EuGRZ 2017
30. Oktober 2017
44. Jg. Heft 17-20

Informatorische Zusammenfassung

Philipp B. Donath, Frankfurt am Main / Leipzig, untersucht „Das Assoziationsabkommen zwischen der EU und der Türkei und die auf ihm beruhenden Individualrechte türkischer Staatsangehöriger“
Einleitend stellt der Autor fest: «Das Assoziationsabkommen, das der gegenseitigen Annäherung besonders im wirtschaftlichen Bereich diente und das auch die Grundlage für die Zollunion zwischen der damaligen EG und der Türkei ab 1996 war, hat eine individualrechtliche Dimension, die türkischen Staatsangehörigen eine sehr weitgehende Rechtsposition einräumt und ihnen Vorteile in den Mitgliedstaaten der heutigen EU gewährt. (…)
Ziel dieses Beitrages ist es, die wichtigsten individualrechtlichen Verbürgungen, die sich für türkische Staatsangehörige aus dem Assoziationsrecht, also aus dem Assoziationsabkommen sowie den auf ihm aufbauenden Beschlüssen und Entscheidungen des EuGH ergeben, so herauszuarbeiten, dass das Rechtsgebiet mit hinreichender Genauigkeit durchdrungen, aber immer noch ein ausreichender strukturierter Überblick gewahrt bleibt.
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Türkei und der Beschränkung vieler Freiheitsrechte für türkische Staatsangehörige nach dem Putschversuch vom Juli 2016 und dem umstrittenen Verfassungsreferendum vom April 2017 erscheint es geboten, sich damit auseinander zu setzen, welche Freizügigkeitsrechte türkischen Staatsangehörigen durch das Assoziationsrecht in der EU eingeräumt werden und was dieses vielfach zu wenig beachtete Rechtsgebiet auszeichnet.»
Zur Geschichte des Abkommens wird festgehalten: «Am 12. September 1963 wurde in Ankara das insgesamt 33 Artikel umfassende Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Republik Türkei unterzeichnet. Dieses, oft auch als Ankara-Abkommen bezeichnete Vertragswerk trat am 1. Dezember 1964 in Kraft. Sein Abschluss markierte den Beginn der Verrechtlichung einer besonderen Beziehung zwischen den Staaten der späteren EU einerseits und der Türkei andererseits, die bis heute anhält. Dem eigentlichen Abkommen wurden ein vorläufiges Protokoll sowie ein Finanzprotokoll beigefügt. In letzterem waren Darlehen an die Türkei in Höhe von 175 Mio. ECU vorgesehen. (…)
Neben den materiell-rechtlichen Bestimmungen sind es besonders die institutionellen Maßgaben, die das Assoziationsabkommen zu einem einzigartigen, sehr dynamischen Instrument machten. So wird durch dieses ein Assoziationsrat eingerichtet, welcher befugt ist, in bestimmten Fällen zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens Beschlüsse zu fassen, Art. 6, Art. 22 Abs. 1 S. 1 AssAbk.
Dieser Assoziationsrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, des Rates und der EU-Kommission einerseits und Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits, die ihre Beschlüsse einstimmig fassen (Art. 23 Abs. 1 und Abs. 3 AssAbk). (…)
In jedem Fall genießt aber nach der Rechtsprechung des EuGH das aus dem Assoziationsabkommen abgeleitete Recht als Teil des EU-Rechts bereits den üblichen Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. (…) Durch das Abkommen und die auf seiner Grundlage gefassten Beschlüsse sind türkische Staatsangehörige gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen erheblich privilegiert worden.»
Abschließend begründet Donath, warum der Versuch, wegen der gegenwärtigen Lage in der Türkei das Abkommen zu suspendieren oder zu kündigen, nicht zielführend wäre. (Seite 497)

Klaus Ferdinand Gärditz, Bonn, setzt sich kritisch mit der „demokratischen Gestaltungsverantwortung durch Recht in einer Einwanderungsgesellschaft“ auseinander
Der Ausgangsbefund lautet: «Deutschland ist ein Einwanderungsland, die deutsche Gesellschaft eine Einwanderungsgesellschaft. Die trotzige Verweigerungshaltung deutscher Politik, die hier lange Zeit – wie meist – eher prinzipiell denn pragmatisch operiert hat, hat über Dekaden die Möglichkeiten verspielt, Einwanderung demokratisch zu gestalten. Auf Prinzipien wurde – wie so oft – lange Zeit auch dann noch beharrt, als es offensichtlich wurde, dass die Stellung im praktischen Vollzug längst geräumt werden musste. Heute wird pragmatischer und realitätsnäher argumentiert. (…)
Der nachfolgende Beitrag versucht zu skizzieren, wie die deutsche Einwanderungsgesellschaft durch demokratische Rechtsetzung gestaltet wird und wo die Leistungsgrenzen rechtlicher Steuerungsansätze liegen.»
