er selbst begönne, die Grundrechtsverbürgungen der dänischen Verfassung als echten Maßstab der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und anderen Hoheitsakten heranzuziehen.» (Seite 1)
Siehe auch die Übersetzung des Urteils des dänischen Obersten Gerichtshofs von Hofmann in diesem Heft, S. 49.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Verurteilung zweier Journalisten des „Canard enchaîné“ wegen Faksimile-Abdruck von Steuererklärungen des Peugeot-Generaldirektors Jacques Calvet als Verletzung der Pressefreiheit
Unter der Überschrift „Calvets Gehalt mit Turbolader“ veröffentlichte die satirische Mittwochszeitung „Le Canard enchaîné“ am 27. September 1989 im Zusammenhang mit einem heftigen Tarifkonflikt einen Artikel über die Gehaltssteigerungen des Peugeot-Generaldirektors (45 % mehr in zwei Jahren). Dagegen stellte das Blatt die 6,7 % Steigerung des Durchschnittlohns der 158.000 Beschäftigten des Unternehmens im selben Zweijahreszeitraum. Unter Hinweis auf das konsequente öffentliche Schweigen des Betroffenen in diesem Punkt und zum Beweis der Richtigkeit seiner Information druckte der „Canard“ die Steuererklärungen 1986 bis 1988 des Generaldirektors im Faksimile ab. Die Photokopien waren dem Redakteur Roire anonym zugeschickt worden, der sich davon überzeugte, daß sie aus der Finanzbehörde stammen und der ihren Inhalt mit öffentlich zugänglichen Wirtschaftspublikationen verglich.
Die Bf., Roger Fressoz, Direktor des «Canard», und Claude Roire, Autor des Artikels, wurden zu Geldstrafen verurteilt.
Der EGMR verurteilt Frankreich wegen Verletzung von Art. 10 EMRK und führt aus: «Der Gerichtshof findet die These der Regierung, derzufolge die umstrittene Information keine Frage allgemeinen Interesses betrifft, nicht überzeugend. (…) Der Artikel belegt, daß der Leiter des Unternehmens bedeutende Gehaltserhöhungen zu einer Zeit erhalten hat, da er sich den Lohnforderungen der Arbeitnehmer widersetzte. Indem er diesen Vergleich in dem genannten Kontext herausarbeitet, leistet der Artikel einen Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse.» (Seite 5)
Zum öffentlichen Zugang zu privaten Steuerdaten im Kanton Zürich s.a. die Entscheidung des BGer in diesem Heft, S. 53.
EGMR sieht Beamtenbeleidigung außerhalb des Schutzbereichs der freien Meinungsäußerung und billigt strafrechtliche Verurteilung / Janowski gegen Polen
Der Bf., von Beruf Journalist, hatte zwei Gemeindepolizisten verbal daran hindern wollen, Straßenhändler zu veranlassen, ihre Waren nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf einem benachbarten Marktplatz anzubieten. (Seite 8)
EGMR unterstreicht Reichweite der Verteidigungsrechte einer wiederholt nicht zur Hauptverhandlung erscheinenden Angeklagten / Van Geyseghem gegen Belgien
Die Bf., eine Kindergärtnerin, war wegen Drogendelikten in Abwesenheit zu drei Jahren Gefängnis und 60.000 FB Geldstrafe verurteilt worden. Der EGMR stellt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK fest: «Selbst wenn Frau Van Geyseghem mehrere Verteidigungsmöglichkeiten gehabt hat, so war es dennoch für das Appellationsgericht Brüssel geboten, ihrem Anwalt, der ja zur mündlichen Verhandlung erschienen war, die Möglichkeit einzuräumen, sie trotz ihres Nichterscheinens zu verteidigen. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als es sich bei dem (…) vorbereiteten Verteidigungsmittel um ein Rechtsargument handelte. Er [der Anwalt] beabsichtigte, auf Verjährung zu plädieren. (…) Zudem geht aus dem Urteil vom 4. Oktober 1993 [Appellationsgericht Brüssel] nicht hervor, daß diese Frage entschieden worden ist.» (Seite 9)
EGMR überprüft Beweiswürdigung innerstaatlicher Gerichte nur bei Vorliegen einer Konventionsverletzung / García Ruiz gegen Spanien
