EuGRZ 2000 |
6. März 2000
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27. Jg. Heft 1-4
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Informatorische Zusammenfassung
Dieter Grimm, Karlsruhe/Berlin, sieht Politikdistanz als Voraussetzung von Politikkontrolle und damit als wesentlich an für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts im Parteienstaat
«Erst die Existenz einer unabhängigen Kontrollinstanz zwingt die Politik dazu, ihre rechtlichen Bindungen schon im politischen Entscheidungsprozeß relativ ernst zu nehmen, und verhindert, daß sich im Konflikt über den Inhalt verfassungsrechtlicher Bindungen stets die Auffassung der Mehrheit durchsetzt. (…)
Das Bundesverfassungsgericht ist das einzige mir bekannte Gremium, das Entscheidungen von höchster politischer Tragweite fällt und doch keine Vorklärungen, keine Absprachen, keine Fraktionen kennt. Man kommt vielmehr bei den Sitzungen stets von neuem in eine offene Diskussionssituation, in der jeder ernst genommen werden muß, weil am Ende jeder gleiches Stimmgewicht hat, in der Tricks sich nicht auszahlen, weil man über eine lange Strecke in derselben kleinen Gruppe zusammenarbeiten muß, und in der man mit Argumenten etwas ausrichten kann, weil das Ergebnis am Ende argumentativ begründet werden muß. Damit soll nicht die Begrenztheit des Einsichtsvermögens oder der Diskussionsbereitschaft geleugnet, wohl aber gesagt werden, daß es um eine sachgeprägte Diskussion geht, und die Sache ist hier die rechtlich, nicht die politisch richtige Entscheidung. (…)
Diejenige Institution, die die Rechtsbindung der Politik durchsetzen soll, darf nicht die Politik in sich wiederholen, sondern muß gerade die systembedingten Defizite des zunehmend professionalisierten Politikbetriebes ausgleichen, indem sie die überparteilich gültigen Prinzipien der Verfassung hochhält. Kein noch so erwünschter Momentsvorteil wäre es wert, daß das Gericht davon abginge.» (Seite 1)
Theodor Schilling, Luxemburg/Berlin, gibt einen ausführlichen kommentierenden Überblick über Bestand und Bedeutung der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des europäischen Gemeinschaftsrechts
Hierzu gehören die EG-spezifischen Grundfreiheiten, die Grundrechte als Freiheits- und als Gleichheitsrechte, die Unionsbürgerschaft, die sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätze wie Rechtsweggarantie und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, Rechtssicherheit, Verbot der Doppelbestrafung, Vertrauensschutz, Rückwirkungsverbot, ordnungsgemäße (gute) Verwaltung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Autor erörtert Rechtsnatur, Rang und Funktion sowie Schranken der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze und schließt mit Hinweisen für den Rechtsanwender sowie mit Vorschlägen zur geplanten Charta der Grundrechte und für eine künftige Verfassung der EU:
«In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, in der Charta die gegenüber den sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen hervorgehobene Stellung der Grundrechte nochmals deutlich zu machen, damit eine Strukturierung der Einzelfallprüfung vorzugeben und die Stellung der Grundrechte im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Systems derjenigen subjektiver Rechte funktional anzunähern. (…)
In diesem Rahmen wäre es von Bedeutung, den nicht-wirtschaftlichen Einzelgrundrechten und von den wirtschaftlichen Grundrechten jedenfalls der Eigentumsgarantie durch umschriebene Tatbestände ein dogmatisch entwicklungsfähiges Eigenleben zu sichern. Das würde einen differenzierten Grundrechtsschutz erlauben, der bei bestimmten, durch einen eigenen Grundrechtstatbestand hervorgehobenen Schutzgütern weiter reichen könnte als bei der allgemeinen Handlungsfreiheit.» (Seite 3)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, hebt Verweigerung des Zugangs zu Kommissions-Dokumenten wegen unzureichender Begründung auf / Rs. Van der Wal
Der Kläger ist ein in den Niederlanden ansässiger auf Wettbewerbsrecht spezialisierter Anwalt. Die Kommission hatte es unter Berufung auf die Vertraulichkeit der Akten abgelehnt, ihm drei Kommissionsschreiben an einzelstaatliche Gerichte in Frankreich und in Deutschland betr. (Allein-)Vertriebsvereinbarungen und bestimmte Wettbewerbsregeln beim Vertrieb landwirtschaftlicher Produkte in Kopie zugänglich zu machen. Die Entscheidung war vom GeI u. a. wegen des aus Art. 6 EMRK hergeleiteten Grundsatzes der Verfahrensautonomie der nationalen Gerichte bestätigt worden.
