EuGRZ 2015
2. Februar 2015
42. Jg. Heft 1-4

Informatorische Zusammenfassung

Christoph Grabenwarter und Katharina Struth, Wien, kommentieren das Burka-Urteil des EGMR (GK): «Das französische Verbot der Vollverschleierung – Absolutes Verbot der Gesichtsverhüllung zur Wahrung der „Minimalanforderungen des Lebens in einer Gesellschaft‟?»
Die Autoren benennen Begründungsschwächen des Urteils S.A.S. gegen Frankreich vom 1. Juli 2014 und erarbeiten alternative Lösungen:
«Das Urteil des Gerichtshofes hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck, weniger im Ergebnis, über das man trefflich streiten kann, als in der Begründung. Hier erweist sich der Begründungsstil des EGMR als Gefahr und als möglicher Nachteil. Urteile des Gerichtshofes sind in hohem Maße von einem diskursiven Stil geprägt: Das Vorbringen der Beschwerdeführer wird im Rahmen der Prüfung der Verletzung einer Konventionsgarantie ebenso wiederholt wie jenes der jeweiligen Regierung. Dieser Stil leistet grundsätzlich, zumal bei einem internationalen Gericht, einen wichtigen Beitrag zur Rezeption und zur Legitimation der Urteile. Im vorliegenden Fall aber wird der Gerichtshof gerade durch das Vorbringen der Parteien auf einen Weg geführt, der den Blick auf das eigentliche Problem verstellt. Zu sehr betont die Regierung die Rechte anderer zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs und bedient sich damit eines Arguments, das, wie gezeigt, schwach ist und letztlich nicht trägt. Das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (public order, protection de l'ordre / sûreté publique) kann als legitimes Ziel für das Verbot des Ganzkörperschleiers in Anspruch genommen werden; es kann auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten das Ergebnis des Gerichtshofes tragen, wenn man dem Gesetzgeber in einer komplexen Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie der hier vorliegenden, einen Einschätzungsspielraum mit Blick auf mögliche Gefahren bei tatsächlicher Zunahme der Bekleidungsform im öffentlichen Raum zugesteht.
Stattdessen argumentiert der Gerichtshof auf schwacher Grundlage – gezwungener Maßen – außergewöhnlich defensiv. Dies führt zu Urteilspassagen politischer Natur, die eher rechtfertigend oder selbstvergewissernd wirken, als dass sie einen konkreten Beitrag zur juristischen Stringenz des Urteils leisten. Die Konturlosigkeit des in Bezug genommenen legitimen Zieles führt zu einer ebenfalls vagen und schwer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung. Wenig überzeugende Ausführungen zum Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten sind die Folge.
Das Urteil fügt sich in eine Reihe von Urteilen der letzten Jahre, in denen der Gerichtshof, vor allem in Fragen der Religionsfreiheit, die Kontrolldichte stärker als bisher zurückgenommen hat. Eine Prognose, in welchen Fällen der Gerichtshof diese Linie weiter verfolgen wird, erscheint schwierig. Zu diffus sind gegenwärtig die möglichen Einflussfaktoren, sie reichen von geänderten Einstellungen zum Verhältnis zwischen Staat und Religion bis zu den kontroversen und über weite Strecken sehr EMRK-kritischen politischen Diskussionen insbesondere in Großbritannien. Auch und gerade nach dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 15 mit der Bezugnahme auf den Beurteilungsspielraum und die Subsidiarität muss der Gerichtshof sehr genau darauf achten, dass ein allenfalls in manchen Fragen gerade in eine bestimmte Richtung schwingendes Pendel nicht zu weit ausschlägt. Der Weg zurück in das Lot wäre dann möglicherweise zu lange, um das immer noch glaubwürdige Rechtsschutzinstrumentarium in seiner heutigen Bedeutung zu wahren.» (Seite 1)

Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, setzt sich mit dem Völkerrechtsverständnis der Corte Costituzionale zur Staatenimmunität auseinander: «Das italienische Verfassungsgericht und das Völkerrecht – eine unerfreuliche Beziehung»
