EuGRZ 2017
31. August 2017
44. Jg. Heft 11-16

Informatorische Zusammenfassung

Rainer Hofmann und Adela Schmidt, Frankfurt am Main, hinterfragen die Beschlüsse des EuG, die Erklärung EU-Türkei vom 18. März 2016 („EU-Türkei-Deal“) nicht als Rechtsakt der Union gelten zu lassen
«Bisher wurde die Erklärung EU-Türkei von Medien, aber etwa auch von der Kommission, als „Flüchtlingsabkommen der EU“, „EU-Türkei-Deal“ oder auch „EU-Türkei-Abkommen“ bezeichnet. Dass es sich laut EuG nicht einmal um einen Akt der EU handeln soll, überrascht nicht nur mit Blick auf den Wortlaut und Inhalt der Erklärung, sondern insbesondere auf die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten im Bereich internationaler Übereinkünfte. Im Ergebnis werfen die Beschlüsse Fragen des Außenverfassungsrechts der EU auf, die zu benennen das EuG offenbar nicht riskierte. (...)
Umso bedauerlicher ist es, dass das Europäische Parlament seinerzeit nicht gegen die Erklärung EU-Türkei gerichtlich vorgegangen ist. Zwar hätte ein solches Vorgehen ausschließlich wegen dessen unterbliebener Beteiligung Aussicht auf Erfolg, wäre aber angesichts der zwar rechtlich kaum fassbaren, aber eindeutigen politischen Verbindung zwischen der Erklärung EU-Türkei und der Behandlung der Türkei als für Flüchtlinge sicherer Drittstaat ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU gewesen – auch weil es dieser Vermischung von Recht und Politik zwangsläufig Einhalt geboten hätte.
Das Ergebnis des EuG, dass die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten Urheber der Erklärung seien, und die damit verbundene Klageabweisung vermögen demgegenüber weder dogmatisch noch argumentativ zu überzeugen. Die Feststellung der Urheberschaft der Mitgliedstaaten steht im Widerspruch zum Wortlaut und zumindest überwiegend zu den Begleitumständen, ohne dass sich dieser Widerspruch auflösen ließe. Schlimmer noch, hat das EuG nicht den Versuch unternommen, die aufgezeigten Widersprüche aufzulösen, sondern diese schlichtweg ignoriert. Dies gilt auch und insbesondere für den Inhalt der Erklärung EU-Türkei. Dessen Untersuchung zeigt, dass es sich um kompetenzwidriges Handeln der Mitgliedstaaten handeln würde, wenn sie eigenständig mit der Türkei die Erklärung EU-Türkei vom 18. März 2016 verabschiedet hätten. So ist das EuG beim Versuch gescheitert, der Erklärung EU-Türkei durch Umdeutung zu Legalität und Legitimität zu verhelfen, denn diese Umdeutung ist – von der aufgezeigten Widersprüchlichkeit abgesehen – mit dem Unionsrecht nicht zu vereinbaren.» (Seite 317)