Der EuGH kommt im Rechtsmittelverfahren zum gegenteiligen Ergebnis: «Im Zweifelsfall konsultiert [die Kommission] das einzelstaatliche Gericht und verweigert den Zugang nur dann, wenn dieses sich gegen die Bekanntgabe der fraglichen Dokumente ausspricht. Folglich hat die Kommission dadurch gegen den Beschluß 94/90 verstoßen, daß sie den Zugang zu den erbetenen Dokumenten verweigert hat, ohne zu prüfen, ob diese aufgrund von Angaben des einzelstaatlichen Gerichts erstellte juristische Untersuchungen oder Wirtschaftsanalysen enthielten, und ohne sich gegebenenfalls vergewissert zu haben, daß die Bekanntgabe dieser Dokumente nicht gegen das nationale Recht verstieß. Die streitige Entscheidung ist daher aufzuheben.» (Seite 44)
EuGH bestätigt gesetzlichen Verlust des Anspruchs auf Kündigungsabfindung (in Österreich: Abfertigung) bei Kündigung durch den Arbeitnehmer selbst / Rs. Graf
Zu den Grenzen der Arbeitnehmer-Freizügigkeit heißt es: «Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige ist eindeutig nicht geeignet, den Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, sein Arbeitsverhältnis zu beenden, um eine unselbständige Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auszuüben, denn der Abfertigungsanspruch hängt nicht von der Entscheidung des Arbeitnehmers ab, ob er bei seinem derzeitigen Arbeitgeber bleibt oder nicht, sondern von einem zukünftigen hypothetischen Ereignis, nämlich einer späteren Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die der Arbeitnehmer selbst weder herbeigeführt noch zu vertreten hat.» (Seite 48)
EuGH erklärt Ausweisung eines wegen Rauschgiftdelikten zu einer Bewährungsstrafe verurteilten türkischen Arbeitnehmers aus generalpräventiven Gründen für unzulässig / Rs. Nazli
«Zwar kann ein Mitgliedstaat die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen, doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung wie alle Ausnahmen von einem Grundprinzip des Vertrages eng auszulegen, so daß eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (…). Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, daß das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats entgegensteht, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt wird, d. h., die zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird. (…)
In Anbetracht der Grundsätze, die im Rahmen der Freizügigkeit der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Arbeitnehmer gelten und die entsprechend auf die türkischen Arbeitnehmer anzuwenden sind, denen die in dem Beschluß Nr. 1/80 anerkannten Rechte zustehen, ist folglich eine Regelausweisung, die aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung für eine bestimmte Straftat zum Zweck der Generalprävention verfügt wird, nicht mit Artikel 14 Absatz 1 dieses Beschlusses vereinbar.» (Seite 50)
EuGH beanstandet dänische Steuer-Diskriminierung, derzufolge die Absetzbarkeit von beruflichen Fortbildungsveranstaltungen an üblichen Urlaubsorten in anderen EU-Staaten erschwert ist / Rs. Vestergaard
Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Steuerberater und hatte an einer auf Kreta für dänische Steuerberater ausgerichteten Fortbildungsveranstaltung teilgenommen. Die Kosten hierfür wurden vom Finanzamt als Betriebsausgaben nicht anerkannt.
«Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) steht der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, wonach für die Bestimmung des zu versteuernden Einkommens vermutet wird, daß Fortbildungsveranstaltungen an üblichen Urlaubsorten in anderen Mitgliedstaaten in so erheblichem Umfang Urlaubszwecken dienen, daß die Ausgaben für die Teilnahme an diesen Veranstaltungen nicht als berufliche Aufwendungen abzugsfähig sind, während für Fortbildungsveranstaltungen an üblichen Urlaubsorten in dem betreffenden Mitgliedstaat eine solche Vermutung nicht gilt.» (Seite 55)
Court of Appeal, London, verneint Anspruch auf Walisisch als Gerichtssprache außerhalb von Wales bzw. in Rechtsmittelverfahren vor Gerichten in England
Der Chefkoch in einem Hotel-Restaurant in Wales wurde vom Eigentümer-Ehepaar entlassen, weil er sich prinzipiell weigerte, in der Küche Englisch zu sprechen. Das Arbeitsgericht sah darin – aufgrund einer auf Walisisch geführten Verhandlung – eine Rassendiskriminierung. Das Arbeitsberufungsgericht, das seinen Sitz in London hat, wies die Anträge zurück, entweder in Wales zu tagen oder in London auf Walisisch zu verhandeln. Die hiergegen auf Art. 6, 10 und 14 EMRK gestützte Beschwerde wurde vom Court of Appeal zurückgewiesen. (Seite 57)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt kantonales Verbot unlauteren oder täuschenden Anwerbens auf öffentlichem Grund und dessen Anwendung auch auf Religionsgemeinschaften / Scientology Kirche Basel
Das BGer gibt zunächst einen rechtsvergleichenden Überblick über einschlägige Rechtsprechung vom EGMR bis zu US-amerikanischen Gerichten und kommt dann zu folgendem Ergebnis:
«In der Öffentlichkeit darf jeder Mensch zumindest im Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der politischen Rechte auch unbeliebte Meinungen äussern. Die angesprochenen Personen haben aber das Recht, diese Meinungen abzulehnen oder gar nicht auf sie einzutreten. Sobald ein Passant oder eine Passantin dies kundtut – aber auch erst dann –, hat der Anwerbende auf weitere Anwerbebemühungen zu verzichten. Wird diese Grenze überschritten, dann stellt das Anwerben eine unzumutbare Belästigung dar. Aus der negativen Religionsfreiheit der Passanten ergibt sich, dass der Staat gegen ein solches übermässiges Missionieren einschreiten darf. (…)
Die angefochtene Norm kann im Hinblick auf die Beschwerdeführer und ihre Rügen verfassungsmässig ausgelegt werden und sie verunmöglicht nur besonders unerwünschte Formen des Anwerbens. Die Tatsache, dass gewisse Elemente der Bestimmung auch verfassungswidrig ausgelegt werden könnten und dass es insbesondere für die Polizei nicht leicht sein wird, den zweiten Satz in der Praxis anzuwenden und zu erkennen, wann ein Anwerben täuschend oder unlauter ist, kann nicht zur Gutheissung der Beschwerde führen. Falls bei der konkreten Anwendung des &Par; 23a ÜStG verfassungsmässige Rechte verletzt werden sollten, könnten sich die Beschwerdeführer wiederum mit Rechtsmitteln dagegen zur Wehr setzen.» (Seite 59)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt kategorische Verhinderung des Semmering-Basistunnels durch das niederösterreichische Naturschutzgesetz für verfassungswidrig