Es geht um das Urteil Nr. 238 vom 22. Oktober 2014: «Die Entscheidung des Gerichts betraf eine Angelegenheit, die eigentlich geklärt schien, denn es ging um einen Streit, in dem der Internationale Gerichtshof (IGH) im Jahr 2012 das letzte Wort gesprochen hatte. In der Sache ging es um schwere Rechtsverletzungen, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg an italienischen Staatsangehörigen begangen hatte und für die Betroffene, bzw. deren Erben vor italienischen Gerichten Entschädigung einklagen wollten. Derartige Klagen hatten italienische Gerichte zugelassen, ungeachtet des Einwands Deutschlands, dass dies nicht mit den völkerrechtlichen Regeln der staatlichen Immunität vor ausländischer Gerichtsbarkeit übereinstimmt. 2008 hatte Deutschland schließlich dem IGH die Frage zur Klärung vorgelegt, ob die Immunität vor Gerichten anderer Staaten uneingeschränkt gilt oder ob sie im Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen verdrängt wird. In seinem Urteil vom 3. Februar 2012 kam der IGH mit 12 zu 3 Stimmen zu dem Ergebnis, dass sich ein Staat selbst dann auf seine Staatenimmunität berufen kann, wenn, wie im konkreten Fall, Kriegsverbrechen Gegenstand der Verfahren vor nationalen Gerichten sind. Da Art. 94 UN-Charta bestimmt, dass sich jedes Mitglied der Vereinten Nationen verpflichtet, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in einer Streitigkeit, in der es Partei ist, zu befolgen, hatte Italien zunächst in geradezu vorbildlicher Weise das Urteil durch Erlass eines Gesetzes umgesetzt und hatte zudem auch gleichzeitig die UN-Immunitätskonvention ratifiziert. Dieses völkerrechtsgemäße Vorgehen hat das Verfassungsgericht nun aber als Verletzung der italienischen Verfassung angesehen und damit den Weg für Klagen vor italienischen Gerichten gegen Deutschland eröffnet, die in den Zweiten Weltkrieg zurückreichen und die Immunität Deutschlands von der Gerichtsbarkeit anderer Staaten negieren. (…)
 Italien hat sein Verhältnis zum Völkerrecht klar geregelt und damit für sich entschieden, wie es nationales Recht und Völkerrecht in Einklang bringt. Die Verfassung bestimmt in Art. 10, dass Völkergewohnheitsrecht ohne Umsetzungsakt automatisch Teil der italienischen Rechtsordnung wird, und dass dieses Recht den Rang von Verfassungsnormen einnimmt. Damit hat Italien sich gebunden; den Inhalt dessen, was Gewohnheitsrecht darstellt, kann es aber nicht selbst definieren. Was die Regel der Staatenimmunität beinhaltet, richtet sich nach Völkerrecht, und gemäß Art. 10 der Verfassung passt sich die italienische Rechtsordnung dieser völkerrechtlich definierten Regel an. Indem das Verfassungsgericht diese Regel missachtet, verletzt es nicht nur Völkerrecht, sondern auch die italienische Verfassung.» (Seite 8)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, GK), Straßburg, billigt das gesetzliche Verbot des Tragens eines Ganzkörperschleiers (Burka/Niqab) in der Öffentlichkeit als mit der EMRK vereinbar / S.A.S. gegen Frankreich
Das Verbot verletzt weder Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch Art. 9 (Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit) noch Art. 14 (Diskriminierungsverbot).
Die Beschwerdeführerin, eine 1990 in Pakistan geborene französische Staatsangehörige, wird von vier britischen Rechtsanwälten aus Birmingham und London vertreten. Die Einrede der Regierung, es handele sich um eine „zweckwidrige Ausübung des Individualbeschwerderechts‟ bzw. um eine actio popularis, weist der EGMR zurück: «Die Regierung scheint vortragen zu wollen, der Name der Bf. sei lediglich vorgeschoben. Der Gerichtshof nimmt die Ausführungen der Regierung zur Kenntnis. Er unterstreicht jedoch, dass die Kanzlei Name und Adresse der Bf., die sich auf der Beschwerde befinden, geprüft und sich vergewissert hat, dass die Anwälte, die die Beschwerde formuliert haben, tatsächlich von der Bf. unterschriebene Vollmachten vorgelegt haben.»