Dietrich Murswiek, Freiburg, i. Br., behandelt die „Ultra-vires-Kontrolle im Kontext der Integrationskontrolle“
Die Ausgangsfrage lautet, ob das OMT-Urteil [EuGRZ 2016, 440] als „De-facto-Abschaffung der Ultra-vires-Kontrolle“ anzusehen ist. «Denn wenn das Bundesverfassungsgericht für die Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle Voraussetzungen formuliert, die praktisch nie erfüllt werden können, dann ist die Ultra-vires-Kontrolle tot. Ich will jetzt aber nicht Trauer tragen und etwas Verlorenem hinterherweinen, sondern einen Wiederbelebungsversuch unternehmen. Vielleicht ist der Patient ja nur scheintot, und vielleicht lässt das Bundesverfassungsgericht sich überzeugen, dass es nicht weiterhin so zaghaft vor dem EuGH zurückweichen darf wie im OMT-Urteil, wenn es sich nicht in Widerspruch setzen will zu seiner eigenen ständigen Rechtsprechung und letztlich zu den von ihm selbst formulierten Prinzipien demokratischer Legitimation. Warum das so ist, möchte ich im folgenden skizzieren. Dazu muss ich die Ultra-vires-Kontrolle in den Gesamtkontext der Integrationskontrolle stellen.»
Weiter gibt Murswiek zu bedenken: «Eine gewisse Rücknahme der Kontrolldichte bei der Ultra-vires-Kontrolle – und damit eine Divergenz von Maßstabs- und Kontrollnorm – lässt sich, wie oben gezeigt, rechtfertigen. Indem das Bundesverfassungsgericht aber den materiellen Maßstab seiner eingeschränkten Prüfungskompetenz anpasst, wirft es sozusagen den Kompass über Bord. Damit verliert es die Orientierung für seine „zurückhaltende“ Kontrolle, die es mit einschränkenden Kriterien überhäuft, die im Grunde nur das Offensichtlichkeitskriterium variieren, ohne es wirklich präzisieren zu können. Den Zweck der Ultra-vires-Kontrolle verliert es aus den Augen, und was übrigbleibt, ist die Alternative zwischen der Unmöglichkeit der Ultra-vires-Kontrolle (weil es „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitungen des EuGH nie geben wird) und einer willkürlichen Handhabung dieses Kontrollinstruments (falls das Bundesverfassungsgericht nach Gutdünken die „Offensichtlichkeit“ in ihm opportun erscheinenden Fällen doch bejahen sollte, obwohl die Sache nicht ohne weiteres völlig klar und eindeutig zu beurteilen ist). Beides dient weder der Demokratie noch dem Rechtsstaat. (...)
Nur, wenn der EuGH damit rechnen muss, dass nationale Verfassungsgerichte mit der Ultra-vires-Kontrolle Ernst machen, wird er seinerseits zurückhaltender agieren und Ultra-vires-Akte zu vermeiden suchen. Es ist naheliegend, dass die übergroße Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts das Konfliktpotential vergrößert, statt es – wie beabsichtigt – auszuräumen. Sie ermuntert den EuGH, weiterhin Ultra-vires-Akte knapp unterhalb der Schwelle der offensichtlichen methodischen Unhaltbarkeit zu produzieren, statt eindeutig im Rahmen der Kompetenzen zu bleiben, die sich aus den Verträgen ergeben. Sie ist daher alles andere als „europarechtsfreundlich“.» (Seite 327)

Gerichtshof der Europäischen Union (Plenum, EuGH), Luxemburg, benennt für das Freihandelsabkommen mit Singapur eine zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit bei Teilen des Investitionsschutzes und bei Investor-Staat-Streitigkeiten / Gutachten 2/15
Das von der EU-Kommission beantragte Gutachten bezieht sich allein auf die Kompetenzen für den Abschluss des Freihandelsabkommens, nicht auf die Frage, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist: «Daher ist – anders als in den in Rn. 298 des vorliegenden Gutachtens angeführten Gutachtenverfahren – nicht zu prüfen, ob die in Kapitel 15 des geplanten Abkommens vorgesehene Streitbeilegungsregelung die in den übrigen Gutachten aufgestellten Kriterien, wie z.B. das Kriterium der Wahrung der Autonomie des Unionsrechts, erfüllt.» (Seite 338)
Die Wahrung der Autonomie des Unionsrechts spielte z.B. im EMRK-Beitritts-Gutachten eine entscheidende Rolle. Cf. Christian Tomuschat, Der Streit um die Auslegungshoheit: Die Autonomie der EU als Heiliger Gral – Das EuGH-Gutachten gegen den Beitritt der EU zur EMRK, EuGRZ 2015, 133.