«Sind – wie in einer solchen Konstellation – für ein Projekt mehrere Genehmigungen nebeneinander erforderlich und diese überdies nach den Rechtsvorschriften verschiedener Kompetenzträger zu erteilen oder zu versagen, so bedeutet dies freilich – wie schon in der bisherigen Rechtsprechung desVerfassungsgerichtshofes klargestellt wurde – nicht, daß jeder Kompetenzträger in der Ausgestaltung seiner Gesetzgebungskompetenz auch in dem Sinne völlig frei wäre, in seiner Regelung einen bestimmten Regelungsaspekt absolut zu setzen und damit die Kompetenzen anderer Gebietskörperschaften auszuhöhlen oder zu unterlaufen. Der den Bundesstaat konstituierenden Bundesverfassung muß nämlich unterstellt werden, die Grundlage einer harmonisierenden Rechtsordnung zu sein, in der (allenfalls divergierende) Interessen von Bund und Ländern, auch soweit diese in Akten der Gesetzgebung ihren Niederschlag finden, aufeinander abgestimmt sind. Der rechtspolitische Gestaltungsspielraum des Landes- (ebenso wie jener des Bundes-)gesetzgebers ist deshalb insoweit eingeschränkt, als es ihm verwehrt ist, Regelungen zu treffen, die sich als sachlich nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung der Effektivität von Regelungen der gegenbeteiligten Rechtssetzungsautorität darstellen. Dies bedeutet auch, daß die zur Gesetzgebung berufenen Gebietskörperschaften die Interessen, die von der gegenbeteiligten Gebietskörperschaft wahrzunehmen sind, durch den Gesetzgebungsakt nicht unterlaufen dürfen. Es ist dem Gesetzgeber ebensowenig erlaubt, Regelungen zu treffen, die auf eine kompetenzwidrige Nachprüfung allenfalls bereits vorliegender Bewilligungsakte oder auf eine kompetenzwidrige Vorwegnahme der Versagung einer solchen Bewilligung hinausliefen. (…)
Die niederösterreichische Regelung erweist sich daher als geeignet, die Kompetenzausübung des Bundes völlig zu unterlaufen, und damit als verfassungswidrig.» (Seite 65)
VfGH bekräftigt Anspruch auf kontradiktorische Beweisaufnahme auch im anwaltlichen Disziplinarrecht
Der zuständige Disziplinarrat und die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte hatten es entgegen dem Antrag des später zu einer Geldbuße von ÖS 100.000 verurteilten Beschwerdeführers nicht für notwendig erachtet, eine bestimmte Belastungszeugin in der mündlichen Verhandlung anzuhören und dem Bf. Gelegenheit zu Fragen zu geben. Da die Zeugin an ihrem alten Wohnsitz nicht auffindbar und ihre neue Adresse nicht bekannt war, hatten sich die Disziplinarrichter damit begnügt, die belastende Aussage aus den Akten eines Zivilprozesses verlesen zu lassen.
Der VfGH hebt den Disziplinarbescheid auf, verpflichtet die Rechtsanwaltskammer für Tirol, dem Bf. die Verfahrenskosten zu ersetzen, und stellt fest: «Die Behörde hat daher, weil sie ohne zureichenden Grund keine weiteren Bemühungen zur Ausforschung der Zeugin gesetzt und die Zeugin nicht mehr persönlich einvernommen hat, gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens verstoßen und – damit einhergehend – die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers grob verletzt.» (Seite 69)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, begründet verstärkten Schutz gegenüber Foto-Veröffentlichungen spezifisch elterlicher Hinwendung zu Kindern / Caroline von Monaco
«Was der Privatsphärenschutz für den familiären Umgang zwischen Eltern und Kindern bedeutet, hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Es ist aber anerkannt, daß Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen, weil sie sich zu eigenverantwortlichen Personen erst entwickeln müssen. Dieses Schutzbedürfnis besteht auch hinsichtlich der Gefahren, die von dem Interesse der Medien und ihrer Nutzer an Abbildungen von Kindern ausgehen. Deren Persönlichkeitsentfaltung kann dadurch empfindlicher gestört werden als diejenige von Erwachsenen. Der Bereich, in dem Kinder sich frei von öffentlicher Beobachtung fühlen und entfalten dürfen, muß deswegen umfassender geschützt sein als derjenige erwachsener Personen.»