Zu der Frage, ob das angegriffene Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt, heißt es u.a.: «Der Gerichtshof berücksichtigt die Tatsache, dass der betroffene Staat annimmt, dass das Gesicht eine wichtige Rolle bei der sozialen Interaktion spielt. Er versteht den Standpunkt wonach Personen, die sich an jedermann zugänglichen öffentlichen Orten aufhalten, wünschen, dass sich keine Praktiken oder Gewohnheiten entwickeln, die die Möglichkeit offener zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich in Frage stellen, die nach einem etablierten Konsens, ein unverzichtbares Element des kollektiven Lebens innerhalb einer betroffenen Gesellschaft sind. Der Gerichtshof kann daher akzeptieren, dass die Verschlossenheit, die der Schleier, der das Gesicht verbirgt, anderen gegenüber ausdrückt, vom betroffenen Staat als Angriff auf das Recht anderer angesehen werden kann, sich in einem Raum gesellschaftlicher Begegnung zu bewegen, der das Zusammenleben vereinfacht. Die Flexibilität des Begriffes „Zusammenleben‟ (vivre ensemble / living together) und das Risiko eines exzessiven Gebrauchs, welches daraus erwächst, verlangen, dass der Gerichtshof eine sorgfältige Prüfung der Notwendigkeit der Beschränkung vornehmen muss.»
Der EGMR stellt fest, dass der Gesetzgeber eine gesellschaftsbezogene Entscheidung getroffen hat: «Mit anderen Worten, Frankreich verfügte im vorliegenden Fall über einen weiten Beurteilungsspielraum.
Dies gilt umso mehr, als es zwischen den Mitgliedstaaten des Europarates (…) keinen Konsens zur Frage des Tragens des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum gibt. Der Gerichtshof stellt fest, dass es, entgegen den Ausführungen eines der Drittbeteiligten (…), keinen europäischen Konsens gegen das Verbot gibt. Zugegebenermaßen ist Frankreich aus streng normativer Sicht in einer sehr minoritären Situation: außer Belgien hat sich derzeit kein anderer Mitgliedstaat des Europarates für eine solche Maßnahme entschieden. Es muss jedoch festgestellt werden, dass die Frage des Tragens des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum in mehreren Ländern Gegenstand von Debatten ist oder war. In einigen Staaten wurde entschieden, kein allgemeines Verbot zu erlassen. In anderen Staaten bleibt ein solches Verbot in Aussicht (…). Dem muss hinzugefügt werden, dass sich die Frage des Tragens des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum voraussichtlichganz einfach in solchen Staaten nicht stellt, in denen es diese Praxis nicht gibt. Es lässt sich daher sagen, es gibt in Europa keinen Konsens in diesem Bereich, sei es für oder gegen ein allgemeines Verbot des Tragens des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum.
Folglich kommt der Gerichtshof, in Anbetracht der Weite des Beurteilungsspielraumes, den der betroffene Staat in diesem Fall hatte, zu dem Ergebnis, dass das Verbot im Gesetz vom 11. Oktober 2010 als verhältnismäßig zur Verfolgung des legitimen Zieles der Sicherung der Bedingungen des „Zusammenlebens‟ (vivre ensemble / living together) als Teil des „Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer‟ angesehen werden kann.