EuGH zur Identitätskontrolle auf dem Vorplatz eines Grenzbahnhofs (hier: an der deutsch-französischen Grenze in Kehl am Rhein) nach dem Schengener Grenzkodex / Rs. A
Die Vorlage des Amtsgerichts Kehl ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen einen aus Frankreich über die Rheinbrücke kommenden deutschen Staatsangehörigen, dem ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelrecht und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zur Last gelegt wird.
Der EuGH befindet, es sei Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Rahmen der innerstaatlichen gesetzlichen Kontrollbefugnis gewährleistet, dass deren Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. (Seite 360)

EuGH qualifiziert den wiederholt geleisteten Widerstand der gesuchten Person gegen den Vollzug eines Europäischen Haftbefehls nicht als „höhere Gewalt“ / Rs. Vilkas
Es bestehe durchaus die Möglichkeit, mehrmals ein neues Übergabedatum zu vereinbaren. Der EuGH weist des Weiteren darauf hin, dass die Übergabe nicht unbedingt mittels eines Fluges erfolgen müsse, sondern auch über den See- und Landweg erfolgen könne. Der EuGH stellt fest: « ..., dass die betreffenden Behörden über Mittel verfügen, die es ihnen in den meisten Fällen ermöglichen, den Widerstand einer gesuchten Person zu überwinden» und «unter den im nationalen Recht vorgesehenen Bedingungen und unter Wahrung der Grundrechte dieser Person bestimmte Zwangsmaßnahmen» anzuwenden. (Seite 367)

EuGH (Große Kammer) billigt beim Kriterium der (auch nur potenziellen) Bedrohung der öffentliche Sicherheit für die Ablehnung eines Visums zu Studienzwecken den nationalen Behörden einen weiten Beurteilungsspielraum zu / Rs. Fahimian
«Es ist Sache des mit einer Klage gegen diese Entscheidung befassten nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die Entscheidung der zuständigen nationalen Behörden, das beantragte Visum nicht zu erteilen, auf einer ausreichenden Begründung und einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht.»
Im vorliegenden Fall geht es um die Absolventin einer iranischen Universität, die nach Erkenntnissen der EU über enge organisatorische und strategische Kontakte zu iranischen Revolutionsgarden, der Luftwaffe und anderen militärisch relevanten Bereichen verfügt. Die deutschen Behörden haben ein Visum zum Studium an der Technischen Universität Darmstadt (mit einem Promotionsstipendium der Universität) zum Thema Sicherheit mobiler Systeme, Angriffserkennung auf Smartphones abgelehnt, weil die in Deutschland erworbenen Kenntnisse im Iran für Cyberattacken oder für die Überwachung der Bevölkerung missbraucht werden könnten. (Seite 372)

EuGH (GK) zum Aufenthaltsrecht minderjähriger Kinder mit Unionsbürgerschaft bei drittstaatsangehörigen Müttern und mit EU-staatsangehörigen sorgeunwilligen Vätern / Rs. Chavez-Vilchez u.a.
Der Aufenthaltsstatus ist (hier: in den Niederlanden) ein Kriterium für die Gewährung von Sozialhilfe und Kindergeld. Die Klägerinnen der acht Ausgangsverfahren kommen aus Venezuela, Surinam, aus einem Land des ehemaligen Jugoslawiens, Nicaragua, Ruanda und Kamerun.
Nach dem Urteil ist die Entscheidung der nationalen Behörden in erster Linie am Kindeswohl zu orientieren. Sie haben die Pflicht, auf der Grundlage der von den Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen zu ermitteln, welche Folgen im individuellen Einzelfall die Versagung des Aufenthaltsrechts hätte, die das Kind zwingen könnten, das Unionsgebiet zu verlassen. (Seite 377)

Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, erklärt Ablehnung der Registrierung der Europäischen Bürgerinitiative „Stop TTIB“ für nichtig / Rs. Efler u.a.
«Das Argument der Kommission, dass die Rechtsakte, die sie gemäß der geplanten Bürgerinitiative dem Rat unterbreiten soll, zu einer nicht hinnehmbaren Einmischung in den Ablauf eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens führen würden, greift (...) nicht durch.» (Seite 385)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Gebührenerhebung zur Deckung von Einsatzkosten der Polizei bei gewalttätigen Demonstrationen als grundsätzlich verfassungskonform / Polizei-Gesetz des Kantons Luzern
Nach den hier maßgeblichen Änderungen der §§ 32 ff. Polizeigesetz des Kantons Luzern werden die außerordentlichen Aufwendungen, die bei einem Polizeieinsatz bei einer Kundgebung durch Gewaltausübung entstehen, dem Veranstalter, der Bewilligungsauflagen vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht eingehalten hat, bis zu 40 % (maximal 30.000 Franken) der Mehrkosten ab dem Zeitpunkt der Gewaltausübung in Rechnung gestellt und den an der Gewaltausübung beteiligten Personen bis zu 60 % (maximal 30.000 Franken pro Person).
In den Erwägungen wird argumentiert: «Entscheidend ist insoweit (auch) die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit (...). Die Kostenforderungen müssen mithin moderat ausgestaltet sein, so dass die effektive Grundrechtsausübung tatsächlich möglich bleibt. (...)
Der Veranstalter kann (...) das Risiko auf Kostenersatz durch eigenes Verhalten ausschliessen, da er einzig bei einem zumindest grobfahrlässigen Verstoss gegen Bewilligungsauflagen kostenpflichtig wird. Damit kann nicht gesagt werden, dass von § 32b Abs. 3 PolG/LU ein unverhältnismässiger „chilling effect“ ausgeht, welcher Organisatoren von Kundgebungen als Grundrechtsträger von der Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit abschreckt. Da es die Veranstalter mithin selbst in der Hand haben, eine Kostenpflicht zu verhindern, ist die Höhe der drohenden Gebühr von bis zu Fr. 30’000.– bei der Beurteilung des Abschreckungseffekts nicht von entscheidender Bedeutung.»
Dagegen wird § 32b Abs. 4 PolG/LU vom BGer aufgehoben, weil der Anteil, der von den an der Gewaltausübung beteiligten Personen zu tragen ist, pauschal zu gleichen Teilen auf die einzelnen Personen aufgeteilt wird. Hierzu lauten die Erwägungen: «Für die Rechtfertigung der finanziellen Belastung eines Einzelnen müssen die Kosten daher grundsätzlich individuell zugerechnet werden können. Es soll nur derjenige belastet werden, der die Verwaltungstätigkeit auch tatsächlich verursacht hat. (...)
Einem passiven Kundgebungsteilnehmer, der sich trotz polizeilicher Aufforderung nicht entfernt, kann nicht ein Verwaltungsaufwand in pauschaler Weise bis zu einer Höhe von Fr. 30’000.– individuell zugerechnet werden.» (Seite 390)

BGer beanstandet den Ausschluss der akkreditierten Presse von einer Berufungsverhandlung und Urteilsverkündung in einem Strafprozess als Verletzung der Grundsätze der Justizöffentlichkeit
Angeklagt war und verurteilt wurde eine Frau, die mit Hilfe ihres Liebhabers ihren Ehemann zu töten versucht hatte. Den Ausschluss der Presse beantragt hatten der Ehemann und die beiden Kinder der Eheleute als Privatkläger.
Das BGer führt u.a. aus: «Die Möglichkeit der Justizkontrolle durch die Öffentlichkeit und die dabei von den Medien wahrgenommene Wächterrolle begründen wesentliche schutzwürdige Interessen. Sie tragen zur sorgfältigen und rechtmässigen Rechtsfindung durch die Justizangehörigen bei und gewährleisten ein faires Verfahren. Sie ermöglichen zudem einer interessierten Öffentlichkeit, am Verfahren teilzuhaben und mitzuverfolgen, wie das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeübt wird.» (Seite 398)

Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, hält den, einer Gentrifizierung entgegenwirkenden, Ausschluss eines Lagezuschlags für Mietwohnungen in Gründerzeitvierteln ebenso für verfassungskonform wie einen pauschalen Abschlag für befristete Mietverhältnisse
«Der Verfassungsgerichtshof geht zunächst im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass der Gesetzgeber bei der Gestaltung des Mietrechts über einen erheblichen Gestaltungsspielraum verfügt. (...) Bei der Regelung des Mietrechts, insbesondere bei der Regelung des Mietzinses, muss der Gesetzgeber teils widerstreitende wohnungs-, sozial- und stadtentwicklungspolitische Interessen zum Ausgleich bringen. Dabei kommt dem Ziel, Wohnen in zentrumsnaher städtischer Lage zu Preisen zu ermöglichen, die es auch Personen mit mittlerem und niedrigem Einkommen erlauben, ihren Wohnbedarf in dieser Lage angemessen zu decken, besonderes Gewicht zu. Dieses besteht sowohl im Anliegen des Mieterschutzes als auch in den Auswirkungen, die mietzinsbegrenzende Vorschriften auf dem Wohnungsmarkt insgesamt entfalten. (...)
Die angefochtene Regelung des § 2 Abs. 3 zweiter Halbsatz RichtWG bedingt, dass ein Lagezuschlag in „Gründerzeitvierteln“ grundsätzlich nicht in Ansatz gebracht werden kann, nämlich bei einer Lage (Wohnumgebung) mit einem überwiegenden Gebäudebestand, der in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet wurde und im Zeitpunkt der Errichtung überwiegend kleine, mangelhaft ausgestattete Wohnungen (der Kategorie D) aufgewiesen hat. Damit sind zunächst all jene Gebiete mit einem in der Gründerzeit errichteten Gebäudebestand nicht erfasst, der seinerzeit überwiegend große und besser ausgestattete Wohnungen aufgewiesen hat.» (Seite 403)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG),Karlsruhe, wertet Tarifeinheitsgesetz weitgehend als verfassungskonform, beanstandet jedoch das Fehlen eines hinreichenden Interessenschutzes von Minderheitsgewerkschaftlern, deren Tarifvertrag bei Tarifkollisionen verdrängt wird
Die Leitsätze des Ersten Senats beginnen mit einer Klarstellung: «Das Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.»
Ein verfassungswidriger Mangel, dem der Gesetzgeber bis 31. Dezember 2018 abhelfen muss, liegt in einem unzureichenden Schutz der Interessen von Minderheitsgewerkschaftlern.
Im Urteil heißt es hierzu:
«Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die kleinere Berufsgruppen in einem Betrieb davor schützen, der Anwendung eines Tarifvertrags ausgesetzt zu werden, der unter Bedingungen ausgehandelt wurde, in denen ihre Interessen strukturell nicht zur Geltung kommen konnten.» (Seite 415)
Richter Paulus und Richterin Baer haben dem Urteil eine abweichende Meinung beigegeben. (Seite 437)

BVerfG untersagt die Rückführung nach Griechenland eines dort als schutzberechtigt anerkannten syrischen Flüchtlings ohne Aufklärung der dortigen humanitären Verhältnisse
Die verwaltungsgerichtliche Klageabweisung ist wegen mangelnder Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Betroffenen und wegen des Fehlens eigener Sachverhaltsaufklärung verfassungswidrig. (Seite 441)

BVerfG beanstandet den Eintrag eines in einem spanischen Schnellverfahren ergangenen Strafurteils in das deutsche Strafregister
Der Bf. war nach einem internationalen Fußballspiel am 15. Dezember 2010 bei Zusammenstößen von Dortmunder Fans und der spanischen Polizei mit 14 weiteren Beschuldigten festgenommen und am nächsten Tag mit diesen gemeinsam abgeurteilt worden. Das Kammergericht hatte den vom Bf. behaupteten Verstoß gegen verfahrensrechtliche Mindeststandards nicht aufgeklärt. (Seite 444)
BVerfG wertet zivilgerichtliches Unterlassungsurteil als Verletzung der Meinungsfreiheit der Tageszeitung „taz“. Hier: im Zusammenhang mit einem Artikel über Anzeigenfinanzierung für ein Buch über den damaligen (2007) Ministerpräsidenten von Niedersachsen (und späteren Bundespräsidenten) Christian Wulff. (Seite 449)

BVerfG zu den Grundsätzen der Meinungsfreiheit bei Beschimpfungen zwischen blockierenden Gegendemonstranten und rechtsgerichteten Demonstranten
Es ging um folgende Wortwahl: Ein BT-Abgeordneter der GRÜNEN, der sich aktiv an der Gegendemonstration beteiligte über die anderen: „Braune Truppe“, „rechtsextreme Idioten“. Der Versammlungsleiter der rechtsgerichteten Demonstration über den BT-Abgeordneten: „Obergauleiter der SA-Horden“, „Kinder von Adolf Hitler“. Der Abgeordnete stellte Strafantrag, der Versammlungsleiter wurde wegen Beleidigung verurteilt. Das BVerfG sieht eine Verletzung von dessen Meinungsfreiheit und weist auf das Vorverhalten des BT-Abgeordneten hin. (Seite 451)