Dagegen läßt die Kommerzialisierung der eigenen Person den Schutz der Privatsphäre zurücktreten: «Der Schutz der Privatsphäre vor öffentlicher Kenntnisnahme entfällt ferner, wenn sich jemand selbst damit einverstanden zeigt, daß bestimmte, gewöhnlich als privat geltende Angelegenheiten öffentlich gemacht werden, etwa indem er Exklusivverträge über die Berichterstattung aus seiner Privatsphäre abschließt. Der verfassungsrechtliche Privatsphärenschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ist nicht im Interesse einer Kommerzialisierung der eigenen Person gewährleistet. Zwar ist niemand an einer solchen Öffnung privater Bereiche gehindert. Er kann sich dann aber nicht gleichzeitig auf den öffentlichkeitsabgewandten Privatsphärenschutz berufen.» (Seite 71)
BVerfG beanstandet Beschränkung steuerlicher Absetzbarkeit der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer auf DM 2.400 nicht
Der Bf. ist Gymnasiallehrer. Das BVerfG stellt fest: «Das Arbeitszimmer eines Lehrers bildet nicht den Mittelpunkt seiner gesamten beruflichen Betätigung; dieser ist die Schule. Andererseits verfügt ein Lehrer regelmäßig für einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit nicht über einen anderen Arbeitsplatz, so daß nach &Par; 4 Abs. 5 Nr. 6b Satz 2 letzte Alternative EStG die Abziehbarkeit auf DM 2.400 begrenzt ist. (…)
Das Entfallen der Höchstgrenze für Steuerpflichtige, bei denen das häusliche Arbeitszimmer den „Mittelpunkt der betrieblichen oder beruflichen Tätigkeit“ bildet, hat vor der Verfassung ebenfalls Bestand.» (Seite 81)
BVerfG unterstreicht die Aufklärungspflichten eines Rehabilitierungsgerichts bei Verurteilung wegen Fahnenflucht durch ein DDR-Militärgericht
«Hält sich ein Rehabilitierungsgericht an die Tatsachenfeststellungen des DDR-Gerichts für gebunden und legt es diese seiner Entscheidung ungeprüft zugrunde, so mißachtet es seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (&Par; 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG), und verfehlt schon im Ansatz das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, zur Rehabilitierung politisch Strafverfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der DDR-Gerichte zu durchbrechen. Nicht nur die Auslegung und Anwendung des Gesetzes, sondern auch die Feststellung der Tatsachen, welche die Gesetzesanwendung tragen, kann den Verurteilten in seinen Grundrechten verletzen. Der Richter, der im Verfahren der Rehabilitierung dazu aufgerufen ist, Urteile auf ihre Vereinbarkeit mit wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen hin zu überprüfen, darf seinen Prüfungsauftrag nicht dadurch verengen, daß er die Feststellungen dieses Urteils schlicht übernimmt, obwohl der Vortrag politischer Verfolgung Anlaß zur Prüfung gegeben hätte.» (Seite 86)
BVerfG erklärt Frischzellen-VO für teilweise nichtig, weil nicht kompetenzmäßig erlassen
«Der Bund ist nur befugt, die Herstellung solcher Arzneien gesetzlich oder im Verordnungswege zu regeln, die dazu bestimmt sind, in den Verkehr gebracht zu werden. Dazu gehören nicht Arzneimittel, die der Arzt selbst herstellt und beim Patienten anwendet. (…) Ob ein Verbot der Herstellung von Frischzellen zur unmittelbaren Anwendung beim Patienten durch den Arzt aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt ist, war hier nicht zu entscheiden.» (Seite 93)
BVerfG sieht in unterschiedlicher Umsatzsteuer-Befreiung von Heil- und Heilhilfsberufen allein nach der Existenz berufsrechtlicher Regelungen einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot / Heileurythmist