Der Bf., Anwalt von Beruf und als Krankenpfleger tätig, hatte ohne ausreichende Beweismittel durch alle Instanzen erfolglos auf Zahlung eines Honorars für außergerichtliche anwaltliche Tätigkeit im Zusammenhang mit einem Immobilienerwerb geklagt. Der EGMR hält fest: «Wenn auch die Konvention in ihrem Art. 6 das Recht auf einen fairen Prozeß gewährleistet, so regelt sie jedoch nicht die Zulässigkeit oder Würdigung von Beweisen. Dafür kommt es in erster Linie auf das innerstaatliche Recht und auf die Zuständigkeit der nationalen Gerichte an.» (Seite 10)
EGMR akzeptiert gütliche Einigung nach Erklärung der griechischen Regierung, Zeugen Jehovas würden gegenwärtig und auch künftig nicht aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen überwacht / Tsavachidis gegen Griechenland
Die kurz vor der, auf den 12. November 1998 terminierten, mündlichen Verhandlung auf Initiative der Regierung zustandegekommene gütliche Einigung sieht neben der erwähnten Erklärung auch die Erstattung von Verfahrenskosten in Höhe von 1,5 Mio. Drachmen (ca. 8.700,- DM) vor. (Seite 11)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, verneint Anspruch der Tageszeitung „Der Standard“ auf Zugang zum Hauszustellungssystem von „Neuer Kronen Zeitung“ und „Kurier“
Im Bronner-Urteil wird festgestellt: «Es stellt keine mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung im Sinne von Artikel 86 EG-Vertrag dar, wenn ein Presseunternehmen, das einen überwiegenden Anteil am Tageszeitungsmarkt in einem Mitgliedstaat hat und das einzige in diesem Mitgliedstaat bestehende landesweite System der Hauszustellung von Zeitungen betreibt, sich weigert, dem Verleger einer Konkurrenztageszeitung, der wegen der geringen Auflagenhöhe dieser Zeitung nicht in der Lage ist, unter wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Verlegern ein eigenes Hauszustellungssystem aufzubauen und zu betreiben, gegen angemessenes Entgelt Zugang zum genannten System zu gewähren.» (Seite 22)
Generalanwalt Francis G. Jacobs geht in seinen Schlußanträgen in der Rs. Bronner nicht nur auf die wettbewerbsrechtlichen Fragen ein, sondern auch auf die grundlegenden Prinzipien von Eigentums- und Verbraucherschutz
«Zunächst entspricht das Recht, den Handelspartner auszuwählen und über das Eigentum frei zu verfügen, offenbar allgemein anerkannten Grundsätzen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in manchen Fällen mit verfassungsrechtlichem Status. Eingriffe in diese Rechte sind sorgfältig zu begründen. (…) Zweitens bedarf es zur wettbewerbspolitischen Rechtfertigung eines Eingriffs in die Kontrahierungsfreiheit eines marktbeherrschenden Unternehmens oft eines bedachtsamen Abwägens widerstreitender Argumente. (…) Drittens darf bei der Beurteilung dieser Frage nicht übersehen werden, daß es der Hauptzweck von Artikel 86 ist, Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern – und insbesondere die Interessen der Verbraucher zu wahren –, und nicht, die Situation einzelner Wettbewerber zu schützen.» (Seite 12)
EuGH reduziert wegen überlanger Verfahrensdauer vor dem Gericht erster Instanz (5 Jahre, 6 Monate) Geldbuße wegen Wettbewerbsabsprachen von 3 Mio. ECU um 50.000 ECU
Ausgangspunkt der Rs. Baustahlgewebe GmbH gegen Kommission war ein Verfahren wegen verbotener Wettbewerbsabsprachen auf dem französischen, deutschen und dem Benelux-Markt. Gegen vierzehn Hersteller von Betonstahlmatten hatte die Kommission am 2. August 1989 zum Teil erhebliche Geldbußen verhängt. Die dagegen erhobenen Klagen vor dem Gericht erster Instanz waren nur teilweise erfolgreich. Die Rüge der überlangen Verfahrensdauer führte in der Rechtsmittelinstanz vor dem EuGH zu einer Reduzierung der Geldbuße, da außergewöhnliche Umstände, die die lange Verfahrensdauer rechtfertigen könnten, nach Ansicht des EuGH nicht vorlagen. (Seite 38)