BVerfG verwirft Ablehnungsantrag gegen sämtliche Richter des Ersten Senats wegen gänzlich ungeeigneter Ausführungen zur Behauptung der Befangenheit und nimmt die Vb. in der Sache (Beitragserhebung auf Kapitalleistungen zur betrieblichen Altersversorgung) nicht zur Entscheidung an. Der Bf. muss mit einer Missbrauchsgebühr rechnen, «wenn er zukünftig erneut eine Verfassungsbeschwerdeschrift vorlegen sollte, die beleidigenden oder verletzenden Charakter aufweist und jegliche Sachlichkeit vermissen lässt». (Seite 454)

BVerfG gibt in einem Organstreitverfahren wegen unvollständiger Auskünfte des Bundeskanzleramtes über nachrichtendienstliche Erkenntnisse zu dem Attentat auf dem Münchner Oktoberfest 1980 den Anträgen der BT-Fraktionen der GRÜNEN und der LINKEN statt. (Seite 455)
BVerfG verwirft Vb. gegen Versagung der Einsicht in amtliche in Privatbesitz befindliche Akten durch das Bundesarchiv als unzulässig wegen Nichterschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs. Es geht um die Nachlässe von H.J. Abs und H. Globke. (Seite 475)

Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Leipzig, zu Grenzfällen der Sterbehilfe bei „extremer Notlage“
«Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln.
Im Hinblick auf dieses Grundrecht ist § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG dahin auszulegen, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels für eine Selbsttötung mit dem Zweck des Gesetzes ausnahmsweise vereinbar ist, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet.
Eine extreme Notlage ist gegeben, wenn – erstens – die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können, – zweitens – der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen und ihm – drittens – eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung steht.»
Das BVerwG gelangt zu folgendem Ergebnis: «Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass der Bescheid des BfArM rechtswidrig gewesen ist. (...) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung, dass das BfArM zur Erlaubniserteilung verpflichtet gewesen ist.» (Seite 480)

Der EGMR hatte 2012 entschieden (Ulrich Koch ./. D., EuGRZ 2012, 616), dass der Bf., dessen Ehefrau 2005 mit Hilfe von Dignitas in der Schweiz Suizid begangen hatte, durch die Weigerung der nationalen Gerichte, die Begründetheit seiner Klage zu prüfen, in seinem Recht auf Privatleben verletzt worden ist.
Europarat – Ministerkomitee, Parlamentarische Versammlung und EGMR, Straßburg: Die detaillierte Dokumentation beschäftigt sich mit der zögerlichen Eröffnung eines zweifelhaften innerstaatlichen Rechtswegs in der Türkei gegen massenhafte Entfernungen aus dem öffentlichen Dienst, dem Monitoring-Beschluss der Parlamentarischen Versammlung zur Türkei, schweren Eingriffen in die Pressefreiheit dort und dem Missbrauch von Interpol zu politischen Zwecken durch die türkische Regierung; außerdem mit dem Evaluierungsausschuss für Richterkandidaten zum EGMR, verspäteten Kandidaten-Listen der Regierungen von Albanien, Georgien, Montenegro, Spanien und der Türkei und einem neuen Vize-Präsidenten des EGMR. (Seite 487)
EGMR stellt Menschenrechtsbeschwerde des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel mit Fragenkatalog an die türkische und die deutsche Regierung zu. (Seite 493)

BVerfG erlässt Einstweilige Anordnung gegen zwangsmittelbewehrte zivilgerichtliche Verpflichtung zum Abdruck eines „Nachtrags“ im „Spiegel“. Kläger des Ausgangsverfahrens ist ein ehemaliger Chefjustiziar der HSH Nordbank. (Seite 494)