Die umstrittene Beschränkung kann deshalb als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig‟ angesehen werden. Dieses Ergebnis gilt sowohl für Art. 8 als auch für Art. 9.» (Seite 16)

Die Richterinnen Nußberger und Jäderblom haben dem Urteil ein teilweise abweichendes Sondervotum beigegeben: «Wir können (…) der Meinung der Mehrheit nicht folgen, weil für uns die individuellen Rechte, die von der Konvention konkret garantiert werden, hier allgemeinen Prinzipien zum Opfer fallen. Wir bezweifeln, dass das absolute Verbot des Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum ein legitimes Ziel verfolgt (B). In jedem Fall ist ein solch allgemeines Verbot, welches das Recht einer jeden Person auf seine eigene kulturelle und religiöse Identität betrifft, aus unserer Sicht in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig (C). Daher kommen wir zu dem Ergebnis einer Verletzung der Art. 8 und 9 (D).» (Seite 27)
Siehe hierzu den Aufsatz von Grabenwarter/Struth, Das französische Verbot der Vollverschleierung – Absolutes Verbot der Gesichtsverhüllung zur Wahrung der „Minimalanforderungen des Lebens in einer Gesellschaft‟?, EuGRZ 2015, 1 ff. (in diesem Heft).

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erklärt das Übereinkommen zum Beitritt der EU zur EMRK für nicht vereinbar mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 EUV und dem Protokoll Nr. 8 / Gutachten 2/13
• Verfahren: Die generalanwaltlichen Schlussanträge werden im Gutachten-Verfahren nicht wie sonst öffentlich vorgetragen, sondern als Stellungnahme dem Gerichtshof übermittelt und erst zusammen mit dem Gutachten veröffentlicht.
• GAin Juliane Kokott gelangt in ihrer Stellungnahme vom 13. Juni 2014 zu einem konziliant formulierten Ergebnis:
«Die Prüfung des Abkommensentwurfs anhand der in Art. 6 Abs. 2 EUV und im Protokoll Nr. 8 enthaltenen rechtlichen Kriterien sowie im Lichte der Erklärung Nr. 2 hat nichts ergeben, was die Vereinbarkeit des geplanten Beitritts der Union zur EMRK mit den Verträgen grundlegend in Frage stellen könnte. Der Abkommensentwurf bedarf lediglich einiger vergleichsweise geringfügiger Modifizierungen bzw. Ergänzungen, die sich ohne größeren Aufwand realisieren lassen dürften.
Vor diesem Hintergrund erschiene es mir nicht als zweckmäßig, den Abkommensentwurf beim derzeitigen Stand seiner Formulierung für mit den Verträgen unvereinbar zu erklären. Vielmehr sollte der Gerichtshof in Anlehnung an sein zweites Gutachten zum Europäischen Wirtschaftsraum aussprechen, dass der Abkommensentwurf mit den Verträgen vereinbar ist, vorausgesetzt, die von mir erwähnten [sechs] Modifizierungen, Ergänzungen und Klarstellungen werden vorgenommen.» (Seite 30)
• Der Gerichtshof (Plenum) äußert sich unmissverständlich ablehnend: «Im Licht aller vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die geplante Übereinkunft in folgenden Punkten nicht mit Art. 6 Abs. 2 EUV und dem EU-Protokoll Nr. 8 vereinbar ist:
– Sie ist geeignet, die besonderen Merkmale und die Autonomie des Unionsrechts zu beeinträchtigen, da sie nicht sicherstellt, dass Art. 53 EMRK und Art. 53 der Charta aufeinander abgestimmt werden, keine Vorkehrungen enthält, um der Gefahr einer Beeinträchtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Unionsrecht zu begegnen, und keine Regelung des Verhältnisses zwischen dem durch das Protokoll Nr. 16 geschaffenen Mechanismus und dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren vorsieht.
– Sie ist geeignet, Art. 344 AEUV zu beeinträchtigen, da sie die Möglichkeit nicht ausschließt, den EGMR mit Rechtsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen ihnen und der Union zu befassen, die die Anwendung der EMRK im materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts betreffen.
– Sie sieht keine Modalitäten des Mitbeschwerdegegner-Mechanismus und des Verfahrens der Vorabbefassung des Gerichtshofs vor, die gewährleisten, dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben.
– Sie verstößt gegen die besonderen Merkmale des Unionsrechts in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle der Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen der Union im Bereich der GASP, da sie die gerichtliche Kontrolle einiger dieser Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen ausschließlich einem unionsexternen Organ anvertraut.» (Seite 56)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), II. Sozialrechtliche Abteilung, Luzern, erkennt keinen Anspruch des Vaters auf Erwerbsersatz bei Geburt eines Kindes
Die Erwerbsersatzentschädigung gilt nach eindeutigem Willen des Gesetzgebers ausschliesslich der Mutter und ermöglicht keinen abgeleiteten Anspruch des Vaters.