Generalanwalt Philippe Léger setzt sich in der Rs. Baustahlgewebe mit der Bedeutung der EMRK für die EU auseinander
«Mit Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union ist die Bindung der Europäischen Union an die Konvention bekräftigt worden, so daß heute gesichert ist, daß es auch Aufgabe des Gerichtshofes ist, die Wahrung der in der Konvention anerkannten Rechte zu sichern.» (Seite 26)
Oberster Gerichtshof (Højesteret), Kopenhagen, erklärt Zustimmungsgesetz Dänemarks zum Vertrag von Maastricht über die EU für verfassungsgemäß, beansprucht allerdings unter bestimmten Voraussetzungen ein Letztentscheidungsrecht innerstaatlicher Gerichte zu Fragen der Souveränitätsübertragung
«Durch das Beitrittsgesetz wurde gebilligt, daß die Befugnis, die Rechtmäßigkeit und Gültigkeit von Rechtsakten der Gemeinschaft zu überprüfen, dem Gerichtshof [der Europäischen Gemeinschaften] zukommt. Dies bedeutet, daß dänische Gerichte einen Rechtsakt der Gemeinschaft nicht für in Dänemark unanwendbar erklären können, sofern nicht die Rechtsfrage betreffend seine Vereinbarkeit mit dem Vertrag vom Gerichtshof überprüft wurde, und daß dänische Gerichte im allgemeinen davon ausgehen können, daß entsprechende Entscheidungen des Gerichtshofs innerhalb der Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten liegen. Das Højesteret ist jedoch der Auffassung, daß aus dem Bestimmtheitsgebot des &Par; 20 Abs. 1 des Grundgesetzes, verbunden mit der Befugnis dänischer Gerichte, die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz zu überprüfen, folgt, daß den Gerichten nicht die Zuständigkeit genommen werden kann, Rechtsfragen zu behandeln, ob ein Rechtsakt der Gemeinschaft die Grenzen der durch das Beitrittsgesetz vorgenommenen Souveränitätsübertragung überschreitet. Die dänischen Gerichte können daher einen Rechtsakt der Gemeinschaft für in Dänemark unanwendbar erklären, falls die außergewöhnliche Situation entstehen sollte, daß mit der notwendigen Sicherheit festgestellt werden kann, daß ein Rechtsakt der Gemeinschaft, der vom Gerichtshof bestätigt wurde, auf einer Anwendung des Vertrages gegründet ist, die außerhalb der vom Beitrittsgesetz bewirkten Souveränitätsübertragung liegt. Entsprechendes gilt für gemeinschaftsrechtliche Regeln und Rechtsprinzipien, die auf der Praxis des Gerichtshofs beruhen.
Auf dieser Grundlage ist das Højesteret der Auffassung, daß weder die dem Rat gemäß Art. 235 EGV für unvorgesehene Fälle eingeräumte Befugnis noch die rechtschöpfende Tätigkeit des Gerichtshofs als mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar angesehen werden können.» (Seite 49)
Für eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten des dänischen Maastricht-Urteils vgl. den Aufsatz von Rainer Hofmann in diesem Heft, S. 1 ff.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erkennt im öffentlichen Zugang zu Steuerdaten keine Verletzung des Schutzbereichs der persönlichen Freiheit
«Es ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht geltend gemacht, inwiefern durch die öffentliche Bekanntgabe von Informationen über das steuerbare Einkommen und Vermögen eine besondere Gefahr einer Persönlichkeitsverletzung geschaffen werden soll. Daß diese Daten auch von Medien publik gemacht werden können, stellt an sich jedenfalls noch keine solche Gefahr dar. Wenn bestimmte Medien solche Daten falsch, unvollständig oder in verzerrender Weise darstellen und dadurch Persönlichkeitsrechte bedroht oder verletzt sind, können sich die Betroffenen gegen das Medienunternehmen wenden.» (Seite 53)
Zu der vergleichbaren, wenn auch stärker einschränkenden, Regelung in Frankreich vgl. das „Canard enchaîné“-Urteil des EGMR, insbesondere Ziff. 53, in diesem Heft, S. 7.