Grundsätzlich heißt es: «Migrationsrecht ist kein Verfassungsvollzug. Die Verfassung enthält kein Programm einer „guten“ Einwanderungsgesetzgebung. Einwanderung wird verfassungsrechtlich weder positiv noch negativ konnotiert. Als freiheitlich-pluralistische Verfassung hat auch das Grundgesetz Zugehörigkeit über die Staatsangehörigkeit formalisiert (vgl. Art. 116 Abs. 1 GG), auf ein materiales bzw. substanzialistisches Nationalstaatskonzept indes verzichtet. Das Freiheitskonzept der Grundrechte berechtigt die Anwesenden, enthält sich aber grundsätzlicher Vorgaben, wer anwesend sein soll. Es gibt zwar Grundrechte, die einen migrationspolitischen Einschlag haben, namentlich das Asyl- und das Familiengrundrecht (Art. 16a, 6 Abs. 1 GG). Makro-Entscheidungen, ob, in welchem Umfang und zu wessen Nutzen Migration stattfinden soll, sind aber politisch zu treffen. Wenn die Politik – so eine scharfsichtige Analyse des Regierungshandelns in der „Flüchtlingskrise“ – auf Zuwanderung zielen und dem Imperativ einer „deutschen Sondermoral“ folgen wollte, ist dies eine politisch legitime Entscheidung, die aber – wie jede politische Entscheidung – demokratisch zu verantworten ist. Öffentliche Moral ist immer hochpolitisch.»
Sodann beschäftigt sich der Beitrag mit Problemen des Gebietszugangs, insbesondere mit dem fortbestehenden Eigenwert der Territorialität und faktischen Steuerungsdefiziten. Zu den Einwanderungsfolgen und ihrem Recht gehören die soziale Inklusion und die Etatisierung der Migrationskosten, die Entpolitisierung und Verrechtlichung von Konflikten sowie die Verrechtlichung als Bürokratisierungsvoraussetzung und der Bürgerstatus der Zugewanderten. Der Autor warnt vor Konstitutionalisierung und Staatsaufgabenrhetorik, konturiert die Grenzen des Rechts:
«Mehr flexibler politischer Realismus und weniger Orientierung an abstrakten Leitbildern sowie Prinzipien kann hier weiterhelfen. Schon das politische Scheitern, innerhalb der Europäischen Union Regeln einer solidarischen Lastenverteilung zur Fluchtfolgenbewältigung zwischen den Mitgliedstaaten durchzusetzen, verdeutlicht die Grenzen des praktisch Erreichbaren. Dass das im Rechtsstreit um die Umverteilung von Flüchtenden kürzlich unterlegene Ungarn [s.u. S. 561 ff.] nun lautstark ankündigt, die maßgebliche Entscheidung des EuGH nicht akzeptieren zu wollen, markiert den Tiefpunkt einer rein instrumentellen Berufung auf das Recht, wenn es gerade einmal passt. Hierin liegt gewiss ein eklatanter Bruch mit einem europäisch-rechtsstaatlichen Grundkonsens, auf dessen Achtung gerade die kleineren, politisch weniger mächtigen Mitgliedstaaten besonders angewiesen sind. Die offene Missachtung rechtlicher Institutionen, die sich derzeit allgemein ausbreitet, zeigt aber auch: Allein durch Recht erzwingen lässt sich Solidarität nicht, wenn die Mechanismen politischer Verständigung strukturell gestört sind. (…)
Das demokratische Gebäude des Rechts setzt jedoch ein gefestigtes gesellschaftliches Fundament voraus, das selbstsicher mit Neuem umgeht und dieses selbstbewusst einbindet. Hierin liegen oft die eigentlichen Schwierigkeiten, auf die demokratische Rechtsetzung aber nur sehr begrenzt Antworten geben kann.» (Seite 516)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, verneint den Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung in einem Verfahren um zivilrechtliche Ansprüche (Art. 6 Abs. 1 EMRK) / Fröbrich gegen Deutschland
Konkret ging es im Ausgangsverfahren um die Rückforderung finanzieller Entschädigungsleistungen für rechtsstaatswidrige DDR-Haft wegen verschwiegener Stasi-Mitarbeit. Die strafrechtliche Rehabilitierung blieb davon unberührt.