Weiter heißt es in dem Urteil: «Weil nach dem Gesagten Art. 16b EOG weder einen Vaterschafts- noch einen Elternurlaub beinhaltet, sondern ausschliesslich den Entschädigungsanspruch der Mutter nach der Geburt regelt, fällt – auch unter EMRK-Gesichtspunkten – eine unzulässige Diskriminierung ausser Betracht. Eine vom Beschwerdeführer postulierte Aufteilung des Urlaubes bzw. des Entschädigungsanspruchs bedürfte in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage, welche – wie in den europäischen Ländern mit Vaterschafts- oder Elternschaftsansprüchen – die Modalitäten regelt und insbesondere allfälligen gesundheitlichen Risiken von Mutter und Kind Rechnung trägt (wie sie etwa bei Früh- oder Mehrlingsgeburten oder bei Behinderungen des Kindes auftreten), die eine das übliche Beschäftigungsverbot übersteigende Schonfrist erfordern. Vor allem aber fällt eine Aufteilung des nach schweizerischem Recht bestehenden Entschädigungsanspruchs von 14 Wochen auf Mutter und Vater bereits deshalb ausser Betracht, weil ein solches Splitting unvereinbar wäre mit Art. 4 des zur Ratifikation vorgesehenen Übereinkommens Nr. 183 der IAO über den Mutterschutz, welcher den Frauen einen Mindestanspruch von 14 Wochen Mutterschaftsurlaub garantiert, der nicht unterschritten werden kann.» (Seite 78)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in dem Wahlaufruf einer Bundesministerin (Manuela Schwesig, SPD) gegen die NPD in einem Zeitungsinterview nichts zu beanstanden
Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «1. Die Maßstäbe, die für Äußerungen des Bundespräsidenten in Bezug auf politische Parteien und die Überprüfung dieser Äußerungen durch das Bundesverfassungsgericht gelten (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 10. Juni 2014 – 2 BvE 4/13 –, juris = EuGRZ 2014, 451), sind auf die Mitglieder der Bundesregierung nicht übertragbar.
2. Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Nimmt das Regierungsmitglied für sein Handeln die Autorität des Amtes oder die damit verbundenen Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch, ist es dem Neutralitätsgebot unterworfen.»
Ausführlicher heißt es in dem Urteil: «Der durch Art. 21 GG den Parteien zuerkannte verfassungsrechtliche Status gewährleistet das Recht, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilzunehmen (1.). Damit unvereinbar ist jede parteiergreifende Einwirkung von Staatsorganen als solchen zugunsten oder zulasten einzelner oder aller am politischen Wettbewerb beteiligten Parteien (2.). Die sich aus diesem Neutralitätsgebot ergebenden Auswirkungen für das Handeln von Staatsorganen und der Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle seiner Beachtung sind für jedes Staatsorgan unter Berücksichtigung seiner Stellung im Verfassungsgefüge gesondert zu bestimmen; daher sind die für Äußerungen des Bundespräsidenten geltenden Maßstäbe auf die Bundesregierung nicht übertragbar (3.). Mitglieder der Bundesregierung haben bei Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktionen die Pflicht zu strikter Neutralität (4.). Das Neutralitätsgebot gilt, soweit die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität seines Amtes oder der damit verbundenen Ressourcen erfolgt (5.). Geltung und Beachtung des Neutralitätsgebots unterliegen bei Äußerungen von Bundesministern uneingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle (6.). (…)
Nach diesen Maßstäben ist die von der Antragstellerin angegriffene Äußerung der Antragsgegnerin verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie war zwar objektiv geeignet, zulasten der Antragstellerin in den Landtagswahlkampf in Thüringen einzuwirken. Sie verletzt das Recht der Antragstellerin auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG aber nicht.» (Seite 83)