«Das Gebot der folgerichtigen Umsetzung der einmal getroffenen Belastungsentscheidung betrifft auch den Gesetzesvollzug und die Rechtsprechung, wenn für vergleichbare Sachverhalte und künftige Entwicklungen offene steuerliche Tatbestandsmerkmale durch Auslegung zu konkretisieren sind. (…)
Im Ergebnis ist deshalb kein sachlich rechtfertigender Grund ersichtlich, dem Beschwerdeführer die Steuerbefreiung des &Par; 4 Nr. 14 UStG zu versagen, wenn Leistungen eines Heileurythmisten in der Regel von den Sozialversicherungsträgern finanziert werden. Dies wird im erneuten fachgerichtlichen Verfahren zu prüfen sein.» (Seite 97)
BVerfG zu 15 Jahren Verfahrensdauer eines Nachbarschaftsstreits vor Hamburger Zivilgerichten
Die 2. Kammer des Ersten Senats stellt fest: «Der Rechtsstreit ist nicht in angemessener Zeit abgeschlossen worden. Seit dem das Verfahren einleitenden Antrag des Beschwerdeführers sind mehr als fünfzehn Jahre vergangen. Während dieser gesamten Zeit blieb der Beschwerdeführer Geräuschbeeinträchtigungen ausgesetzt, die er nach seiner Ansicht nicht zu dulden braucht und der Antragsgegner mußte mit der Rechtsunsicherheit über die in seiner Wohnung zulässigen Geräuschemissionen leben. Die Sache wirft keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten auf. Das Oberlandesgericht ist seit nahezu drei Jahren untätig geblieben. Das ist angesichts der gesamten Verfahrensdauer objektiv unangemessen. Die vom Gerichtspräsidenten angeführten Gründe für die Verzögerung ändern nichts an ihrer Unvereinbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip. Es verlangt eine funktionsfähige Rechtspflege. Dazu gehört auch eine angemessene Personalausstattung der Gerichte.» (Seite 100)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und Gericht erster Instanz (GeI) sehen die Zukunft des Gerichtssystems der EU durch eine dramatische Zunahme der Verfahren und ohne tiefgreifende Änderung der Strukturen bei einer erheblichen EU-Erweiterung gefährdet
«In einer erweiterten Europäischen Union mit weitreichenden Kompetenzen wird die Zahl der Klagen, Rechtsmittel und Vorabentscheidungsersuchen bisher unbekannte Ausmaße erreichen, die die Kapazitätsgrenzen der gegenwärtigen Gerichtsstruktur überschreiten werden.
Bei allen Überlegungen zur Zukunft des Gerichtssystems der Gemeinschaft müssen drei grundlegende Erfordernisse berücksichtigt werden:
– Die Einheit des Gemeinschaftsrechts muß durch ein oberstes Gericht sichergestellt werden.
– Es muß gewährleistet sein, daß das Gerichtssystem für den Rechtsuchenden transparent, verständlich und zugänglich ist.
– Es muß in einer für die Rechtsuchenden annehmbaren Frist Recht gesprochen werden.
Die nachstehend beschriebenen Maßnahmen sind an diesen Erfordernissen zu messen. Die folgenden Erwägungen sollen Überlegungen anstoßen, ohne jedoch Reformvorschläge im eigentlichen Sinne darzustellen. (Seite 101)
Zusätzlich zum Reflexionspapier veröffentlicht die EuGRZ auch die Vorschläge zur Erhöhung der Zahl der Richter am GeI von 15 auf 21 und einen Bericht über die unzureichende Ausstattung des Übersetzungsdiensts. (Seiten 110, 113)
Europarat, Straßburg, verlangt von Rußland weitere Rechenschaft über Tschetschenien
Die russische Regierung hat in einem ersten Schreiben der Aufforderung des Generalsekretärs des Europarates, Walter Schwimmer, zur Gewährleistung der Menschenrechte in Tschetschenien Stellung zu nehmen (EuGRZ 1999, 716) formal Folge geleistet hat. Der Generalsekretär hält den Inhalt des Schreibens jedoch für nicht ausreichend und hat deshalb in Ausübung seiner Kompetenz aus Art. 52 EMRK weitere Rechenschaft gefordert. (Seite 118)
BVerfG gibt Übersicht über die Verfahren, in denen es im Jahr 2000 zu entscheiden beabsichtigt (Seite 118)