Der Gerichtshof stellt fest, «dass nach der Rechtsprechung bestimmter innerstaatlicher Gerichte, u.a. des Bundesverwaltungsgerichts, zu § 16 Abs. 2 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (…) das eigene Leiden des Bf. nicht gegen die Gefahr abzuwägen war, der er andere ausgesetzt hatte. Daher waren die Einzelheiten der Freiheitsentziehung des Bf. nicht relevant. Ebenso waren nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte weder die persönlichen Umstände des Bf. zur maßgeblichen Zeit, noch die Frage, ob von dem Bf. denunzierten Personen tatsächlich jemand Nachteile erlitten habe, relevante Aspekte für die Anwendung dieser Vorschrift. Daher wären die innerstaatlichen Gerichte, selbst wenn sie den diesbezüglichen Tatsachenvortrag des Bf. als wahr unterstellt hätten, zu keinen anderen Schlussfolgerungen gelangt».
Der Gerichtshof stellt ferner fest, «dass der Bf. seine Behauptung, er habe geglaubt, der regulären Polizei und nicht der Staatssicherheit Bericht zu erstatten – was das Landgericht in Anbetracht der Beweisunterlagen für unglaubwürdig befand – nicht wiederholte, und zwar weder in seiner Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts, noch in seiner Verfassungsbeschwerde. Auch in seiner Beschwerde an den Gerichtshof stützte er sich nicht auf dieses Argument.
Daher warf der Bf. keine Glaubwürdigkeitsfragen oder strittigen Fragen auf, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend waren. Die innerstaatlichen Gerichte konnten in fairer und angemessener Weise anhand der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und sonstiger schriftlicher Materialien über die Rechtssache entscheiden.» (Seite 526)

EGMR akzeptiert den von der Regierung zugesicherten Ausweisungsverzicht in Bezug auf die nach einem Tötungsdelikt erfolgte Ausweisungsverfügung einer psychisch kranken Pakistanerin für die Streichung des Verfahrens im Register / Khan gegen Deutschland (GK)
In dem Urteil der Großen Kammer des EGMR heißt es: «Der Gerichtshof stellt vorliegend fest, dass die deutsche Regierung die Zusicherung gegeben hat, dass die Bf. nicht auf der Grundlage der Ausweisungsverfügung vom 4. Juni 2009 ausgewiesen würde, derentwegen sie diese Beschwerde erhoben hat. Die Regierung hat ferner zugesichert, dass, wenn gegen die Bf. eine neue Ausweisungsentscheidung ergehen würde, diese erst nach einer umfassenden medizinischen Untersuchung des Gesundheitszustands der Bf. getroffen und dem seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung im Jahr 2009 vergangenen Zeitraum Rechnung getragen würde.
Der Gerichtshof sieht keine Veranlassung, an der Ernsthaftigkeit der von der deutschen Regierung gegebenen Zusagen und deren bindenden Wirkung zu zweifeln (…), zumal diese auch im Namen der Behörden des zuständigen Landes gegeben worden sind. Infolgedessen ist die Ausweisungsverfügung vom 4. Juni 2009 nicht mehr vollziehbar. Die Bf. genießt im Übrigen eine Duldung gemäß § 60a Aufenthaltsgesetz. (…).
Der Gerichtshof stellt ferner fest – und die deutsche Regierung bestätigt es –, dass für den Fall, dass die deutschen Behörden eine neue Ausweisungsentscheidung treffen würden, der Bf. nach innerstaatlichem Recht Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden, um diese Entscheidung vor den deutschen Gerichten anzugreifen. Die Bf. hätte im Übrigen gegebenenfalls die Möglichkeit, eine neue Beschwerde beim Gerichtshof einzulegen (…). Der Gerichtshof gelangt zu dem Schluss, dass die Bf. weder im Augenblick noch in absehbarer Zukunft Gefahr läuft, ausgewiesen zu werden.