BVerfG erklärt Organstreit-Anträge der Bundestagsfraktionen der LINKEN und der GRÜNEN gegen die Bundesregierung und gegen den NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages wegen erfolglos beantragter Snowden-Vernehmung in Deutschland mangels tauglichen Angriffsgegenstandes für unzulässig. (Seite 89)

BVerfG bestätigt Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, dass ein Presseauskunftsanspruch gegen den Bundesnachrichtendienst über die Ausfuhr waffenfähiger (Dual-Use-)Güter nach Syrien im Eilrechtsschutzverfahren nicht durchsetzbar ist, weil dies einer Vorwegnahme eines künftigen Hauptsacheverfahrens gleichkäme. (Seite 95)

BVerfG präzisiert Kriterien der Kindeswohlgefährdung bei einer Sorgerechtsentziehung und kritisiert die fehlende richterliche Distanz gegenüber einer evident inkohärenten psychologischen Begutachtung des aus Afrika stammenden Vaters. (Seite 98)

Auf der Tagesordnung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Straßburg, steht die Neuwahl von 15 neuen EGMR-Richtern
Das entspricht fast einem Drittel der insgesamt 47 Richter am EGMR. Vorschlagsberechtigt sind die Regierungen der folgenden Staaten (in der Reihenfolge der anstehenden Wahltermine): Slowakei, Serbien, Armenien, Bulgarien, Liechtenstein, Monaco, Zypern, Irland, Andorra, Österreich, Aserbaidschan, Lettland, Luxemburg, Slowenien und Finnland. (Seite 104)

EuGH-Generalanwalt Pedro Cruz Villalón hält das Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) für den Erwerb von Staatsanleihen ausgewählter Euro-Staaten in unbegrenzter Höhe (Outright Monetary Transactions (OMT)) grundsätzlich für unionsrechtskonform, unter der Voraussetzung allerdings, dass bei dessen Anwendung bestimmte Bedingungen strikt eingehalten werden / OMT-Vorlage des BVerfG (EuGRZ 2014, 141) / Schlussanträge / Rs. Gauweiler u.a.
«Wie im Folgenden darzulegen sein wird, werfen die vom BVerfG gestellten Fragen Auslegungsprobleme ersten Ranges auf, über die der Gerichtshof zu befinden haben wird.
So verlangt in der vorliegenden Rechtssache als Erstes Aufmerksamkeit, dass das BVerfG seine Vorabentscheidungsfragen im Rahmen dessen stellt, was es als „Ultra-vires-Kontrolle‟ von Akten der Union bezeichnet, die Auswirkungen auf die „Verfassungsidentität‟ der Bundesrepublik Deutschland haben können. Dabei bildet den Ausgangspunkt des BVerfG seine prima facie vorgenommene Beurteilung, dass die in Rede stehende Handlung der EZB nach dem nationalen Verfassungsrecht, und auch nach dem Unionsrecht, rechtswidrig sei.»
Dem Argument, die Vorlage sei unzulässig, weil das BVerfG deutlich gemacht habe, es werde sich über die Vorabentscheidung des EuGH hinwegsetzen, wenn dieser nicht in seinem Sinn entscheidet, widerspricht GA Cruz Villalón mit dem Hinweis auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der beide Gerichte verpflichte: «Die loyale Zusammenarbeit umfasst ein Element des Vertrauens, und dieses Vertrauen kann im vorliegenden Fall in besonderer Weise zum Tragen kommen. Es ist zu berücksichtigen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vom BVerfG in einer Weise formuliert worden ist, nach der der Gerichtshof, innerhalb der Grenzen des Vernünftigen, darauf vertrauen kann, dass es die erhaltene Antwort als eine genügende und abschließende betrachten werde.»
In der Sache unterstreicht der Generalanwalt die Begründungspflicht der EZB. Sie müsse mit Klarheit und Genauigkeit die außergewöhnlichen Umstände darlegen, die diese Maßnahme rechtfertigen. Wenn das OMT-Programm zur Anwendung gelangen sollte, müssten demzufolge sowohl der ihm seine Form gebende Rechtsakt als auch seine Durchführung die genannten Anforderungen an die Begründungspflicht erfüllen. (Seite 105)