BGer präzisiert seine Rechtsprechung zu ergebnisbezogenen Frauenquoten und erklärt die Urner „Wahlchancen-Initiative“ teilweise für verfassungsgemäß
«Im Sinne eines Zwischenergebnisses ist festzuhalten, dass die Quote für Wahlen durch (vom Volk gewählte) Behörden sowie die Wahlvorschlagsquote für die Landratswahlen in den Proporzgemeinden unter dem Blickwinkel von Art. 4 Abs. 2 BV nicht zu beanstanden sind. Nach Auffassung der kantonalen Behörden stehen diese Quoten auch in Widerspruch zu Art. 25 UNO-Pakt II. Diese Bestimmung und das sie konkretisierende UNO-Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 schliessen positive Gleichstellungsmassnahmen und insbesondere auch Quotensysteme nicht aus. Diese müssen allerdings angemessen und vorübergehend sein. (…)
Konnte somit auf eine Befristung verzichtet werden, ergibt sich doch aus den genannten internationalen Übereinkommen wie auch aus Art. 4 Abs. 2 BV und dem Verhältnismässigkeitsprinzip, dass die Quotenregelung aufgehoben werden muss, wenn die tatsächliche Chancengleichheit der Frauen im politischen Leben des Kantons Uri verwirklicht und eine angemessene Repräsentation der Frauen in Behörden, Kommissionen, Landrat und Regierung auch ohne Quotenvorgaben gewährleistet erscheint.» (Seite 56)
Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch innerstaatliche Verordnung ohne gesetzliche Grundlage für unzulässig
Es handelt sich um einen „Leitfaden für die Anwendung“ des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über Beschäftigung und Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in der EU. (Seite 65)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt steuerliche Benachteiligung von Ehe und Familie für verfassungswidrig und setzt Reformfristen für Kinderbetreuungskosten (1.1.2000) und für Haushaltsfreibetrag (1.1.2002)
«Art. 6 Abs. 1 GG enthält einen besonderen Gleichheitssatz. Er verbietet, Ehe und Familiegegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen. Dieses Benachteiligungsverbot steht jeder belastenden Differenzierung entgegen, die an die Existenz einer Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) anknüpft.
Die Leistungsfähigkeit von Eltern wird, über den existentiellen Sachbedarf und den erwerbsbedingten Betreuungsbedarf des Kindes hinaus, generell durch den Betreuungsbedarf gemindert. Der Betreuungsbedarf muß als notwendiger Bestandteil des familiären Existenzminimums (vgl. BVerfGE 82, 60 [85] = EuGRZ 1990, 218 [225]; 87, 153 [169 ff.] = EuGRZ 1993, 20 [24 f.]) einkommensteuerlich unbelastet bleiben, ohne daß danach unterschieden werden dürfte, in welcher Weise dieser Bedarf gedeckt wird.
Der Gesetzgeber muß bei der gebotenen Neugestaltung des Kinderleistungsausgleichs auch den Erziehungsbedarf des Kindes unabhängig vom Familienstand bei allen Eltern, die einen Kinderfreibetrag oder ein Kindergeld erhalten, berücksichtigen.
Soweit das Familienexistenzminimum sich nach personenbezogenen Daten wie Familienstand, Anzahl der Kinder und Alter bestimmt, muß – nach dem rechtsstaatlichen Gebot der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit – dieser Tatbestand so gefaßt werden, daß die bloße Angabe dieser Daten die Anwendung des Gesetzes möglich macht.»
Für den Fall der nicht rechtzeitigen Gesetzesreform schreibt das BVerfG bestimmte Summen für das dann geltende Verfassungsrichter-Recht vor. (Seite 73)
BVerfG erklärt Benachteiligung einer steuerzahlenden Familie gegenüber einer Sozialhilfe-Empfänger-Familie für verfassungswidrig
«Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen: Dabei bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf. Das einkommensteuerliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen – unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz – in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen. Der Wohnbedarf ist nicht nach der Pro-Kopf-Methode, sondern nach dem Mehrbedarf zu ermitteln.»
Das Ausgangsverfahren vor dem vorlegenden III. Senat des Finanzhofs betrifft die Entlastung durch Kinderfreibeträge und Kindergeld für ein Kind im Jahr 1987. (Seite 81)
BVerfG nimmt zum einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimum für zwei Kinder Stellung
Konkret geht es um Kinderfreibeträge für die Jahre 1987 und 1988. (Seite 88)
BVerfG entscheidet zum einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimum für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1985
«Der Bundesfinanzhof wird zu prüfen haben, ob er die Einkommensteuer der Beschwerdeführer auch ohne gesetzliche Änderung des &Par; 54 Abs. 1 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1991 entsprechend dem Grundgedanken der &Par;&Par; 163, 227 AO in der Höhe erlassen kann, die sich ergäbe, wenn das von Verfassungs wegen zu berücksichtigende Kindesexistenzminimum in Form eines Kinderfreibetrages um 242 DM erhöht wäre.» (Seite 90)
Haftung Minderjähriger nach &Par; 828 Abs. 2 BGB als vorkonstitutionelles Recht der Prüfung durch BVerfG entzogen
Die Vorlage des LG Dessau ist außerdem wegen unterlassener Prüfung möglicher Entscheidungsalternativen unzulässig. Hierzu führt die 1. Kammer des Ersten Senats aus: «Jedenfalls hätte das Landgericht näher prüfen müssen, ob der Beklagte nach Abschluß des zivilgerichtlichen Verfahrens von dem Träger der Krankenversicherung einen Forderungserlaß erreichen kann. (…) Ebenso hätte das Landgericht sich argumentativ mit der Frage beschäftigen müssen, inwieweit durch den Erlaß der neuen Insolvenzordnung die Gefahr der lebenslangen Überschuldung ausgeschaltet oder eingeschränkt worden ist.»