Unter diesen Voraussetzungen und angesichts der Subsidiarität des von der Konvention eingeführten Kontrollmechanismus ist der Gerichtshof der Ansicht, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde (Art. 37 Abs. 1 lit. c der Konvention) nicht gerechtfertigt ist.» (Seite 530)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, GK), Luxemburg, bewertet geplantes Abkommen der EU mit Kanada zur Übermittlung und Verarbeitung von Fluggastdaten bei sensiblen Daten für unvereinbar mit Art. 7, 8, 21 und 52 Abs. 1 GRCh und benennt sieben weitere grundrechtlich begründete Nachbesserungsbedingungen / Gutachten 1/15
Beantragt wurde das Gutachten vom Europäischen Parlament. Der englische Terminus für Fluggastdatensätze lautet Passenger Name Records – PNR, deshalb ist im Gutachten auch von PNR-Daten die Rede. Die maßgeblichen Bestimmungen der Grundrechtecharta (GRCh) lauten: Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten), Art. 21 (Diskriminierungsverbot), Art. 52 Abs. 2 (Grenzen und Voraussetzungen etwaiger Grundrechtseinschränkungen). Sensible Daten werden in dem Abkommensentwurf (Art. 2 lit. e) definiert als Informationen, aus denen „die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit“ hervorgehen, sowie Informationen über „Gesundheit oder Sexualleben einer Person“.
Das Abkommen ist insofern mit den vorstehend genannten Artikeln unvereinbar, als es deren Übermittlung aus der EU nach Kanada sowie deren Verwendung und Speicherung nicht ausschließt.
Außerdem werden sieben grundrechtsschützende Kriterien detailliert herausgearbeitet, damit das Abkommen mit Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 GRCh vereinbar wird. Sie beziehen sich auf (1) klare und präzise Definitionen der zu übermittelnden Datensätze; (2) auf die Zuverlässigkeit und Diskriminierungsfreiheit der bei der automatisierten Verarbeitung der Datensätze verwendeten Modelle und Kriterien; (3) auf die materiell- und verfahrensrechtlichen Kautelen bei der Verwendung bzw. Weitergabe der Fluggastdatensätze; (4) die Speicherung der Daten nach der Ausreise der Fluggäste; (5) die Weitergabe der Daten durch die kanadischen Behörden an Behörden eines Drittlandes; (6) ein Recht auf individuelle Information der Fluggäste und (7) die Gewährleistung des Schutzes der betroffenen Fluggäste durch eine unabhängige Kontrollstelle. (Seite 535)

EuGH (GK) erklärt Mehrheitsbeschluss des Rates über die vorläufige Umsiedlung bestimmter Migranten zur Entlastung Italiens und Griechenlands (Beschluss (EU) 2015/1601 vom 22. September 2015) für rechtens und weist die Nichtigkeitsklage der Slowakei und Ungarns als unbegründet ab / Slowakei und Ungarn gegen Rat
Die sechs Klagegründe der Slowakei und die zehn Klagegründe Ungarns, die vom Gerichtshof allesamt für unbegründet erklärt werden, sind drei Gruppen zuzuordnen: Wahl einer nicht geeigneten Rechtsgrundlage, zweitens Verletzung wesentlicher Formvorschriften und drittens materiell-rechtliche Klagegründe. (Seite 561)

EuGH (GK) bekräftigt die strikt einzuhaltende Dreimonatsfrist in Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO, nach deren Ablauf die Prüfungszuständigkeit für einen Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz vom Staat der ursprünglichen Einreise (hier: Italien) auf den Staat der Antragstellung (hier: Deutschland) übergeht / Rs. Mengesteab (GK)
Im vorliegenden Fall, der dem EuGH vom VG Minden zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, geht es um einen Eritreer, den die deutschen Behörden nach Ablauf der Dreimonatsfrist nach Italien zurückschicken wollten. Zur Erklärung der Fristabläufe führt das vorlegende Gericht aus, «das deutsche Recht unterscheide zwischen dem Nachsuchen um Asyl, das im Allgemeinen bei einer anderen Behörde als dem Bundesamt erfolge, und der Stellung eines förmlichen Asylantrags beim Bundesamt. Ein Drittstaatsangehöriger, der um Asyl nachsuche, werde an eine Aufnahmeeinrichtung weitergeleitet, wo er eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender erhalte. Diese Einrichtung müsse dann unverzüglich dem Bundesamt mitteilen, dass die betreffende Person um Asyl nachgesucht habe. Die zu dieser Mitteilung verpflichteten Behörden seien ihrer Pflicht jedoch insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 wegen des außergewöhnlichen Anstiegs der Zahl der in diesem Zeitraum nach Deutschland eingereisten Asylbewerber häufig nicht nachgekommen. In diesem Kontext hätten zahlreiche Asylbewerber mehrere Monate auf die Stellung ihrer förmlichen Asylanträge warten müssen, ohne dieses Verfahren beschleunigen zu können.»
Aus dem Urteil geht hervor, dass Asylbewerber nach Ablauf dieser Frist von dem Staat der Antragstellung (hier: Deutschland) nicht mehr an den Staat der ursprünglichen Einreise (hier: Italien) zurückgeschickt werden können, selbst wenn jener ersuchte Staat sich (wenn auch verspätet) zur Aufnahme bereit erklärt. (Seite 585)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, präzisiert Kriterien für das Vorliegen notwendiger Verteidigung und für die amtliche Bestellung eines unentgeltlichen Verteidigers
Das BGer bezieht sich bei der Auslegung von Art. 130 und 132 schweizerische StPO auch auf die Quaranta-Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK.
Im konkreten Fall weist das BGer die Beschwerde des Bf. ab: «Die Vorinstanz hat ausgeführt, der Anklagevorwurf beschränke sich auf zwei Sachverhalte, d.h. einerseits die Frage, ob der Beschwerdeführer am 16. Februar 2014 um ca. 20 Uhr mit seinem Fahrzeug einen genügenden Abstand zum vor ihm fahrenden Wagen eingehalten habe, und andererseits, ob er in der anschliessend stattgefundenen, mündlichen Auseinandersetzung ein (geschlossenes) Klappmesser behändigt und dem anderen Fahrzeuglenker entgegengehalten habe. Es handle sich somit weder um komplexe Sachverhalte noch seien komplizierte beweismässige Abklärungen notwendig gewesen; vielmehr hätten sich die Beweismittel auf die Aussagen des Beschwerdeführers, des Geschädigten und seiner Ehefrau sowie auf die beschlagnahmten Gegenstände (Klappmesser, Pistolenmagazin und 14 Pistolenpatronen) beschränkt. Diese Einschätzung der Vorinstanz, welche die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt, ist nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers gebietet der Umstand, dass Zusatzfragen der Verteidigung bei der Würdigung von Zeugenaussagen Bedeutung haben könnten, noch nicht die Bestellung eines amtlichen Rechtsbeistandes.» (Seite 593)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, billigt grundsätzlich die Abschiebung eines terrorismusverdächtigen „Gefährders“ (hier: nach Algerien) unter der Bedingung verbindlicher Zusagen algerischer Behörden zum Schutz vor Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
Die 1. Kammer des Zweiten Senats führt aus: «Auch der Vortrag des Beschwerdeführers, es verstoße gegen Grundrechte, dass (allein) aus der Ideologie des Betroffenen für diesen negative Schlüsse gezogen würden, geht fehl. Denn die von dem Beschwerdeführer ausgehende terroristische Gefahr ist nicht allein aus seiner ideologischen Überzeugung abgeleitet worden, sondern aus der Verknüpfung dieser Überzeugung mit der zu Tage getretenen Bereitschaft, die aus seiner extremen ideologischen Überzeugung abgeleiteten Ziele mit Mitteln der Gewalt durchzusetzen. Damit wird eine negative Rechtsfolge nicht ausschließlich an die ideologische Überzeugung des Beschwerdeführers geknüpft, sondern seine Überzeugung wird in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als ein Baustein eines besonderen Gefährdungspotentials bewertet. (…)
Weder hat das Bundesverwaltungsgericht nach dem oben Dargelegten allein aus der religiösen Überzeugung des Beschwerdeführers negative Schlüsse gezogen, noch ist ansonsten dargelegt oder erkennbar, inwieweit es bei der Feststellung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefährdung die Bedeutung von Grundrechten verkannt haben könnte. Die Bejahung einer in relevantem Umfang erhöhten Bereitschaft des Beschwerdeführers, seine religiös motivierten Ziele durch gewaltsame oder terroristische Methoden zu erreichen, ist auf der Grundlage der ausgewerteten umfangreichen Erkenntnismittel nicht zu beanstanden.»