Ferner wird die Anwendung von &Par; 242 BGB als durchaus möglich angesehen: «Demnach stehen aus verfassungsrechtlicher Sicht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des &Par; 828 Abs. 2 BGB einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen zwingend entgegen. Ob eine solche Einschränkung nach &Par; 242 BGB im konkreten Fall geboten ist, haben die für den Zivilrechtsstreit zuständigen Gerichte zu entscheiden.» (Seite 91)
BVerfG sieht in völligem Ausschluß der Verlustverrechnung bei laufenden Einkünften aus Vermietung beweglicher Gegenstände (hier: Segeljacht) nach &Par; 22 Abs. 3 Satz 3 EStG Verstoß gegen Gleichbehandlungsgebot
«Für den Sachbereich des Steuerrechts gilt die Gestaltungsgleichheit. Der Gesetzgeber hat bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Gestaltungsraum. Nach Regelung dieses Ausgangstatbestandes aber hat er die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen.» (Seite 94)
BVerfG erachtet Erstattungspflicht des Arbeitgebers für gesamte Kosten der Arbeitslosigkeit eines früheren Arbeitnehmers (Arbeitslosenhilfe und Sozialversicherungsbeiträge) zusätzlich zur arbeitsrechtlichen Entschädigung für Konkurrenzklausel als verfassungswidrig
«Weil es die Bestimmungen des Handelsgesetzbuches ausschließen, die Unterlassungspflicht auf den gesamten Arbeitsmarkt zu erstrecken, bleibt der karenzpflichtige Arbeitnehmer vermittelbar, wenn auch nur im nicht geschützten Bereich des Arbeitsmarktes. Kann er hier nicht vermittelt werden, beruht die Arbeitslosigkeit nicht wesentlich auf dem Wettbewerbsverbot, sondern auf der allgemeinen Arbeitsmarktlage oder den persönlichen Eigenschaften des Arbeitslosen. Unter diesen Umständen läßt sich nicht generell sagen, daß Wettbewerbsabreden die typische Ursache für die Arbeitslosigkeit sind. Hat der Arbeitgeber aber nur abstrakt eine von mehreren möglichen Ursachen für das Fortbestehen der Arbeitslosigkeit gesetzt, ist es nicht angemessen, ihm die vollen Kosten der Arbeitslosigkeit aufzuerlegen.» (Seite 97)
BVerfG bekräftigt verfassungsrechtlichen Anspruch auf zivilrechtliche Durchsetzung der Unterlassung rufschädigender Behauptungen (hier: angebliche Scientology-Mitgliedschaft)
«Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schützt den Einzelnen auch gegenüber der fälschlichen Zuschreibung von Mitgliedschaften in Vereinigungen oder Gruppen, sofern diese Zuschreibung Bedeutung für die Persönlichkeit und deren Bild in der Öffentlichkeit hat.» (Seite 102)
Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats, Straßburg, kritisiert Dänemark ohne Erwähnung des Jersild-Urteils des EGMR
Der Bericht vom 26.1.1999 beanstandet u. a. eine gewisse fremdenfeindliche Tendenz in den Medien und eine bestimmte Zurückhaltung der Strafverfolgungsbehörden, wegen öffentlicher rassistischer Äußerungen (Art. 266b StGB) Anklage zu erheben.
Die Rassismus-Kommission des Europarates setzt sich erstaunlicherweise nicht damit auseinander, inwieweit das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Jersild gegen Dänemark (HRLJ 1994, 361 ff.) für diese Entwicklung mitverantwortlich sein könnte. Der EGMR hatte in der strafrechtlichen Verurteilung eines Fernsehjournalisten gem. Art. 266b StGB wegen der unkritisch-kommentarlosen Verbreitung eines Zusammenschnitts von hochgradig fremdenfeindlichen Äußerungen verwahrloster Jugendlicher („Grünjacken“) eine Verletzung von Art. 10 EMRK gesehen. (Seite 107)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg, prüft den Antrag des PKK-Führers Öcalan, die türkische Regierung zu einstweiligen Maßnahmen zu veranlassen. (Seite 107)
Bundesverfassungsgericht veröffentlicht Übersicht der Verfahren, die 1999 entschieden werden sollen. (Seite 108)