Zu den Anforderungen an amtliche Zusicherungen zum Schutz vor Folter verweist das BVerfG auf den Katalog beispielhafter Gesichtspunkte in dem EGMR-Urteil Othmann ./. U.K. (HRLJ 2012, 85, Ziff 188,189) und stellt fest: «Vor diesem Hintergrund wäre es nicht ausreichend, wenn die im angegriffenen Beschluss geforderte Zusicherung nur den in deren Tenor genannten gänzlich allgemeinen Inhalt hätte. Vielmehr ist es von Verfassungs wegen erforderlich, dass die einzuholende Zusicherung mit spezifischen Garantien verbunden ist, die eine Überprüfung der (eventuellen) Haftbedingungen des Beschwerdeführers im Falle von dessen Inhaftierung und insbesondere den ungehinderten Zugang zu seinen Prozessbevollmächtigten erlaubt; dies muss sich auf eine Inhaftierung sowohl durch die Polizei als auch durch den Geheimdienst beziehen. Bevor auf der Grundlage einer solchen Zusicherung die Abschiebung erfolgt, ist dem Betroffenen außerdem Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls um Rechtsschutz nachzusuchen.» (Seite 597)

BVerfG verhängt Missbrauchsgebühr in maximaler Höhe von 2.600,– Euro gegen Anwalt wegen Täuschung des BVerfG über die angeblich unmittelbar bevorstehende Abschiebung nach Afghanistan seines in Wirklichkeit untergetauchten Mandanten
Der Anwalt hatte zwischen 15.20 und 18.45 Uhr per Fax einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (mit etwa 470 Seiten Anlagen) gestellt und behauptet, die Abschiebung seines Mandanten noch am selben Tag stehe unmittelbar bevor. Dabei wusste er bereits seit dem Morgen jenes Tages, dass sein Mandant untergetaucht ist und mehrere Versuche von Behördenmitarbeitern, ihn anzutreffen, gescheitert waren. (Seite 603)

Parlamentarische Versammlung des Europarates, Straßburg, wählt Lado Chanturia (54) zum neuen georgischen Richter am EGMR
Der künftige Richter ist gegenwärtig Botschafter seines Landes in Deutschland, war Justizminister, Präsident des Obersten Gerichtshofs und hat im Laufe seiner akademischen Laufbahn, zuletzt als Professor für Privatrecht und Rechtsvergleichung in Tiflis seit 1995, zahlreiche Kontakte zu deutschen Universitäten (Göttingen und Kiel) unterhalten, ist Ehrendoktor der Universität Kiel und Mitglied im Kuratorium des MPI für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg. (Seite 605)

Vorschlagsliste der türkischen Regierung für die Richterwahlen zum EGMR wegen Ungeeignetheit der drei Kandidaten von der Parlamentarischen Versammlung zurückgewiesen. Die türkische Regierung ist aufgefordert, eine neue Kandidatenliste vorzulegen. (Seite 606)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsuhe, legt dem EuGH ein detailliert begründetes Vorabentscheidungsersuchen zum Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Verstoß gegen Art. 123 AEUV) vor
Die vor dem Zweiten Senat anhängige Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors durch die EZB (PSPP-Programm). (Seite 606)

BVerfG lehnt Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Kopftuchverbot im juristischen Referendardienst ab
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Erlass des Hessischen Justizministeriums, mit dem das Kopftuchverbot nur für die Fälle angeordnet wird, dass die Referendarin als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen wird. Als Beispiele werden u.a. genannt: Sitzungsleitungen und/oder Beweisaufnahmen, Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft, während der Verwaltungsstation die Leitung von Anhörungsausschusssitzungen. (Seite 628)